«Ein Hauptziel der Sexualreformbewegungen der Vergangenheit war, sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung zu erreichen; jetzt aber beklagen wir das Egoistische und Unsoziale an den Transformationen», bilanzierte Volkmar Sigusch 2005 die Jahre seit der sogenannten sexuellen Revolution. Für diese ernüchternde Entwicklung macht er die neoliberale Transformation der Gesellschaft verantwortlich. Die begleitende Sexualform bezeichnet er als «Neosexualitäten». Dieses Paradigma möchte ich an vier Beispielen diskutieren und die darin enthaltene Dialektik aus Befreiung und Disziplinierung stärker als er selbst herausarbeiten.

Seiner statischen und düsteren Sicht möchte ich am Beispiel von vier sexuellen Subkulturen das Bewegungspotenzial neo­sexueller Paradoxien gegenüberstellen: das Verschwinden der alten Perversion in einem deregulierten sexuellen Markt, die Enttraditionalisierung und Prekarisierung der Geschlechterverhältnisse, die Implementierung einer kontraktuellen Aushandlungsethik sowie die Pluralisierung und Flexibilisierung der Familie zu einer Neofamilie. Mir geht es dabei jeweils um den emanzipatorischen Gewinn und um die Kooptierung durch den Neoliberalismus. Zugleich beschreibe ich Widersprüche, an denen sich abzeichnet, dass neoliberale Fantasien an ihre Grenzen stoßen: in der Fürsorge, in der Nachhaltigkeit und im Souveränitätsverlust.

Sexuelle Deregulierung und Prekarisierung

In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus behaupteten Luc Boltanski und Ève Chiapello, der Neoliberalismus sei eine strategische Reaktion auf soziale und politische Anfechtungen des fordistischen Kapitalismus. Es sei ihm gelungen, die «Künstlerkritik», die sich gegen die Entfremdung der Arbeits- und Lebenswelt sowie gegen den autonomie- und kreativitätsfeindlichen Paternalismus im Fordismus richtete, zu absorbieren und in neue Formen der Produktionsweise zu integrieren. So sind in vielen neosexuellen Lebens- und Verhaltensformen emanzipatorische Forderungen der Neuen Sozialen Bewegungen aufgehoben, etwa der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung, der sexuellen Befreiungsbewegung sowie der Kommunen mit ihrem Ideal der freien Liebe. Die neuen neosexuellen Freiheiten sind nicht nur von oben verordnete Liberalisierungen, sondern auch dem Fordismus abgetrotzte Freiheiten, denen der Neoliberalismus eine gesellschaftlich sanktionierte und für die Kapitalinte­ressen verdauliche Gestalt gegeben hat.

«Die neuen neosexuellen Freiheiten sind nicht nur von oben verordnete Liberalisierungen, sondern auch dem Fordismus abgetrotzte Freiheiten, denen der Neoliberalismus eine gesellschaftlich sanktionierte und für die Kapitalinteressen verdauliche Gestalt gegeben hat.»

Die daraus resultierenden Sexualitäten bezeichne ich als prekär. Prekarisierung beschreibt das Nebeneinander von Individualisierungsgewinn und Unsicherheitszuwachs, das durch ökonomische Deregulierung und gesellschaftliche Enttraditionalisierung entsteht. Sexualität ist zugleich eine Akteurin und eine Ressource von Prekarisierung. Sie setzt instabile Arbeitsverhältnisse und Subjektivitäten zueinander ins Verhältnis. Der Deregulierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse im Neoliberalismus entspricht im Intimen eine sexuelle Deregulierung. Prekäre geschlechtliche und sexuelle Subjektpositionen überschreiten traditionelle Kodizes, laufen aber Gefahr zu scheitern. Diese unsichere Lage erfordert neue Strategien, um die Risikozumutungen zu bewältigen. Die neoliberale Umgestaltung erkennt die sexuelle Lust am Risiko an und bemüht sich, diese für die Zwecke der Mobilisierung von Arbeits- und Kaufsubjekten nutzbar zu machen – nach dem Motto: Wer nicht wagt, gewinnt nicht.

Galt Sexualität zu Zeiten fordistischer Disziplinierung als das Andere der Arbeit, so wird sie jetzt willkommen geheißen. Die neoliberale Ökonomie des sexuellen Selbst erfordert nicht mehr Triebabwehr und Sublimierung, sondern einen kontrollierten Gebrauch der Lüste mit dem Ziel, sie als Ressource für Kreativität und Motivation verfügbar zu halten und zu optimieren. Sexualität wird als Dimension des sich arbeitend entwerfenden Individuums anerkannt, auch wenn ihr jeweils geschlechtlich andere Ausformungen zugeschrieben werden. Denn während inzwischen von allen Geschlechtern Investitionen in die sexuelle Attraktivität erwartet werden, gelten für Männer und Frauen immer noch unterschiedliche Verhaltensnormen.

Sexuelle Märkte

Als Avantgarde neosexueller Umgestaltung identifiziert Sigusch die Sexualkultur der Schwulen: «Distanz zur Herkunftsfamilie und Fortpflanzung, Verwandlung des Körpers in einen Erotikkörper und entsprechende Drapierung, Assoziation bisher als unvereinbar angesehener seelischer und sozialer Modalitäten, egoistische Suche nach dem schnellen, umstandslosen sexuellen Thrill bei vorhandener Liebesfähigkeit in Dauerbeziehungen, Pluralisierung der Beziehungsformen […], enorme Anpassungsbereitschaft im sozialen Leben, enorme Flexibilität und Kreativität an den gesellschaftlichen und kulturellen Zirkulationsfronten und schließlich eine hohe Besetzung der Autoerotik.»

Die Einsamkeit der Perversen ist vorbei, weil deren Perversionen ihre Einzigartigkeit verloren haben. Eines der erfreulichen Ergebnisse ist die tendenzielle Abschwächung des Stigmas der Perversion. Im Bemühen um Freiräume für gesellschaftliche Außenseiter hat sich die schwule Community Lebensräume geschaffen, die vorwiegend kommerzialisiert sind und deshalb einen hohen Grad an Liberalität besitzen.

Schon in den 1980er Jahren hat Michael Pollak die schwule Szene als einen Markt beschrieben, auf dem sexuelle Dienstleistungen getauscht werden, deren Verkehrswert sich in Orgasmen bemisst. Inzwischen ist sie um den virtuellen Cruising-Bereich der Dating-Portale ergänzt, die sein Prinzip noch optimieren. Nun können immer größere Gruppen miteinander vernetzt werden und Begehrensströme zirkulieren. Im Cyberspace gibt es kaum eine sexuelle Eigensinnigkeit, die nicht auf Gegenliebe stieße. Das Internet erlaubt sowohl die Organisation hochspezialisierter sexueller Interessengemeinschaften als auch die Pluralisierung und Ausdifferenzierung sexueller Praktiken, wobei Masturbation die neue kanonische sexuelle Praktik darstellt, die durch weitere Praktiken ergänzt werden kann, aber nicht muss. Sigusch nennt aufgrund der ökonomischen Logik diese Form der Sexualität Lean Sexuality, analog zur Lean Production, die ebenfalls auf Rationalisierung, Optimierung und Konzentrierung setzt.

Die Emanzipation der Perversionen geht mit ihrer Kodifizierung und Standardisierung einher, sodass Listen sexueller Präferenzen in den Dating-Portalen nur noch gegeneinander abgeglichen werden müssen. Die Online-Kommunikationsformen begünstigen eine bestimmte Form, Sexualität zu leben und treiben diese gezielt hervor. Die Ichzentriertheit der neosexuellen Begegnung nennt Sigusch Selfsex. Diese Technologie des Selbst gehorcht ihm zufolge den neoliberalen Maximen von Selbstorganisation und Modularisierung der eigenen Bedürfnisse nach den Prinzipien von «Selbstdisziplinierung, Selbstpreisgabe, Selbstoptimierung und Selbstverstofflichung.» Gesellschaftliche Beziehungen und zwischenmenschliche Bedürfnisse artikulieren sich in der Gestalt eines egoistischen sexuellen Interesses. Sexualität wird versachlicht und von überhöhenden Aufladungen entlastet. Der mediale Austausch über das Internet unterstützt außerdem die Pornografisierung sexuellen Erlebens. Einerseits isoliert diese Entwicklung die Einzelnen, indem sie deren sexuelle Unverwechselbarkeit zuspitzt, andererseits schafft sie neue Gemeinschaften und Netzwerke geteilter sexueller Wünsche, die Individuen quer zu bestehenden gesellschaftlichen Segmentierungen verbinden.

Genderfuck

Während die schwule Szene im Hinblick auf die Entwicklung sexueller Märkte eine Vorreiterrolle hat und als Transmissionsriemen für den Rest der Gesellschaft dient, kann die queere bzw. lesbisch-trans*-queerfeministische Szene als Avantgarde der Dekonstruktion von Geschlecht gelten. Zum einen wird Geschlecht vom Körper abgelöst und die vermeintliche Natürlichkeit von Geschlecht in Zweifel gezogen, zum anderen erlauben neue medizinische Techniken, Körper herzustellen, welche die traditionelle Zweiteilung der Geschlechtskörper infrage stellen. Geschlecht wird nicht mehr als Schicksal begriffen, sondern als Aushandlungsergebnis. Selbstbestimmte Geschlechtsidentität treibt als subkulturelle Strategie einerseits die Widersprüche hervor, die in jeder Geschlechtsidentität angelegt sind, entgrenzt und zersetzt sie, kann aber andererseits auch zu einer bloßen Vervielfältigung von Geschlechtsidentitäten führen.

Es gelingt queeren Subkulturen, gesellschaftlich stigmatisierte Geschlechtsnonkonformität aufzuwerten und lustvoll zu besetzen. Sie stellen nicht nur einen Raum für alltagsweltliche Trans*-Identitäten bereit, sondern laden darüber hinaus auch zum kritischen Spiel mit Geschlechterklischees ein. Diese Entwicklung kann einer Identitätslogik Vorschub leisten, die innerhalb wie außerhalb der Queer-Theorie umstritten ist. Ein intentionalistisches und identitätslogisches Verständnis queerer Geschlechter, womöglich verbunden mit dem Zwang zur spektakulären Einzigartigkeit, hat Sigusch wohl im Sinn, wenn er diese Form geschlechtlicher Selbstbestimmung Neogeschlecht beziehungsweise Selfgender nennt. Diese Neogeschlechtlichkeit ist autonomisiert, souverän verfügt und selbst verantwortet. Da sie sich nicht auf traditionelle Geschlechterarrangements stützen kann, ist sie wesentlich prekär. Im Neoliberalismus geraten traditionelle Geschlechterrollen ins Wanken, ohne gänzlich zu verschwinden.

Das führt dazu, dass die Durchquerung traditioneller geschlechtlicher Zuschreibungen nicht nur selbstgewählt ist, sondern gesellschaftlich gefördert, manchmal sogar aufgezwungen wird. Einige Queer-Theoretiker*innen haben Konzepte entworfen, die eine solche Kooptation verhindern und Alternativen zum neoliberalen Selfgender anbieten sollen, etwa die Strategien von Veruneindeutigung oder widersprüchlicher Selbstbeschreibung.

Von den herrschenden Verhältnissen werden die Individuen keinesfalls gezwungen, queere Geschlechter zu sein. Von einer Überschreitung von Zweigeschlechtlichkeit werden sie nach wie vor abgehalten. Lediglich die Orte von Weiblichkeit und Männlichkeit werden prekär, denn die neoliberale Flexibilisierung erlaubt die Gleichzeitigkeit traditioneller und flexibilisierter Geschlechterrollen. Die Einzelnen finden sich widersprüchlichen und konkurrierenden Rollenanforderungen ausgesetzt: Frauen sollen wie Männer arbeiten, aber gleichfalls immer noch ganz Frauen sein, wenn sie als solche angerufen werden. So dominieren in der Arbeitsteilung, in der Familienpolitik und in der Werbung nach wie vor traditionelle Rollenvorstellungen. Geschlechtliche Diversität wird einerseits begrüßt, andererseits ist die zweigeschlechtliche Zuordnung immer noch institutioneller Zwang. Von der Verwirklichung eines frei wählbaren Neogeschlechts, das die hierarchische Zweigeschlechtlichkeit sprengt, sind wir weit entfernt.

Sadomasochistische Rollenspiele

Charakteristisch für den Neoliberalismus ist also die Ambivalenz zwischen Verstärkung und Flexibilisierung von Geschlechternormen. Traditionelle Geschlechterhierarchien werden ständig reproduziert, dürfen aber nicht gezeigt oder angesprochen werden, wo ein vorgeblich egalitärer Geschlechterdiskurs als Wertmaßstab gilt. Dieses Nebeneinander produziert und tabuisiert die Wünsche nach Dominanz, Unterwerfung, Emanzipation und Subversion, sodass es schwierig wird, sie zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden zu lassen. In der SM-Subkultur werden diese Bedürfnisse modulartig ausgelagert und im gegenseitigen Einvernehmen und im verfremdenden Modus des Spiels artikuliert.

«Sadomasochistische Rollenspiele spiegeln die wachsende gesellschaftliche Bedeutung der Fähigkeit zum Rollenwechsel und zur ­Toleranz von Rollenkonflikten wider.»

Sadomasochistische Rollenspiele spiegeln die wachsende gesellschaftliche Bedeutung der Fähigkeit zum Rollenwechsel und zur Toleranz von Rollenkonflikten wider. Sie üben diese Kompetenz ein und arbeiten sich am daraus entstehenden Leistungsdruck ab. Sie inszenieren Rollendistanz und lösen Konflikte oft mit einer ironischen Grundhaltung. Techniken der Selbstführung stehen im Mittelpunkt der subkulturellen Kompetenz der SM-Szene. Sexuelle Verhandlungsmoral und vertragliche Rahmung sexuellen Handelns werden eingeübt und vorgeführt.

Dies setzt allerdings egalitäre Partner*innen voraus. Im Aushandeln werden die Beteiligten nominell gleichbehandelt, auch wenn ihre gesellschaftlichen Positionen starke Machtunterschiede aufweisen. Außerdem unterstellt die Verhandlungsmoral die Transparenz des sexuellen Begehrens und übersieht, dass Erotik von Unwägbarkeit und Undurchsichtigkeit an den Grenzen des Sagbaren geprägt ist. Damit versucht die vertragliche Rahmung Ambivalenzen zu entschärfen, welche SM-Sexualitäten aber gerade freisetzen und lustvoll genießen, denn sie suchen das Erleben von Macht und Ohnmacht unter Bedingungen, die paradox sind: Souveränitätsverlust wird souverän verfügt. Unlust wird erotisiert. Sexuelles Handeln wird theatralisiert, während jedoch diese Artifizialität als ausreichend echt und künstlich genug erlebt werden muss, um genießbar zu sein. Indem SM-Sexualitäten die neosexuelle Paradoxie souveränen Souveränitätsverlustes und authentischer Artifizialität in ihren Inszenierungen explizit machen, erlauben sie ein praktisches Durcharbeiten dieser Widersprüche.

Wahlverwandtschaften

Schließlich betrifft Deregulierung nicht nur den normativen Rahmen sexueller Praktiken sowie geschlechtlicher Identifizierungen und Verkörperungen, sondern auch den Bereich familiärer und affektiver Bindungen. Der zeitlich flexibilisierte und fragmentierte, «projektbasierte Kapitalismus» wird von einer projektbasierten Neofamilie begleitet. Die Zunahme von Singlehaushalten wird durch komplexe Netzwerke von Wahlverwandtschaften ergänzt. Im Vergleich zum Fordismus stehen neoliberale Gesellschaftsentwürfe nicht-traditionellen familiären Lebensweisen nicht nur offener gegenüber, sondern treiben sie geradezu hervor. Denn der Ruf nach Flexibilisierung und Deregulierung verlangt mobile Arbeitssubjekte, die in der Lage sind, mühelos affektive Bindungen aufzubauen und abzubrechen, sowie zwischen verschiedenen, einander widersprechenden Ansprüchen zu vermitteln. Außerdem wird die Bereitschaft und Fähigkeit verlangt, Fernbeziehungen zu führen und Verantwortung für eine Vielzahl von Mitgliedern der Patchwork-Familie zu übernehmen.

Neosexualitäten müssen also nicht in die Vereinzelung führen. Dagegen erfordert die Enttraditionalisierung der Gesellschaft das Aushandeln von Bindungsmodellen, die bislang normativ geboten und kulturell abrufbar waren. Dies bedeutet für die Einzelnen zwar stärkere Belastungen, aber auch mehr Selbstverwirklichung und Handlungsmöglichkeiten. Indem sie unterschiedliche Bedürfnisse und Verantwortungen modulartig in verschiedene Beziehungen auslagern, folgen neosexuelle Beziehungen einer Verschlankungslogik. Analog zur Lean Sexuality stellen sie somit eine Art Lean Relationship dar. Allen Straffungsbemühungen zum Trotz entsteht insgesamt ein zeitlicher und materieller Mehraufwand an Kommunikation, Mobilität und Fürsorgeverpflichtungen. Während sich nicht-monogame Lebensweisen der fordistischen Gesellschaftsformation widersetzen, scheinen sie mit dem neoliberalen Modell leichter vereinbar zu sein. Dieser Lebensstil ist kostspielig, verlangt hohe kommunikative Kompetenzen und ein ausgeprägtes Selbstmanagement. Erleichtert wird er durch Kinderlosigkeit bzw. das Privileg, Fürsorge- und Pflegearbeit outsourcen zu können. In Bezug auf die Polyamory-Szene beobachten die Sozialwissenschaftler*innen Haritaworn, Lin und Klesse daher eine Dominanz weißer, nicht-behinderter Mittelständler*innen.

Auch der Staat zeigt sich nicht-ehelichen Lebensformen gegenüber offener. Neoliberale Refamiliarisierungspolitiken restaurieren nicht einfach vergangene Verhältnisse, sondern erkennen neue Familienmodelle an. Da sich vormals sozialstaatliche Aufgaben an sie delegieren lassen, gewinnen neben der ehelichen Kleinfamilie auch homosexuelle Lebenspartnerschaften und alternative Lebens- und Fürsorgegemeinschaften zunehmend die Aufmerksamkeit staatlicher Politik. Institutionelle Anerkennung wird gewährt, wo es sich für den Staat auszahlt.

«Wer reich ist, kann sich also mehr Freiheiten in der Lebensgestaltung und sexuellen Selbstverwirklichung für sich und ein Gegenüber leisten»

Die gesellschaftliche Entsolidarisierung erweist sich als historische Bedingung für die Anerkennung und Normalisierung nicht-ehelicher Lebensweisen und bewegt sich innerhalb des neoliberalen Spannungsverhältnisses von Individualisierungsgewinn und Risikozuwachs. Im Bereich privater Lebensgestaltung gilt die Devise: «Du darfst so leben, wie du willst, wenn du damit erfolgreich bist und selbst dafür die Verantwortung übernimmst.» Wer reich ist, kann sich also mehr Freiheiten in der Lebensgestaltung und sexuellen Selbstverwirklichung für sich und ein Gegenüber leisten. Sexualität und Fürsorge werden damit in eine Warenlogik integriert. Das neoliberale Individualisierungsangebot wird mit der Privatisierung der Fürsorge verschweißt. Mit dieser Koppelung ist eine ungeahnte Allianz konservativer und sexualemanzipatorischer Diskurse gelungen.

Neosexuelle Wahlverwandtschaften passen sich aber nicht einfach an neoliberale Imperative an, sondern liefern ein Gegengewicht zu Atomisierung, Entsolidarisierung und Bindungslosigkeit. Die staatliche Anerkennung beschränkt sich dagegen auf das Paarmodell und produziert neue Verwerfungen. Neben trans*queeren tragen nicht-monogame Lebensweisen dazu bei, die binäre Logik der Gesellschaft aufzubrechen. Sie wenden sich gegen den Zusammenhang von Monogamie und kapitalistischen Produktions- und Reproduktionslogiken und klagen neue Konzepte der gesellschaftlichen und symbolischen Ordnung ein. Sie erfordern eine Revision des Gesundheits- und Pflegewesens sowie der Alterssicherung und des Sozialstaates. Der neoliberale Sozialstaat und das Modell der Neofamilie können die Bedürfnisse nach Autonomie, Sicherheit und Nachhaltigkeit zwischenmenschlicher Bindungen nicht zufriedenstellend erfüllen, sondern schaffen mit den Möglichkeiten, die sie eröffnen, neuen Handlungsbedarf.

Fazit

Pierre Bourdieu sah in der neoliberalen Prekarisierung den «Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf die Errichtung einer zum Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen.» Es ist Teil dieser Herrschaftsstrategie, durch das Versprechen von Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung einen Kompromiss zwischen Herrschenden und Beherrschten herzustellen. Wünsche nach sexueller Selbstverwirklichung nehmen darin eine zentrale Stellung ein. Neosexualitäten sind die Form des Kompromisses, den diese Wünsche unter neoliberalen Vorgaben eingehen. Ihr Verhältnis zum Neoliberalismus ist ambivalent: Einerseits kooptieren sie lustvoll, andererseits setzt die Nichteinlösung wie auch die Einlösung der Versprechen kritische Potenziale frei. Genau in dieser Widersprüchlichkeit ist das Bewegungspotenzial der Neosexualitäten angelegt.

Dies alles und noch viel mehr ist eben noch lange nicht genug. Die gesellschaftlich sanktionierten neosexuellen Bedürfnisse reiben sich hier mit anderen affektiven und materiellen Bedürfnissen. Wünsche nach Sicherheit, Nachhaltigkeit und Unsouveränität werden durch die neoliberalen Imperative nicht befriedigt, sondern erscheinen lediglich als Markthemmnis. Die Befriedigung dieser Wünsche haben die Einzelnen selbst zu tragen, sofern sie es sich leisten können.

Die inneren Widersprüche innerhalb der vier angeführten neosexuellen Szenen weisen auf die mangelnde Integrationsfähigkeit des neoliberalen Kapitalismus hin. Sie beanspruchen gewährte oder erkämpfte Freiräume, entwickeln Lebens- und Subjektivierungsweisen unter prekären Bedingungen und arbeiten sich an deren Widersprüchen ab. Das neoliberale Modell eröffnet so ein Potenzial zur Politisierung und Widerständigkeit im Inneren der Herrschaftsprozesse und legitimiert damit paradoxerweise die Zustimmung und aktive Beteiligung der Beherrschten. Dadurch entsteht die ambivalente Situation, dass Kritik ebenso sehr durch Verweigerung wie durch Mitmachen möglich ist, dass beides aber gleichermaßen in die Affirmation führen kann. Lustlos ist der Prozess, diese Ambivalenzen in der Praxis kritisch zu bewältigen, glücklicherweise nicht.