Audre Lorde ist Vertreterin der Love-Politics innerhalb des Black Feminism. Im Sinne der Love-Politics entsteht im Nebeneinander von Self-Care und radikaler Selbstkritik eine politische Kollektivität, die von Affekt und Emotion getragen wird. Im Zentrum stehen dabei das geteilte Commitment zu Selbst-Liebe, Selbst-Respekt und Selbst-Bestimmung sowie die radikale Anerkennung von Differenz.

In ihrem Essay «Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht» untersucht Lorde Erotik als Wissens- und Machtquelle für die Entwicklung widerständiger politischer Bewegungen. Anhand ihres Essays arbeite ich heraus, was Koalitionsfähigkeit praktisch bedeutet. Darunter verstehe ich die Fähigkeit, Kollektivitäten zu formen, in denen sich Individuen mit ihrem kompletten Selbst, ihren verschiedenen Verletzbarkeiten und mit allen Anteilen ihrer Existenz vertreten und anerkannt sehen; Kollektivitäten, die sich struktureller Gewalt widersetzen. Damit möchte ich weg von einem Ansatz, der bei der Reflexion über Privilegien und gesellschaftliche Positionierungen stehen bleibt und hin zu einer handlungs- und entwicklungsorientierteren Praxis kommen.

Ich benutze den Begriff Frauen*Queers, um Raum für nicht-binäre Identitäten zu schaffen. Als weiße, Frauen*Queers begehrende, cis-Mittelschichts-Feministin möchte ich mich aus meiner Positionierung heraus selbst-kritisch und verantwortlich mit Lordes Text auseinandersetzen und mögliche eigene Unterdrückungstaktiken reflektieren. Das bedeutet unter anderem, dass ich Differenz nicht negiere und unsichtbar mache oder den Essay aus Lordes Wirkungskontext herausreiße.

Erotik: Mehr als Sex

Erotik besteht nach Lorde in der «Wahrnehmung unserer selbst im Chaos unserer stärksten Gefühle», in dem «Ja in uns selbst» und in einer «Empfindung innerer Befriedigung», die allesamt oft unausgesprochen und verkannt sind. Diese Selbsterkenntnis unserer tiefsten Emotion ist vor allem für all diejenigen bedeutsam, deren Existenz unsere rassistische, heterosexistische, cis-sexistische, ableistische und anderweitig diskriminierende Gesellschaft verzerrt und verfälscht, stereotypisiert oder auch gar nicht vorsieht. Erkennen wir aber uns selbst und unsere tiefsten Sehnsüchte, dann setzen sie die Erwartung frei, unser Leben mit unseren Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Darin besteht nach Lorde das widerständige Potential der Erotik. Haben wir einmal diese tiefe Befriedigung erfahren, «können wir um den Preis unserer Ehre und Selbstachtung nicht mehr weniger von uns erwarten».

«Haben wir einmal diese tiefe Befriedigung erfahren, ‹können wir um den Preis unserer Ehre und Selbstachtung nicht mehr weniger von uns erwarten›.»

Ein Beispiel: Mein erstes Erlebnis purer Erregung in Berührung mit einer Frau … So fühlt sich das an, wenn nur die Berührung ihres Körpers beim gemeinsamen Tanzen meinen kompletten Körper elektrisiert. Wenn die Reibung unserer Brüste aneinander sich als süßer Strom von den Spitzen meiner Brustwarzen bis in die tiefen Nervenspitzen meiner Klitoris fortsetzt. Diese Intimität, Sinnlichkeit, Befriedigung – und darüber hinaus gegenseitig nährende Bindungen zwischen Frauen*Queers – hat mir die zwangsheterosexuelle Realität meiner Jugend bis in meine Mittzwanziger vorenthalten. In queeren Räumen, wo Menschen ihrem Begehren frei nachgehen und sichtbar sein können, verspüre ich bis heute tiefe Freude und Befriedigung. So ist die Existenz der diskriminierenden Strukturen dort draußen im Alltag auf emotionale Weise spürbar. Ich spüre, was sich richtig und was sich falsch anfühlt – eine wichtige Quelle des Wissens.

Erotik als intensives Teilen

Erotik und Sinnlichkeit definiert Lorde weiter als das (Mit-)Teilen des physischen, emotionalen, intellektuellen und psychischen Ausdrucks des Liebens. Erotik kann hierbei sexuell sein oder auch nicht. Ob wir nun miteinander tanzen, gemeinsam Texte diskutieren, Gedichte austauschen, eine Aktion planen oder auswerten: Das ehrliche und authentische (Mit-)Teilen unserer Empfindungen ermöglicht gegenseitiges Verständnis und gemeinsame politische Arbeit – ein Aufeinander-Beziehen, das Differenz anerkennt. Intensives Teilen, Interesse und Anziehung tragen dazu bei, uns gegenseitig besser zu verstehen – auch das, was wir nicht teilen – und ermöglichen gemeinsames politisches Handeln. Ob dieses Teilen nun direkt face-to-face passiert – oder über einen Text. Es geht darum, emotional und empathisch anwesend zu sein und Lebenswirklichkeiten (mit)zuteilen.

Dabei geht es nicht um neoliberale Ideen von Team Building oder die optimierte Zusammenarbeit für die Erreichung vorgegebener kapitalistischer Ziele. Hier geht es darum, dass diese Zielsetzungen sich aus den Verletzbarkeiten, Bedürfnissen und Lebenswelten der Kämpfenden ergeben. Wir machen Politik aus dem eigenen Erleben heraus.

Ich sein und mich authentisch mitzuteilen ist oft aber leichter gesagt als getan. Ein Beispiel: Frauen*Queers kann es zum Beispiel in einer heteronormativen Welt Mut kosten, in Lordes Worten: «die elektrische Spannung der Erotik zu teilen, ohne den Blick abwenden zu müssen». Für mich bedeutet das genauer: Das Risiko fängt da an, wo jedes Interesse an einer Person als Flirtversuch gewertet oder ein bloßer Blick als übergriffig empfunden werden könnte. Ganz schlimm wird es aber, wenn ich tatsächlich Begehren und Interesse für eine Frau* im Raum empfinde. Ich halte Augenkontakt nicht lange aus, gehe ihr aus dem Weg. Scham vor mir selbst und Angst vor Zurückweisung sitzen tief in Hetero-Räumen. In queeren Räumen ist das alles wesentlich entspannter. Sitze ich aber in einem Hetero-Raum doch zufällig neben ihr, dann ist mein Inneres damit beschäftigt, meine erotischen Gefühle abzuwehren; mein Kopf scheint leer. Fokus auf das Hier und Jetzt unmöglich. Dass mein Kopf da gerade komplett leer erscheint, ist wiederum mit Scham besetzt. Die Scham vor der Scham.

In so einem Moment bin ich nur noch körperlich, aber nicht mehr geistig anwesend und verlasse am besten einfach den Raum. Wenn gerade in diesem Moment Entscheidungen zu politischen Aktionen getroffen werden – bin ich einfach nicht da. Gerade deshalb sind self-love, self-care und empowerment für mich als integrale Teile von Koalitionsfähigkeit so wichtig. Und wenn ich diese Lebensrealität dann trotz aller Scham und Befürchtungen teile, dann passiert etwas. Dann werden wir zu Koalitionen fähiger. Wir alle.

Wiederaneignung von Ärger

Ich kann als weiße Mittelschichts-Feministin Lordes Verständnis der Rolle von Emotionen nur vollständig begreifen, wenn ich ihr Gesamtwerk und ihren Beitrag zur Debatte rassistischer Unterdrückungstaktiken innerhalb der Frauenbewegungen dabei nicht ausblende. Denn in dem Essay «Vom Nutzen unseres Ärgers» diskutiert Lorde auch Ärger als Quelle von Wissen.

Ärger kann zum Beispiel aufkommen, wenn weiße cis-Mittelschichts-Frauen zu viel Raum mit ihren Alltagsproblemen einnehmen oder wenn sie meinen, es ginge im Feminismus lediglich um ihren Anteil an 50 Prozent der (weißen) Macht – und ihre Forderungen dann bei der Frauen-Quote für Aufsichtsräte Halt machen. Die Unterdrückung Schwarzer oder muslimischer Frauen, von trans*Personen oder Arbeiter*innen blenden sie dabei aus. Dies sind nur einzelne Beispiele für eine Bandbreite an Unterdrückungstaktiken weißer cis-Mittelschichts-Feministinnen.

Es gehe letztendlich darum, was weiße Frauen*Queers mit Gefühlen von Schuld und Ohnmacht machen. Bleiben sie in der Defensive oder schweigen sie, sodass jede Kommunikation abbricht?

Angesichts solcher – bewusster oder unbewusster – Taktiken reklamiert Lorde für sich: «Ich kann meinen Ärger nicht verbergen, um euch [weißen Frauen] Schuldgefühle, Verletztheit oder ärgerliche Gegenreaktionen zu ersparen». Das sollte allein schon deshalb selbstverständlich sein, weil es ein Akt von Selbst-Respekt und Self-Care ist, den Ärger nicht herunterzuschlucken. Es gehe letztendlich darum, was weiße Frauen*Queers mit Gefühlen von Schuld und Ohnmacht machen. Bleiben sie in der Defensive oder schweigen sie, sodass jede Kommunikation abbricht? Schützen ihre Gefühle ihre Ignoranz und ihr Nichthandeln? Dann verhindern sie jede Veränderung. Lenken weiße Frauen*Queers ihre Schuld- und Ohnmachtsgefühle jedoch hin zur Veränderung, dann wird daraus nach Lorde Wissen über unsere Unterschiede. Ärger führe so zu Veränderung und Reifung. In dieser Weise können wir Unterschiede zwischen Frauen*Queers als fruchtbar begreifen – und eben nicht als spaltend. Sie bilden Teil unserer Analyse. Dafür müssen wir die Fähigkeit entwickeln, «aufrecht zu den Entstellungen zu stehen, die unser unschuldiges Erbe sind, aber die nun von uns berichtigt werden müssen.» Lorde betont immer wieder, dass es diese «Entstellungen», also die Stereotype, Abwertungen und die Verinnerlichungen diskriminierender Strukturen sind, die uns trennen – nicht die Unterschiede an sich.

Vision und Zukunft

Koalitionsfähigkeit bedeutet, uns auch auf emotionaler Ebene zu begegnen und Erotik wie auch Ärger als fruchtbar zu begreifen. Dies funktioniert nicht ohne radikale Selbst-Liebe und radikale Selbstkritik. Wenn wir Erotik und Emotion im politischen Kampf – entgegen patriarchal-rassistischer Normen – Raum und Bedeutung geben, entsteht daraus eine neue, eine stärkere, verbindlichere, intelligentere und machtvollere Art der politischen Kollektivität. Diese neuen Beziehungen und die politischen Kampagnen und Aktionen, die daraus entstehen, können tatsächlich den Status quo zum Wanken bringen.