Ich bin ein weißer, heterosexueller Mann Ende 50. Ich kann mich nicht bewegen, brauche deshalb immer einen Menschen, der mir assistiert, und ohne die Hilfe einer Maschine könnte ich nicht einmal atmen. Das liegt an einer fortschreitenden Muskelerkrankung. Die ist erblich. Seit meiner Zeugung weist jede Zelle einen Gendefekt auf, der eine spinale Muskelatrophie in Form des Kugelberg-Welander-Syndroms hervorbringt. Das also ist der Teil der Behinderung, der als nicht gesellschaftlich determiniert gelten kann. Wobei das Wort «Gendefekt» auch schon eine Wertung darstellt. Bemerkt wurde die Krankheit, als ich mich im Alter von etwa anderthalb Jahren nicht wie andere Babys hochzog und begann, durch die Gegend zu wackeln. Seitdem bin ich behindert; seitdem greifen Konstrukte und Konstruktionen (wie Rollstuhl oder Atemgerät), die mich anders leben lassen als die meisten Leute.

Wer nicht verwertbar war, wurde interniert

Auch wenn das Wort «Behinderung» in seiner jetzigen Bedeutung erst vor etwa 40 Jahren in den alltäglichen Sprachgebrauch Eingang fand, begann hierzulande bereits vor 200 Jahren mit der Industrialisierung ihre Konstruktion.

Die Massenproduktion von Gütern mittels Maschinen veränderte die Grundlagen des Zusammenlebens radikal. Bisher lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung in Familienverbänden, die auch die Waren produzierten. Die Sippschaft stellte das soziale Netz dar. Die Sorgearbeit für Kinder, Kranke, Alte, Schwache und im heutigen Sinne Behinderte wurde innerhalb der Großfamilie und gegebenenfalls der Nachbarschaft geleistet. Dieses Netz löste sich mit dem Arbeitsmarkt und der Notwendigkeit zur Lohnarbeit auf. Es gab immer mehr Elende. Die evangelischen Kirchen brachten 1848 das Diakonische Werk hervor und legten damit die Grundlage der öffentlichen Fürsorge und des Sozialstaates.

Am Rande der Städte entstanden umgeben von Mauern Einrichtungen, Hospitäler, Zucht- und Rettungshäuser für «Arbeitsscheue, «Trinker», «gefallene Mädchen», «Blinde», «Geistesschwache», «Krüppel», «Waisen» usw. Wer nicht verwertbar war, wurde interniert und solange diszipliniert, bis er oder sie in die neuen Vorgaben passte.

Leistungsschwach und genussunfähig

Diejenigen, die körperlich oder mental nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, bedurften der dauerhaften Fürsorge. Sie hatten lebenslänglich. Um ihre Abhängigkeit herum entwickelte sich sehr bald ein eigener Verwertungszusammenhang. Sie waren das Material für die Legitimation der Kirchen in einer sich rasant entwickelnden Säkularisierung; sie schufen Arbeitsplätze und Sinngebung, brachten Spenden und letztlich Sozialleistungen ein. Nur sie selbst hatten kaum mehr davon, als ein Dach über dem Kopf und ein zumeist fades Essen. Dafür wurden sie umfassend ihrer Bürger*innenrechte beraubt. Familiengründung, Erwerbsleben, Karriere – Begrifflichkeiten, die auf sie nicht zutrafen. Bis heute ist das die Wirklichkeit einer immer noch erheblichen Anzahl behinderter Menschen.

Schon durch die Struktur der Hilfeerbringung ist diese Gruppe deutlich abgegrenzt von den Nichtbehinderten, die sich ihrer Normalität immer neu versichern müssen, denn in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft gibt es kaum etwas Schlimmeres, als leistungsschwach und genussunfähig zu sein.

Die Diakonie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war getragen vom Neupietismus – einer besonders frommen und strikten (wir würden sagen: fundamentalistischen) Form des Protestantismus. Sexualität wurde nicht nur in einem kleinbürgerlich prüden Sinne verstanden, sondern auch als besonders schreckliche Form der Verderbnis. Die Insass*innen und auch die Mitarbeiter*innen der Einrichtungen waren einem sexualfeindlichen Regime unterworfen.

Hinzu kamen die medizinischen Konstrukte. Die Genetik legte es nahe, kranke und auffällige Individuen von der Fortpflanzung auszuschließen, letztlich unheilbar Kranke und permanent Hilfsbedürftige zu töten. Worte wie «Erbbiologie», «Volksgesundheit» und «Euthanasie» fanden Eingang in die Sozialpolitik.

Begehren, Leidenschaft und Zärtlichkeit lassen sich nicht einfordern

Ob wir es nun mit multipler Sklerose zur Ministerpräsidentin geschafft haben oder mit einer Trisomie 21 in einer Wohnungseinrichtung untergebracht sind, uns eint das Stigma, erotisch und sozial unattraktiv zu sein.

Seit den 1960ern gibt es eine emanzipatorische Behindertenbewegung. Hier entstand der Begriff der Inklusion. Neben einer umfassenden Barrierefreiheit wurde eine politische Grundhaltung gefordert, welche das Sosein eines Individuums als Bereicherung auffasst, anstatt es als Abweichung zu lesen.

Mit der Un-Behindertenrechtskonvention hat es der Begriff Inklusion in die Politik geschafft. Man ist bemüht, uns bei der Aufzählung der Diversity Groups nicht zu vergessen. Es gibt nun sowohl eine gebräuchliche Abkürzung (MmB) bei den Behörden als auch einen Ismus (Ableismus) im emanzipatorischen Milieu. Der Korrektheit ist also Genüge getan.

«Wir Betroffenen sind uns da einig: An der Bettkante hört die Inklusion auf. Und das sagt, weit über die Bettkante hinaus, etwas über die tatsächliche Zuschreibung von Wert und Gleichheit aus.»

Doch ist das alles nicht auch eine Art Ablass? Wir Betroffenen sind uns da einig: An der Bettkante hört die Inklusion auf. Und das sagt, weit über die Bettkante hinaus, etwas über die tatsächliche Zuschreibung von Wert und Gleichheit aus.

Begehren, Leidenschaft und Zärtlichkeit lassen sich nicht einfordern wie eine Rampe am S-Bahnhof. Zudem ist unser Begehren – also das der Behinderten – nicht von dem üblichen zu unterscheiden. Wir fahren auf dieselben Körper ab wie alle: also nicht auf unsere.

Die Demokratisierung der Lust

Vor 50 Jahren begannen Aktivist*innen der Behindertenbewegung öffentlich von sich als sexuellen Subjekten zu sprechen. Mittlerweile geschieht das im Netz in großer Breite. Dieses Sprechen hat so etwas wie eine Demokratisierung der Lust mit bewirkt. Das Thema lässt sich nicht mehr wegschieben.

Sexualität ist ein Privileg. Wer mehr Macht hat, hat meist mehr Sex. Behinderten Menschen wurde strukturell sämtliche Macht über sich selbst, geschweige denn über andere, genommen. Bei den emanzipatorischen Bewegungen ging die Befreiung von Zwängen, Ungerechtigkeit, Rollen und Zuschreibungen immer auch mit einer Befreiung der Sexualität einher. Sexualität wird mehr und mehr als Menschen- und Persönlichkeitsrecht betrachtet.

So ist es nur folgerichtig, dass auch Menschen mit schwersten Behinderungen dieses Recht auf Sexualität erschlossen wird. Für Betreuende und Einrichtungen ist es nicht mehr besonders außergewöhnlich, über entsprechende Möglichkeiten nachzudenken. Dazu gehören Konzepte zur Schaffung von Privatheit und Intimräumen. Noch immer ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ein*e Bewohner*in einer Einrichtung das Zimmer von innen verschließen kann, nicht einmal, dass das Personal vor Eintritt anklopft und wartet, bis es hereingebeten wird. Und es ist mittlerweile auch möglich, dass sich Paare finden, zusammen leben und sogar Kinder haben können. Gegenüber der sexualfeindlichen Grundhaltung der Träger von Einrichtungen vor 50 Jahren ist das ein großer Fortschritt – zumeist jedoch noch nicht hinreichend in der Lebenswelt der Heimbewohner*innen, sondern nur auf dem Konzeptpapier.

Die Rolle der Sexarbeit

Seit der Jahrtausendwende findet sich die Idee der Sexualbegleitung oder -assistenz. Vor etwa 25 Jahren wurden die ersten Angebote geschaffen, die als Sexualbegleitung bezeichnet wurden. Sexualbegleiter*innen boten Körperkontakt und Berührungen an und hatten Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen. Es gab ausdrücklich keinen wie auch immer gearteten Verkehr. Das hat sich jedoch geändert.

Ich halte Sexualbegleitung für problematisch, denn sie eröffnet einen neuen abgesonderten Bereich extra für behinderte Menschen und verstärkt so die Zuschreibung des Andersseins. Allein die Begrifflichkeit impliziert Hilfsbedürftigkeit und entsprechendes (pädagogisches) Handeln.

Seit 17 Jahren bin ich als Sexualberater bei der Initiative Sexybilities – Sexualität und Behinderung tätig und gehöre zu ihren Begründer*innen. Wir – behinderte Männer und Frauen – begannen, eine Sexualberatung nach dem Peer-Counseling-Prinzip (Betroffene beraten Betroffene) aufzubauen und organisierten Clubabende, Lesungen, Ausstellungen und Partys.

Bei den Beratungen gab ich meine Erfahrungen zu barrierefreien Bordellen und offen eingestellten Sexarbeiter*innen weiter und wir suchten das Gespräch mit der «Branche». Mittlerweile gehört es zur Normalität, dass Sexarbeiter*innen auf ihren Homepages und Setcards angeben, wenn sie behinderte Kund*innen bedienen, und Bordelle ihre Barrierefreiheit bewerben. Ich konnte auch problematisch erscheinende Anfragen immer an Prostituierte weiterleiten, die mit etwas Briefing meinerseits in der Lage waren, die Kund*innen zufriedenzustellen. Es waren demente Männer dabei; Menschen mit ausgeprägtem Autismus; eine Frau, die allmählich aus dem Wachkoma kam; und ein Jugendlicher, der wusste, dass er nur noch ein Vierteljahr zu leben hatte. Es reichten eine offene respektvolle Haltung und ein lustbetonter Zugang zum eigenen und zum Körper des Gegenübers.

Sexybilities blickt auf Sexarbeit aus Sicht der Inklusion. Es gibt dieses Angebot und deshalb muss es auch von behinderten Menschen wahrgenommen (und übrigens auch gemacht) werden können. Eines aber kann die Nutzung erotischer Dienste – sei es Sexualbegleitung oder die «normale» Prostitution – nicht leisten: Die Erfüllung der Wünsche nach Nähe, nach Partnerschaft und Beziehung. Es stellt eben lediglich Sex auf Absprache gegen ein Honorar für eine bestimmte Zeit dar. Diejenigen, die das Bedürfnis behinderter Menschen nach Sexualität zwar anerkennen, sich aber als mögliche Adresse des Begehrens heraushalten wollen, sind allzu schnell dabei, das als Lösung des Problems zu feiern.

So kommen wir nie aus dem Getto!