Für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Online Dating ist es zunächst hilfreich, grob zwischen den verschiedenen Plattformen zu unterscheiden. Die Mutter des Online Datings ist die Single- oder Partner*innenbörse. Man kann sich diese als einen verlängerten, digitalen Arm des klassischen Heiratsmarktes vorstellen. Seiten wie Elitepartner oder Parship fügen sich in die Tradition der heteronormativen, patriarchalen Partner*innensuche ein und werben mit der Aussicht auf eine stabile, langjährige, monogame Beziehung. In der Regel zahlt man eine monatliche Gebühr, ähnlich wie früher bei bezahlten Heiratsvermittler*innen. Die monatliche Gebühr ist gekoppelt an das Versprechen, dass die Community exklusiv und vor allem «seriös» sei. Übersetzt bedeutet es, dass vor allem anhand von klassistischen Ausschlusskategorien bestimmt wird, wer Teil der Community werden darf.

Mittlerweile gelten Singlebörsen als altbacken und überholt, die meisten User*innen nutzen Angebote aus dem Spektrum der Dating-Apps. Anbieter wie Grindr oder Tinder sind weltweit populär und haben die Dating-Kultur im und außerhalb des Internets in den letzten Jahren maßgeblich geprägt. Das Prinzip, nach dem sie funktionieren, ist simpel und genau darin liegt auch ihr Erfolg: Die Registrierung ist kostenlos und dauert keine 15 Minuten. Ein Profil zum Beispiel bei Tinder besteht lediglich aus dem Vornamen, Alter, maximal fünf Bildern, einem sehr kurzen Text, auch genannt «tinder-bio». Neuerdings kann man auch noch einen Lieblingssong hinzufügen. Wenn man ein Profil erstellt hat, werden Nutzer*innen im Umkreis von maximal 161 km angezeigt. Nutzer*innen können entscheiden, mit wem sie in Kontakt treten möchten, indem sie eine Person «liken». Wenn sich zwei Nutzer*innen gegenseitig gefallen, haben sie ein «Match» und können anfangen miteinander zu schreiben.

Der größte Reiz am Online Dating ist sicherlich, den Zugang zu einer Plattform zu haben, die suggeriert, dass die Menschen, denen man dort begegnet, ähnliche Absichten haben und irgendwie auf der Suche nach neuen Begegnungen sind. Darüber hinaus ist der Wunsch nach Unkompliziertheit ein häufiger Grund, die Suche nach Partner*innen auf das Internet auszuweiten. Außerdem haben sich in den letzten Jahren auch nennenswerte emanzipatorische Ansätze innerhalb der Online Dating Community entwickelt, die das Internet als Dating-Plattform vor allem für marginalisierte Menschen attraktiv machen.

Potentiale und Möglichkeiten

Die Anonymität des Internets macht es einfacher und ein Stück weit sicherer, über sexuelle Begierde oder Praktiken, die sich außerhalb des monogamen, heteronormativen Mainstreams verorten, zu sprechen und sich mit anderen darüber zu verbinden. Communities wie Grindr oder Her, die sich ausschließlich an queere, schwule, lesbische, bi- oder pansexuelle Personen richten, ersparen es Nutzer*innen, ständig mit Outing-Szenarien konfrontiert zu werden. Auf der Plattform OkCupid kann man verhindern, dass heterosexuelle Männer einen kontaktieren können; solch eine Funktion wäre im echten Leben Gold wert für Personen, die im Alltag häufiger sexuellen Belästigungen und Übergriffen ausgesetzt sind.

Bei OkCupid können Mitglieder aus zahlreichen Geschlechtern außerhalb der binären Geschlechtskategorien jenes auswählen, welches ihrer Selbstdefinition am nächsten kommt. Zudem gibt es die Möglichkeit, zwischen monogamen und nicht-monogamen Beziehungsentwürfen zu wählen – ein Schritt in Richtung Normalisierung von polygamen und polyamorösen Beziehungsmodellen. Dementsprechend wundert es nicht, dass OkCupid vor allem von Personen, die sich politisch links positionieren, genutzt wird.

Eine weitere nennenswerte Entwicklung ist, dass sich Online Dating weg vom traditionellen Partner*innenschafts-Modell hin zu ambivalenten, offenen Beziehungen entwickelt. Während vor einigen Jahren der Fokus bei der Suche klar auf monogamen Partner*innenschaften oder irgendwie romantischen und sexuellen Begegnungen war, nutzen heute viele Menschen Online Dating, um neue platonische Freund*innenschaften zu schließen. Die heteronormative Einteilung und Aufwertung von romantischen, sexuellen, monogamen Beziehungen und die Abwertung von platonischen Begegnungen wird allmählich hinterfragt, und Modelle wie «Friends with benefits», also sexuelle Beziehungen ohne eine zwingend romantische Komponente und nicht unbedingt monogam, scheinen plötzlich erstrebenswert.

Man wird häufiger mit Lebensrealitäten konfrontiert, die teilweise stark von der eigenen abweichen, was einen veranlassen kann über eigene soziale Positionen und Privilegien nachzudenken, die eigene Komfortzone zu verlassen, oder sich selbst sogar teilweise neu zu erfinden.

Durch den relativ barrierefreien Zugang zum Internet können sich Menschen auch außerhalb ihrer sozialen Bubble treffen. Man wird häufiger mit Lebensrealitäten konfrontiert, die teilweise stark von der eigenen abweichen, was einen veranlassen kann, über eigene soziale Positionen und Privilegien nachzudenken, die eigene Komfortzone zu verlassen oder sich selbst sogar teilweise neu zu erfinden.

Die Kehrseite

Kritiker*innen von Dating Apps wie Tinder beklagen einen Werteverfall innerhalb der Dating-Kultur und in Partner*innenschaften. Der App und den Nutzer*innen wird Oberflächlichkeit und Verrohung vorgeworfen. Tatsächlich unterscheidet sich die Suche nach Liebesbeziehungen manchmal kaum noch vom Onlineshopping. Mit ihrem absoluten Minimalismus und einem auf Schnelligkeit, Masse und Effektivität ausgelegten Prinzip sind Tinder und Co perfekte Dating-Plattformen für einen neoliberalen Lebensstil.

Phänomene wie «Ghosting», der urplötzliche Kontaktabbruch nach einer intensiven Phase des Datings, werden gängiger. Die Kurzlebigkeit und scheinbare Unverbindlichkeit des Online Dating veranlasst manchen zu einer Verweigerungshaltung, Verantwortung innerhalb der eingegangenen Beziehungen zu übernehmen.

«Jede Person macht unterschiedliche Erfahrungen beim Online Dating, die Wahrscheinlichkeit Opfer von übergriffigen Nachrichten, Gewaltdrohungen und Trolling zu werden, ist jedoch besonders für FLTI* und nicht-weiße Personen groß.»

Online Dating existiert nicht in einem Vakuum: Machtdynamiken und strukturelle Gewalt werden auch im Internet (re-)produziert. Jede Person macht unterschiedliche Erfahrungen beim Online Dating. Die Wahrscheinlichkeit Opfer von übergriffigen Nachrichten, Gewaltdrohungen und Trolling zu werden, ist jedoch besonders für FLTI* und nicht-weiße Personen groß. Whitney Wolfe, die einzige weibliche Mitbegründerin von Tinder, hat genau jenes Unternehmen verlassen, weil ihr Kollege sexuell übergriffig war, was eine groteske Analogie dafür ist, dass technisch fortschrittliches Dating nicht zwingend mit gesellschaftlichem Fortschritt einhergeht.

Nicht begehrenswert

Die bereits erwähnte Plattform OkCupid bietet ihren Nutzer*innen die Möglichkeit, Zugehörigkeiten (nach US-amerikanischen Einordnungen von race) auf Basis von Selbstdefinition anzugeben. Mit diesem Fokus hat die Plattform die Match-Quote von über 25 Millionen Nutzer*innen im Zeitraum 2009-2014 ausgewertet. Herausgestellt hat sich, dass asiatische Männer und Schwarze Frauen die niedrigste Wahrscheinlichkeit auf ein Match haben. Wen wir als attraktiv und begehrenswert empfinden, wird häufig auf eine Frage des persönlichen Geschmacks reduziert. Dass jener «Geschmack» geprägt ist von gesellschaftlichen Realitäten und Normen wird häufig ausgelassen. Normschöne und begehrenswerte Weiblichkeit und Männlichkeit bedeutet in der Regel weiße Weiblichkeit und Männlichkeit. Identitäten, die von der weißen Norm abweichen, werden abgewertet, gelten als unattraktiv. Während asiatische Männer häufig als unmännliche, introvertierte Nerds dargestellt werden, sind Schwarze Frauen mit einer Hypersexualisierung ihrer Körper konfrontiert, mit Vorurteilen, zu laut, zu anstrengend, zu plump zu sein.

Die Veröffentlichung der eben genannten Daten hat bei vielen Betroffenen eine Art Erleichterung ausgelöst, da die eigenen subjektiven Erfahrungen sich als strukturelles Problem entpuppt haben. Unter anderem entstanden Dating-Plattformen speziell für Schwarze Frauen und asiatische Männer. Inwiefern diese Plattformen den rassistischen, sexistischen und heteronormativen Normalzustand hinterfragen, ist nicht klar, aber zumindest bieten sie eine kurzfristige Empowerment Strategie.

Bei vielen Menschen löst der Gedanke im Internet nach potenziellen Partner*innen zu suchen befremdliche Gefühle aus. Denn dabei begegnet man ganz sicher bekannten Gesichtern: Strukturelle Probleme wie Rassismus, Trans*feindlichkeit und Klassismus treten auch im Netz auf. Jedoch bietet das Internet und dementsprechend auch Online Dating besondere Möglichkeiten, emanzipatorische und empowernde Utopien zu schaffen. Betroffene können sich unabhängig von Ort und Stelle vernetzen, negative Erfahrungen werden seltener auf eigenes Versagen zurückgeführt. Die strukturelle Gewalt, die auch sehr private Sphären wie Dating betrifft, wird sichtbarer. Daraus können Menschen Mut und Kraft schöpfen emanzipatorische Kämpfe sowohl online, als auch IRL (in real life) auszutragen.