Wie Konsens in Bezug auf Sexualität genau gelebt werden kann, wird breit diskutiert. Eine Perspektive kritisiert das Konzept unter dem Begriff der Verhandlungsmoral, so zum Beispiel Kim Posster in einem Artikel in der konkret. Diese Perspektive möchte ich hier grob nachzeichnen und in Abgrenzung dazu ein anderes Verständnis von Konsens vorschlagen – Konsens als politische Praxis. Mir ist wichtig, individuelle Handlungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen, ohne strukturelle Analysen dabei zu negieren.

Verhandlungsmoral habe die Sexualmoral abgelöst, so die Kritik, die ich hier nachzeichnen will. Um Sexualität moralisch zu bewerten, gehe es jetzt nicht mehr um spezifische Vorstellungen eines «was» (heterosexueller Penetrationssex zwischen Verheirateten mit Zeugungsoption), sondern um das «wie» (Einvernehmlichkeit). Diese Liberalisierung von Sex sei unbestritten ein Fortschritt, das Konzept Konsens habe jedoch seine Tücken. Verhandlungsmoral beinhalte eine bürgerliche Vorstellung von Gleichheit: Wir verhandeln unser Wollen und einigen uns auf spezifische sexuelle Tätigkeiten. Es ist eine Art Vertrag für eine Tauschbeziehung unter Gleichen.

In dieser Vorstellung spielt es keine Rolle, ob ich als Frau oder Mann aufgewachsen bin, sexuelle Gewalt erfahren habe oder nicht, es gewohnt bin, über Sex zu reden oder nicht. Wir verhandeln Sex, als ob wir gleich starke Verhandlungspositionen hätten. Ein Interessenskampf, der so tut, als wäre er fair. Konsens, so die Kritik weiter, gehe damit einer neoliberalen Ideologie auf den Leim, in der ich als Unternehmer*in auftauche und das Beste für mich rausholen muss. Die Perspektive, die Konsens als Verhandlungsmoral diskutiert, betont die Notwendigkeit radikaler feministischer Gesellschaftskritik. Die Lösung gesellschaftlicher Machtungleichheiten könne nicht in individuellem Handeln, nicht in Kommunikation liegen, also nicht durch das Konzept Konsens aufgehoben werden.

Raus aus dem regiert werden

Ich möchte hier ein Verständnis von Konsens vorschlagen, dass keiner neoliberalen Ideologie auf den Leim geht und dennoch für individuelles Handeln hilfreich ist. Die Perspektive individuellen Handelns sehe ich nicht als Widerspruch zu Gesellschaftskritik. Sie ist vielmehr mit ihr verflochten. Mein Handeln ist nie einfach Ausdruck der Verhältnisse, sondern immer auch selbst ein Akt, Verhältnisse zu konstituieren. Radikale feministische Gesellschaftskritik kann mir Orientierung für mein Handeln geben, sie muss mich nicht ohnmächtig fühlen lassen. In einem Verständnis von Konsens als politische Praxis kann (Selbst-)Verantwortung eine Exit-Strategie sein, raus aus dem regiert-werden hin zu widerspenstigem Begehren – eine Möglichkeit, selbst Bedeutung zu geben, neue Räume aufzumachen und dort Zuflucht zu finden. Anders formuliert: Ich will darstellen, wie revolutionäres Begehren einen Weg in die Welt finden kann. Dieses Verständnis von Konsens ist nicht auf Sexualität beschränkt, sondern beschreibt Interaktion mit Verbündeten.

«Mein Handeln ist nie einfach Ausdruck der Verhältnisse, sondern immer auch selbst ein Akt, Verhältnisse zu konstituieren.»

Bei einer Vorstellung von Konsens, die in die neoliberale Falle tappt, geht es um konkurrierende Interessen und darum, wer sich besser durchsetzen kann. Es entsteht nichts Neues aus der Begegnung. Implizit wird Feindseligkeit zwischen den Beteiligten angenommen. Die Perspektive der Verhandlungsmoral fragt, was legitim und moralisch richtig ist. Bedeutung liegt außerhalb der spezifischen Begegnung, nicht innerhalb von ihr. Dagegen möchte ich vorschlagen, Konsens als Möglichkeit zu sehen, in der Begegnung, in Bezug aufeinander Bedeutung neu herzustellen.

Wir begegnen uns immer in verschiedenen Machtpositionen, wenn auch in sehr unterschiedlichen. Konsens, so wie ich das Konzept verstehen will, hält an der Annahme fest, dass unsere Begehren nicht in Konkurrenz stehen müssen. Wir können Verbündete sein, die gemeinsam Visionen entwickeln. Wie interagiere ich mit dir, begegne dir wohlwollend, gehe von deinem Wohlwollen aus, wo du doch anders bist als ich? Das ist für mich die Frage, die Konsens als politische Praxis stellt. Um dir wohlwollend begegnen zu können, gehe ich davon aus, dass wir unterschiedlich sind. Ich kann nicht von meiner Wirklichkeit auf deine schließen, kann nicht über dich urteilen. Ich bin mein eigenes Universum, du bist dein eigenes Universum. Ich beziehe mich auf dich als eine Person mit eigener Wahrheit, nehme dich als radikal anders ernst. Ich nehme eine Außen-Position ein, stelle mir dich vor, frage nach. Interaktion ist Übersetzung zwischen unseren Universen. Die Interaktion macht Raum auf und führt uns zu Unvorhergesehenem. So geben wir selbst Bedeutung, lassen nicht über uns urteilen.

(Selbst-)Verantwortung in einem neoliberalen Sinn negiert gesellschaftliche Zusammenhänge. Leiden ist eigene Schuld. Ich glaube, dass die neoliberale Idee von individuellem Handeln, das außerhalb eines Systems stattfindet, wirkmächtig ist. Es ist deswegen eine Herausforderung, die Perspektive von individuellen Handlungsmöglichkeiten aufzumachen, ohne Diskriminierung und Unterdrückung auszublenden. Doch auch in einem System, in dem es Unterdrückung und Diskriminierung gibt, habe ich Handlungsmöglichkeiten und treffe Entscheidungen. Meine Handlungsmöglichkeiten sind abhängig von meiner Position innerhalb eines Systems von Machtstrukturen. Ich entscheide mich immer aus einer Position heraus. Individuelle Handlungsmöglichkeiten zu sehen, ermöglicht es mir, Entscheidungen bewusst zu treffen und so Verantwortung für mein Handeln anzunehmen. Das bedeutet auch, wahrzunehmen, wo ich nicht handeln, sondern nur reagieren kann.

Widerspenstiges Begehren

Verantwortung klingt wie schweres Gepäck, nach moralischer Pflicht. Verantwortung abgeben klingt aufregend und nach Erleichterung. Schieben wir uns das Gepäck gegenseitig zu? Ich verstehe Verantwortung nicht als Pflicht, sondern als Fähigkeit zu antworten (responsiveness ist das englische Wort, im Deutschen «Antwortlichkeit»). Es ist die Fähigkeit, in Interaktion zu gehen und gemeinsam Visionen zu entwickeln. In Beziehung mit Verbündeten antworte ich auf dich und du auf mich.

«Interaktion ist Übersetzung zwischen unseren Universen. Die Interaktion macht Raum auf und führt uns zu Unvorhergesehenem. So geben wir selbst Bedeutung, lassen nicht über uns urteilen.»

Begehren ist widerspenstig. Es passt nicht in Erwartungen, die an mich gestellt werden, oder in Erwartungen, die ich an andere stelle. (Selbst-)Verantwortung bedeutet auch, dass ich auf mein Begehren antworte, mein Wollen zeige und damit in Konfrontation gehe. Das führt mich zu Unvorhergesehenem, zu etwas, das erst durch unsere Interaktion lebendig wird. In Beziehung mit Verbündeten nehme ich an, dass auch du auf dein Begehren antwortest, Entscheidungen triffst, auf die ich reagieren kann. Ich nehme an, dass du Entscheidungen triffst, auch wenn du anders positioniert bist als ich.

Meine Versuche, mein widerspenstiges Begehren zu kontrollieren, schlagen mich in die Flucht. Ich interagiere nicht, trenne mich ab von der Welt, halte an einer Welt fest, die es nicht gibt. Einen Zufluchtsort für mein Begehren finde ich nur in der Konfrontation. Ich laufe von der Welt aus, die es gibt, in Richtung der Welt, die ich mir wünsche und die erst durch Interaktion präzise Formen annimmt. Diese Bewegung ist die Exit-Strategie.

Unsere Interaktion führt uns zu Unvorhergesehenem und gibt eigene Bedeutung. So höre ich auf, auf der Flucht zu sein. Mit Konsens als politische Praxis lebe ich Beziehungen mit Verbündeten, die sich mit Wohlwollen begegnen und gemeinsam Welten schaffen, in denen unsere revolutionären Begehren Zuflucht finden.