Als Sexualberaterin werde ich von Menschen kontaktiert, die einen Leidensdruck bezüglich ihres Sexual- oder Beziehungslebens verspüren. Mich interessiert nicht nur, wie ich Menschen helfen kann, sondern auch, wie es dazu kommt, dass «sexuelle Funktionsstörungen» entstehen und wie diese «Störungen» und der damit verbundene Leidensdruck mit gesellschaftlichen Normen und Realitäten zusammenhängen.
Die meisten von uns kennen Situationen, in denen sexuell etwas nicht so klappt, wie wir es uns vorstellen. Sei es weil der Penis streikt, die Ejakulation früher kommt als gewünscht oder weil die Vagina trotz Lust einfach nicht feucht werden will. Unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung – das sind Dinge, die im Alltag passieren und die die wenigsten von uns ernsthaft beunruhigen. Anders sieht die Sache aus, wenn wir über einen längeren Zeitraum hinweg mit einem oder mehreren spezifischen Problemen zu kämpfen haben, wenn wir uns schämen, wenn wir Schmerzen haben, wenn unser Sexualleben stark eingeschränkt ist.
In der Welt der Sexualmedizin, -therapie und -beratung wird dann von einer «sexuellen Funktionsstörung» gesprochen, wenn ein Mensch unter einer spezifischen Funktionsbeeinträchtigung leidet und/oder diese zu Beziehungsproblemen führt. Wo kein Leidensdruck herrscht, wird weder pathologisiert noch behandelt (zumindest in der Theorie).
Das andere große Themenfeld sind sogenannte «sexuelle Präferenzstörungen». Diese reichen von Fetischismus über Exhibitionismus bis hin zu Pädophilie. Auch hier gilt (wieder zumindest in der Theorie): Nur wenn mensch unter einer Präferenz leidet oder anderen Menschen Schaden zufügt (oder darüber nachdenkt dies zu tun) ist eine derartige Einstufung angemessen.
Die Klient*innen von Sexualberater*innen und -therapeut*innen kommen also mit den unterschiedlichsten Anliegen. Die Grenzen zwischen Beratung und Therapie sind fließend. Therapie bedeutet jedoch Heilung und schließt deswegen in den meisten Fällen eine Diagnose ein. Beratung ist hingegen sehr viel niedrigschwelliger, hier wird niemand «geheilt», sondern eben «nur» beraten. Die Begriffe sagen jedoch nicht unbedingt etwas über die Ausbildung der jeweiligen Person aus. Denn weder der Begriff «Berater*in» noch der Begriff «Therapeut*in» ist geschützt. Eine berufliche Qualifikation ist, meiner Meinung nach, in diesem Feld jedoch unerlässlich. Denn besonders wenn sich Klient*innen in psychisch-emotionalen Notlagen befinden, tragen Berater*innen und Therapeut*innen eine sehr große Verantwortung und sollten deshalb keinesfalls die eigene Kompetenz überschätzen – das kann im Ernstfall lebensgefährlich werden. Sexualberater*innen müssen in der Lage sein, einschätzen zu können, ob ein*e Klient*in zum Beispiel an eine*n Psycho- oder Traumatherapeut*in weiterverwiesen werden sollte.
Zugänglichkeit
Sexualberatung und -therapie haben schon vielen Menschen geholfen, daran besteht kein Zweifel. Aber wem sind die Angebote überhaupt zugänglich? Sind es auch hier wieder nur Menschen, die über viel soziales, kulturelles und ökonomisches Kapitel verfügen, die die Möglichkeit haben, diese Form der Hilfe wahrzunehmen?
In Deutschlands Großstädten ist das Sexualberatungsangebot vielfältig: von tantrischer Sexualtherapie über sexocorporelle Körpertherapie bis zu systemischer Beratung wird alles angeboten. Was sich hinter solchen Begriffen verbirgt, erklären jedoch nur die wenigsten Anbieter*innen auf ihren Homepages. Hier reglementiert klar die Sprache den Zugang. Doch immerhin gibt es im urbanen Raum überhaupt Stellen an die mensch sich wenden kann. In kleineren Städten oder gar auf dem Land gibt es meist gar keine Institutionen oder selbstständige Berater*innen, die auf Sexualität spezialisiert sind.
Vielen Menschen wird der Zugang zu Sexualtherapie und -beratung aber vor allem durch finanzielle Hürden erschwert oder verwehrt. Kostenlos kann mensch sich eigentlich nur online beraten lassen, etwa bei der Telefonseelsorge oder der Caritas. Wer sich face-to-face beraten lassen möchte, zahlt bei Institutionen wie pro familia ca. 20-35€ pro Sitzung. Selbstständige Sexualberater*innen oder -therapeut*innen berechnen meist mindestens 70€. Diese Kosten sind zwar berechtigt und notwendig, um von der Beratungstätigkeit leben zu können, dennoch wäre es möglich einkommensabhängige Preise anzubieten. Dies tun allerdings nur wenige.
Die Beratenden
Im Gegensatz zur Psychotherapie ist der Background von Sexualberater*innen immerhin diverser. Auf Grund der hohen Hürden, die genommen werden müssen, um in Deutschland Psychotherapeut*in zu werden (schwerer Zugang zum Studium, lange Studiendauer und mehrjährige, teure Ausbildung), kommen die meisten Psychotherapeut*innen aus sehr privilegierten Verhältnissen. Weiterbildungen zur*m Sexualberater*in sind sehr viel einfacher zugänglich: ein Studienabschluss ist nicht erforderlich, im sozialen Bereich werden die Kosten oftmals von den Arbeitgeber*innen übernommen und die Dauer der Aus- oder Weiterbildungen ist überschaubar.
Dennoch ist die Durchschnittssexualberaterin – wie ich selbst auch – weiß, weiblich, cis und hat eine Ausbildung oder einen Universitätsabschluss im sozialen Bereich. Männer sind hier in der Minderheit. Wie immer finden sich jedoch in den besser bezahlten und anerkannteren Stellen, nämlich in der Sexualmedizin und an den Universitäten, mehr Männer als Frauen. Wobei angemerkt werden muss, dass im deutschsprachigen Raum fast alle sexualwissenschaftlichen Fakultäten «wegrationalisiert» worden sind. Ebenso stammt der Großteil der gängigen Fachliteratur von Männern.
Berater*innen und Therapeut*innen können natürlich nicht alles selbst erlebt haben und müssen dies auch nicht, um empathisch zu sein. Trotzdem wäre es schön, wenn es mehr Listen gäbe wie beispielsweise die Therapeut*innenliste des Lesben- und Schwulenverbands, die es Hilfesuchenden leichter ermöglichen, Hilfe bei Menschen zu finden, die versprechen vorurteilsfrei mit ihnen umzugehen. Außerdem ist es auch schön, als Klient*in die eigenen Begrifflichkeiten verwenden zu können, ohne alles erklären zu müssen, egal ob es nun um die eigene Sexualität, das Geschlecht, die Behinderung, die Hautfarbe oder die Lebensverhältnisse geht.
Alles nur Selbstoptimierung?
Wir wissen und spüren nur zu gut, dass wir in einer Gesellschaft leben in der eines extrem wichtig ist: Wir müssen funktionieren – geistig wie körperlich. Vor allem, um fit für den Arbeitsmarkt zu sein, aber nicht nur. Der vorherrschende Neoliberalismus macht auch vor unseren Schlafzimmern nicht Halt.
Alles muss besser, größer, intensiver sein und vor allem muss alles immer genauso funktionieren wie mensch das vom eigenen Körper erwartet. Was früher mal geklappt hat muss heute auch gehen. Unbedingt.
Viele Hilfeersuche, die mich früher als Verkäuferin in Sexshops erreicht haben und heute als angehende Sexualberaterin erreichen, sind stark von einem Wunsch nach Selbstoptimierung geprägt. Alles muss besser, größer, intensiver sein und vor allem muss alles immer genauso funktionieren wie mensch das vom eigenen Körper erwartet. Was früher mal geklappt hat, muss heute auch gehen. Unbedingt.
Vorab: Hilfeersuche müssen natürlich in jedem Fall ernst genommen werden. Ich glaube dennoch, dass es sich lohnt zu hinterfragen, inwiefern das Beratungs- oder Therapiebedürfnis mancher Menschen von neoliberalen Leistungsideen geprägt ist.
Ich habe über die Jahre in drei verschiedenen Sexshops gearbeitet. So unterschiedlich die Läden waren, eines hatten sie gemeinsam: das meist-geklaute Produkt waren Pillen, die angeblich die Potenz verstärken sollen. Auffällig war, dass die Pillen immer von jungen Männern geklaut wurden. Das zeigt nicht nur, wie groß die Scham rund ums Thema Erektionsstörung ist (nämlich riesig!), sondern auch, wie hoch der Druck sein muss, dass der eigene Penis immer im richtigen Augenblick steht und hart ist. Was ich nicht weiß ist, ob die Pillen vorsorglich genommen werden, aus Angst davor der Penis könne nicht funktionieren, oder ob der Leistungsdruck sogar dazu führt, dass mehr und mehr junge Männer an Funktionsstörungen leiden – denn, dass so viele Männer in ihren 20ern und 30ern aus physischen Gründen an einer Erektionsstörung leiden, ist sehr unwahrscheinlich.
Christoph Joseph Ahlers, Sexualwissenschaftler und -therapeut, sieht in vielen Fällen ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Funktionsstörungen und dem Bedürfnis in dieser neoliberalen Gesellschaftsordnung zu funktionieren. Er hat in seinem Buch Himmel auf Erden & Hölle im Kopf dem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet. Ahlers ist überzeugt, dass sich das vorherrschende Wertesystem «in unsere Körper und unsere Seelen ein[schreibt]» und dementsprechend unser Sexualleben beeinträchtigt. Er schreibt: «Das Leben, ein Assessment-Center. Wenn mich dieser Gedanke in der sexuellen Begegnung auch nur streift, kann daraus Versagensangst entstehen. Dann wird aus der Begegnung eine Bewährungsprobe […] und drückt sich körpersprachlich oft in Sexualfunktionsstörungen aus.» Er plädiert deshalb für eine politische Sexualtherapie, in der nicht sexuelle Leistungssteigerung das Ziel ist, sondern die Unterstützung eines Emanzipationsprozesses. Nicht nur, weil er das politisch für richtig hält, sondern auch, weil alles andere nicht funktioniert: «Sexuell ‹funktioniert› es laut Ahlers nämlich nur, wenn nichts mehr funktionieren muss! […] Mit Druck und Disziplin ist da kein Blumentopf zu gewinnen».
Sexualberatung und -therapie als politische Arbeit kann Menschen helfen, Wünsche nach Selbstoptimierung und Leistungssteigerung kritisch zu reflektieren und sich von diesen Ideen zu emanzipieren. Sexualität als Form der Kommunikation und nicht als Performance zu betrachten, ist eine Idee, die der Auseinandersetzung lohnt.