Anfang 2017 veröffentlichte Mithu Sanyal gemeinsam mit Marie Albrecht in der taz den Artikel Du Opfer!, in dem die beiden Autor*innen einen neuen sprachlichen Umgang mit den Betroffenen von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt vorschlagen. Der Text löste eine Kontroverse aus, in der vor allem ein offener Brief der radikal-feministischen Gruppe Störenfriedas und eine Replik der Emma durch eine stark ablehnende Haltung hervorstechen. Diese Texte erhoben zahlreiche Vorwürfe an Sanyal, bis hin zur groben Verharmlosung sexualisierter Gewalt. Wir sehen diese Debatte als exemplarisch für einen grundsätzlichen Konflikt zwischen dem aus der Zweiten Frauenbewegung stammenden Radikalfeminismus und neueren, von queerer Denkart beeinflussten Feminismen, wie er beispielsweise auch in den anhaltenden Debatten über Prostitution/Sexarbeit oder Gender-Wissenschaften erkennbar ist. Wir fragen uns: Warum nur bekämpft man sich auch innerhalb eines feministischen Lagers immer wieder so unerbittlich?

Sanyal und Albrechts Artikel entstand in Folge einer Podiumsdiskussion zu Sanyals Buch Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens. Dort baten Betroffene sexualisierter Gewalt darum, nicht als «Opfer» bezeichnet zu werden. Daraufhin entwarfen die beiden Autor*innen den Alternativvorschlag, von «Erlebenden» sexualisierter Gewalt zu sprechen. Die Bezeichnung Opfer scheint den Autor*innen problematisch, da der Opferbegriff im Zusammenhang mit Vergewaltigung eine sexistische Dimension habe. Er beschreibe Betroffene als ausschließlich passiv und schutzbedürftig, lege sie damit auf stereotyp «weibliche» Normen fest und richte konkrete Erwartungen an sie: Sofern sie sich nicht als gebrochen zeigten, würde ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt und ihnen Unterstützung verwehrt. Dabei geht es Sanyal und Albrecht nicht darum, die Gewalt zu relativieren oder gar die Bedeutung der konkreten Tat abzustreiten, sondern darum, dass die Betroffenen die Deutungsmacht über diese Gewalt und die Handlungsmacht über die Konsequenzen zurückgewinnen. Sie verstehen ihren Vorschlag, den Begriff Erlebende zu nutzen, als eine Möglichkeit für die Betroffenen, mit den Folgen einer Vergewaltigung selbstbestimmt umzugehen und als aktiv Handelnde wahrgenommen zu werden. Der Begriff solle explizit nicht verbindlich für alle gelten, denn Betroffene könnten sich selbst bezeichnen, wie sie es wünschen, also auch als «Opfer».

Die Kritik der Störenfriedas und der Emma richtet sich nun im Kern darauf, dass der Begriff Erlebende die Gewalt unsichtbar mache. Die Formulierung würde das krasse Ausmaß sexualisierter Gewalt auf ein bloßes Erlebnis reduzieren, damit verharmlosen und die Betroffenen alleine lassen. Begriffe wie Opfer oder Überlebende dagegen machten die Gewalt sichtbar und würden trotzdem nicht die Bedeutung von Handlungsmacht vergessen. Darüber hinaus sei der Begriff des Opfers in Dualität mit seinem Konterpart wichtig. Die Benennung des Täters sei elementare Voraussetzung für gesellschaftliche Sanktionierung im Allgemeinen und wirksame Strafverfolgung im Speziellen. Auch würde der Begriff der Erlebenden die gesellschaftliche Dimension von sexualisierter Gewalt als verankert in ungleicher, patriarchaler Machtverteilung verschleiern.

Zwei feministische «Lager»

Dieser Streit mag verständlicher werden, schaut man auf die Entwicklungslinien und politische Praxis zweier «Lager», die wir hier vermuten. Wir sehen die Störenfriedas und die Emma in der Tradition des Radikalfeminismus, der seine Ursprünge in der sogenannten Zweiten Welle der westdeutschen Frauenbewegung hat. Diese entstand innerhalb der Student*innenbewegung Ende der 1960er Jahre und legte ihren Schwerpunkt auf den Kampf für sexuelle Selbstbestimmung und gegen sexualisierte und häusliche Gewalt. In einer Situation weitgehender Abwesenheit eines gesellschaftlichen Bewusstseins für sexuelle Gewalt war vor allem die öffentliche Benennung und Skandalisierung ein notwendiger erster Schritt. Die Aktivistinnen griffen dabei vor allem auf Erfahrungen ihres Frauseins zurück, um einen gemeinsamen politischen Kampf zu ermöglichen. Dazu musste allerdings definiert werden, was authentisches «Frausein» jenseits der patriarchalen Zurichtung eigentlich sein sollte. Somit wurde neben dem öffentlichen Aktivismus ein starker Fokus auf die Selbstfindung als Frauen in ihrer Differenz zu Männern gesetzt.

Im Zuge erster Erfolge in Gesetzgebung und staatlicher Anerkennung institutionalisierte sich die anfangs autonom organisierte Frauenbewegung in den 1980er Jahren zunehmend, etwa in öffentlich geförderten Frauenzentren oder Gleichstellungsreferaten. Mit der Zeit wurde jedoch auch die Kritik an dieser Form des Feminismus stärker, die im Kern zwei Aspekte beinhaltet: Auf der einen Seite würden nur Frauen mit bestimmter sozialer Positionierung adressiert und zum Beispiel Frauen in prekären ökonomischen Verhältnissen oder ohne deutschen Pass aus dem Blick geraten. Hinzu kommt der Vorwurf einer zu einfachen Vorstellung von Macht und Herrschaft: Neben den Opfer/Täter-Dualismus tritt die Idee der Verstricktheit aller in gesellschaftliche Machtstrukturen, durch die auch Frauen Diskriminierungsformen verinnerlicht hätten. Mit dieser Kritik eng verknüpft ist die Etablierung der Queer Theory und die damit einhergehende Problematisierung der Kategorie «Frau». Die Theorie kritisiert die Annahme der binären Geschlechter «Mann» und «Frau», da diese Kategorien die Differenzen innerhalb der Geschlechter sowie auch in Hinblick auf zum Beispiel Rassifizierungen oder Klassenlage ignoriert. Das Beharren auf einer starren Definition von «Frau» ermöglicht zwar eine Solidarisierung unter Frauen, legt damit aber neue Ausschlüsse nahe. Diese Grundannahmen der Queer Theory sickerten nun im Laufe der 1990er Jahre zunehmend in eine politische Praxis ein und begründeten Queerfeminismen, die einen starken Fokus auf die Bedeutung von Sprache, Pluralität von Identitäten, Mehrfachdiskriminierungen und Definitionsmacht legen.

Gemeinsame Kämpfe mit verschiedenen Vorzeichen

Die Entwicklungslinien zeigen: Sowohl Radikal- als auch Queerfeminismus betonen die gesellschaftliche Dimension von Gewalt, aber unter unterschiedlichen Vorzeichen. Die radikalfeministische Tradition als Patriarchatskritik tendiert eher zu einer Kritik an (cis-)Männern, die gesellschaftliche Strukturen zu ihrem Vorteil einrichten. Nach dieser Lesart ist es nur folgerichtig von einem Opfer/Täter-Dualismus im Kontext von Vergewaltigung auszugehen, eine Benennung, die zu ihrem spezifischen historischen Zeitpunkt notwendig und strategisch sinnvoll war. Queerfeministisch inspirierte Ansätze hingegen betonen die Eingebundenheit aller in Herrschaftsstrukturen und machen entsprechend die Bedeutung von sprachlicher und praktischer Selbstbestimmung Betroffener stark. Genau dieser Unterschied spiegelt sich im Streit um den Begriff der Erlebenden wider. Während Radikalfeministinnen im Begriff Opfer eine Solidarisierung mit Frauen sehen, kritisiert Sanyal diesen, da er zeigt, dass auch nicht-Männer sexistische Rollenbilder reproduzieren können.

Ohne Frage sind die Enttabuisierung und auch öffentliche Benennung von sexualisierter Gewalt nach wie vor nötig und möglichst kollektive politische Kampfbegriffe sinnvoll. Andererseits ist eine Erweiterung des traditionellen feministischen Ansatzes im Hinblick auf andere Diskriminierungsformen wie etwa Trans*feindlichkeit oder Rassismus und deren Überschneidungen unbedingt notwendig.

Offenere Bündnispolitik

Radikalfeministische Ansätze könnten durch eine selbstkritische Betrachtung der eigenen Kategorien (wie zum Beispiel des Begriffs Frau) bereichert werden. Damit würden Unterschiede in den eigenen Reihen sichtbar gemacht und diskriminierende Strukturen in der eigenen Denkweise überdacht werden. Die Reflexion sprachlicher Kategorien ist dabei kein reiner Selbstzweck, sondern ermöglicht eine offenere Bündnis­politik: Frauen und Frauen* verbinden schließlich hinsichtlich Gewalt- und Vergewaltigungserfahrungen gleiche Erlebnisse und gemeinsame Interessen. Gleichzeitig muss ein queer beeinflusster Feminismus anerkennen, dass allein Sprachregelungen noch keine institutionell abgesicherten Veränderungen bewirken kann und ein Schwerpunkt auf individuelle Selbstbestimmung unter Umständen zu einer Aufsplitterung der politischen Organisation führt. In der Praxis könnte das heißen, dass man von dem einen Kampfbegriff für die Subjekte des Widerstands oder für die Sichtbarmachung von Gewalt besser absehen sollte, sich aber andererseits strategisch und in laufender Diskussion auf Begriffe und vor allem auf gemeinsame Ziele verständigen kann, um eine Atomisierung in der Auseinandersetzung für gemeinsame Interessen zu vermeiden.

Solch ein Ziel könnte sein, die gesellschaftlich verankerte Vergewaltigungskultur zu verändern, in der Frauen* und Frauen als dauerhaft verfügbare Objekte dargestellt und Vergewaltigungen so gesellschaftlich akzeptabel gemacht werden. Eine queerfeministische Kritik am tendenziell essentialistischen Opferbegriff und ein Bestehen auf Selbstbestimmung und gegenseitige Anerkennung ist in diesem Kampf allerdings nicht nur moralisch nett, sondern auch politisch geboten, sofern ein Bündnis zwischen «altem» und «neuem» Feminismus wirksam sein und langfristig Bestand haben möchte.