Vier Uhr nachts in einem Diner in Royal Oak, Detroit. Graue Plastiksitze, Cola mit Eis. »Sag mal was«, sage ich und mache die Kamera an. »Was denn?« fragt Peter. »Egal, irgendwas.« »When you are smart and cool, you will probably be depressed and won't have a lot of friends in this city.« »Danke«, sage ich.
Was ist das eigentlich hier, fragte ich mich später, auf dem Weg zum Flughafen. Was ist das für eine Stadt, die offenkundig so viele unglückliche Menschen produziert, dass ich eine ganze Sammlung von Videos mit nach Hause nehme, in denen die Menschen ihr Unglück ausdrücken. Und Warnungen.
»Don't come to Detroit.« hat mein Sporttrainer mir als Abschiedsgruß mitgegeben: »Don't come to Detroit, whoever might see this.« Ich für meinen Teil haue ab. Aber die Frage, was das da bloß war, dieses diffuse Unglück, das offenbar nicht nur mich betroffen hat, sondern das sich dort quer durch soziale Schichten, race-Zuordnung und alle anderen Kategorien zieht, diese Frage geht mir nicht aus dem Kopf.
Ein Rückblick.
27. Juli
Noch habe ich wenig zu tun. Der Plan ist, Deutschunterricht zu geben und einen PhD zu machen. Erstmal eine gute Idee, aber seitdem ich in Detroit angekommen bin, erscheint mir der Plan schon nicht mehr so gut. Die Uni hat noch nicht angefangen, ich nutze die Zeit, um die Umgebung zu erkunden. Ohne Auto quasi unmöglich. Also bleibe ich zwangsläufig in Royal Oak und seinen Wohnsiedlungen, in diesem amerikanischen Bilderbuch-Vorort. Papphäuser mit Flaggen im front yard, Hundegebell aus dem backyard und Parks, die ihren Namen nicht verdienen. Die Verfilmung von The Virgin Suicides und all die anderen amerikanischen Suburb-Filme kommen mir in den Kopf. Ich suche nach Räumen, in denen sich Menschen treffen, aber der einzige Treffpunkt, den ich finden kann, sind Supermärkte, und die Gespräche dort stellen mich nicht zufrieden. Meine Frage nach öffentlichen Verkehrsmitteln, die mich downtown bringen könnten, ruft hämisches Grinsen hervor. Erst später wird mir klar, wieso. 1956 wurden Schnellstraßen von 66000 Kilometern Länge aus der Erde gestampft. Für Detroit bedeutete das ein Zerschneiden urbaner Nachbarschaftsstrukturen, was häufig als Grund für den Verfall der Stadt angeführt wird. Es geht das etwas verschwörungstheoretische Gerücht um, GM habe ein Jahr zuvor bereits die Straßenbahn demontieren lassen. Wie auch immer: seitdem fährt man Auto.
Schließlich finde ich doch noch jemanden, der mir – wenn auch nicht ohne Warnung vor der Hautfarbe der anderen Passagiere – sagen kann, wo die Busse abfahren. Ich nehme mir vor auszusteigen, sobald es nett aussieht. Der Bus fährt an Woodward Avenue entlang, einer sechsspurigen Straße, die sich einmal quer durch Detroit zieht, gesäumt von riesigen Werbetafeln, die auf Stahlträgern in den Himmel ragen, Tankstellen und Seven Elevens, zerfallenen Häusern mit eingeschlagenen Fenstern in Downtown-Umgebung und einigen Restaurants und Karaoke-Bars in den Vororten. Schließlich fahre ich bis zur Endstation und steige aus. Auf der anderen Straßenseite steige ich wieder ein und fahre zurück nach Royal Oak. Finden das andere Menschen eigentlich hier auch so hässlich? Und: Wieso bin ich eigentlich erleichtert, dass ich nicht erschossen wurde – von all den gefährlichen Leuten in den Bussen? Ich schäme mich.
01. August
Ich bin jetzt Autobesitzerin. Am ersten Morgen nach dem Kauf habe ich erschreckt auf die Straße geguckt und gesehen, dass ich damit noch ein Stück mehr Royal Oak geworden bin. Auto vor Haus neben backyard. Ich muss mich von nun an offensichtlich ein bisschen selber verachten. Immerhin hilft mir das Auto, die Stadt kennen zu lernen. Mein persönliches Mindmap trennt Detroit in vier Teile: Es gibt die weißen Vororte, es gibt den Campus, es gibt das aufpolierte Prestige- und Fassaden-Downtown und dann gibt es nur wenige Querstraßen vom Prestige-Downtown entfernt das wirkliche Downtown, das, wo Menschen wohnen, zum allergrößten Teil Schwarze. Die soziale Schere schneidet ziemlich exakt an der Race-Grenze entlang. Eine Kommilitonin von mir erzählt, dass es mittlerweile wieder einige wenige Kaufhäuser downtown gibt. Ich finde die Vorstellung absurd, dass es hier irgendwo keine Supermärkte oder Kaufhäuser geben könnte. Aber offensichtlich ist das der Fall: 1983 schloss J. L. Hudsons seinen Downtown Store und Detroit wurde zur größten Stadt der USA ohne Kaufhaus. Verrückt. Aber gegen die vollklimatisierten, mit dem Auto schnell erreichbaren und mit ausreichend Parkplätzen versehenen Shopping Malls der Vororte kamen die Kaufhäuser Downtowns nicht an. In Downtown wohnten zu der Zeit bereits zu über 80 Prozent Schwarze, nach den Race Riots 1967 sind die Weißen in die Vororte gezogen. Man sagt, Detroit sei noch immer die »most segregated city in the United States.« Aus den Autofensterscheiben heraus schaue ich mir Woodward Avenue an und fühle mich wie im Theater. Als hätte da jemand Kulissen aufgebaut, um mit einem Vorschlaghammer die Auswirkungen aufzuzeigen, die Kapitalismus und Rassismus auf eine Stadt haben können. Mit subtilen Botschaften gibt sich Detroit nicht zufrieden.
01. September
Ein Freund von mir ist zu Besuch. An einem Samstagabend fahren wir nach Downtown, in das Prestige-Downtown, das mit dem Renaissance Center, bestehend aus vier Bürotürmen, gebaut 1977 mit dem Ziel, die schrumpfende Stadt und insbesondere das Zentrum wiederzubeleben, das seit der Ölkrise und den race riots wirtschaftlich schwer angeschlagen ist. Die Anzahl der Arbeitsplätze sank seit den 1970ern stetig: von 750000 auf die Hälfte im Jahr 2000. Auch hier wieder: Als würde uns die Stadt mit aller Kraft auf etwas aufmerksam machen wollen, zieht vor unseren Augen eine Einschienenbahn auf hohen Stehlen einsam ihre Runden – der so genannte people mover, ein ebenfalls gescheitertes Projekt, die Stadt wiederzubeleben. Verewigt übrigens in der Simpsons-Folge Marge vs. the Monorail. Der people mover bewegt sich weiter im Kreis, wir begeben uns auf die Suche nach einer Kneipe. Aber wir finden keine, die Straßen sind leer. Keiner da, um uns zu erschießen. Die Menschen fahren tagsüber dorthin, um zu arbeiten, und fahren abends wieder weg.
Auch das ist Teil dessen, was mir Unbehagen bereitet: Alle Orte haben hier ihre ganz spezifische Funktion. Das Renaissance Center downtown ist zum Arbeiten da, eine Straße zum Befahren, nicht zum Entlanggehen. Innenstädte gibt es nicht, keine Orte, wo man ein paar Plakate, Ankündigungen, kulturelle Lebenszeichen im weitesten Sinne entdecken könnte. Oder überhaupt Dinge entdecken könnte, einfach so, weil der Blick zufällig dort hinschweift. Die Wege zum Supermarkt, in die Kneipe, ins Museum sind tot. Es gibt nur den Startpunkt und den Zielpunkt. Dazwischen nichts. Und die Wege sind lang. Ein Leben auf Schienen, hermetisch abgeschlossen durch Autoscheiben.
24. September
Ich besuche eine Kommilitonin von mir, die auf dem Campus wohnt. Eher ungewöhnlich für Detroit, denn die Uni ist ein so genanntes Commuter College. Die meisten Studierenden wohnen nicht auf dem Campus, sondern kommen auf langen Anfahrtswegen mit dem Auto, was dafür sorgt, dass der Campus ähnlich tot ist wie Downtown. Es gibt genau ein Café in Reichweite: Starbucks. Die wenigen, die hier leben, haben meistens kein Auto und verlassen den Campus nicht. Campus und Downtown grenzen unmittelbar aneinander, aber die unsichtbare Linie wird nicht durchbrochen (»mein Mann hat mir verboten, die Straße zu überqueren«, hat eine meiner Kolleginnen zu mir gesagt, »und er hat ja Recht.« - was soll man da noch sagen?). Die Campus-Housing-BewohnerInnen sitzen auf Plateaus zwischen den 20 Etagen der Hochhauswohnhäuser auf Fitnessrädern. Meine Kommilitonin sagt, dass sie nur ungern auf dem Rad strampelt, sondern lieber die Wand des fensterlosen und klitzekleinen Wohnzimmers anstarrt. Immerhin grinst sie dabei. Bierflaschen stapeln sich neben dem Fernseher, was nicht schlimm wäre, wenn sie es nicht besorgt kommentieren würde. Ich verspreche, sie einmal mit dem Auto abzuholen und mit ihr in ein Kino in einem der Vororte zu gehen. Ihre Augen leuchten. Zu mehr Freizeitaktivitäten bleibt keine Zeit. Im Kopf hämmern die zu erledigenden Credit-Points, ein Wort übrigens, das ich gerne abschaffen würde. Wir trinken gemeinsam einen Kaffee bei Starbucks, dann setze ich mich ins Auto und fahre zurück. Das mit der Hässlichkeit scheint mir hier ein dringendes Problem zu sein, denke ich. Aber: Was ist das, das diese Stadt in meinen Augen so hässlich macht? Ich glaube nicht, dass es die rauchenden Gullis sind, nicht die eingeworfenen Fensterscheiben von zerfallenen Häusern, nicht die vielen Autos und Autobahnen, auf denen mein Navigationssystem immer wieder durchdreht, weil ich wieder eine falsche Abfahrt genommen habe, manchmal in so kurzen Abständen, dass die Stimme nicht dazu kommt, das Wort zu Ende zu sprechen: re-re-recalculating. All das könnte man fast als morbiden Charme bezeichnen, und dann hätte es irgendwie noch Stil. Aber da ist etwas, was mich strikt davon abhält, das als stilvoll zu bezeichnen. Nur was?
Ich stelle Detroit vor die Wahl. Entweder die Stadt fängt an, mit ein paar schönen Orten rauszurücken und dieses Gefühl der Isolation und Vereinzelung aufzuweichen, oder ich bin schneller wieder weg, als Detroit gucken kann. Ich frage mich, ob ich nicht ein bisschen selber schuld bin und mache eine kleine unwissenschaftliche Feldforschungsstudie. Die ergibt, dass die meisten Leute hier Detroit an erste Stelle setzen würden, wenn sie gefragt würden, warum sie unglücklich sind. An zweiter Stelle würde erst so etwas wie »selbst schuld« kommen. Peter sagt, dass er an Detroit – er nennt immer nur Downtown Detroit Detroit – dass er also an Detroit mag, dass es kein Ort ist für Leute, die sich gerne vormachen, dass das Leben in Ordnung ist.
Den Mythos American Dream scheint es in dieser Stadt zerschlagen zu haben. Wobei Detroit als Identifikationsfläche lebt, irgendwie beflügelt Detroit doch die Phantasie – in welcher Form auch immer: »Die Musik ist genauso wie Detroit – ein kompletter Fehler«, sagt Derrick May, Mitbegründer des Detroit Techno über eben diese Musik: »Es ist, als wenn man George Clinton und Kraftwerk in einen Fahrstuhl mit einem Sequenzer einsperrt, um sie gesellig zu halten.«
Immerhin. Trotzdem erwächst daraus nicht wirklich revolutionäres Potential. Oder doch?
29. Oktober
Ich habe Sorge, dass ich antiamerikanisch werde, wenn ich länger hier bleibe. Ein Freund von mir hat zu Recht darauf verwiesen, dass das mit dem Nation-Culture Shock konstruierte Scheiße ist, und dass mir Hinterzarten auch auf die Nerven gehen würde. Stimmt. Aber ich will ja nicht in Hinterzarten leben. Nur eben auch nicht in Detroit.
01. November
Seitdem ich beschlossen habe, mich nach dem Semester zu verpissen, sehne ich noch mehr eine Revolution herbei, auch damit die Leute nicht mehr die ganze Zeit arbeiten oder studieren müssen, sondern mit mir DVD gucken können. Ich würde übrigens auch für so etwas wie Schönheit revoltieren. Ich glaube, dass eine Vorstellung davon, was Schönheit sein kann, bei einer Revolution helfen könnte. Wobei Schönheit in dem Fall vielleicht so etwas wie das Aufscheinen einer Ahnung von einem lebenswerten Leben ist. Was wir also brauchen: Zeit, soziale Vernetzung und Schönheit.
Vielleicht hätte die Stadt dann Charme. Und, da ich gerade so viel gedankliche Energie in eine Detroiter Revolution stecke: Liegt mir die Stadt am Ende doch am Herzen?
01. Dezember
Auf dem Weg zum Flughafen frage ich mich, ob ich nicht ungerecht war. Schließlich gibt es ein Wandgemälde von Diego Rivera im Detroit Institute of Arts. Und eine schwullesbische Kneipe in Ferndale. Vielleicht ist ungerecht nicht das richtige Wort. Ich meine eher: Habe ich etwas übersehen? Garantiert, denke ich. Und ärgere mich, dass ich nicht mehr gesucht habe. Wonach auch immer. In einem Artikel über Detroit als shrinking city fragt Kyong Park: »Do shrinking cities give a greater dominance to capitalism worldwide, or are they the places where post-capitalist economic models would form?« Ich frage Peter, was er dazu meint. Er denkt lange nach, bevor er antwortet: Ich als Ghetto Artist zum Beispiel kann mir in Downtown ein riesiges Loft zu einem Spottpreis leisten. Und kulturell, sagt er, ist Detroit natürlich ein Desaster, aber eben auch interessant gerade deshalb, weil es keine Kultur gibt. Es gibt nicht diese Konkurrenzkämpfe wie in anderen Städten, was dazu führt, dass du als KünstlerIn wachsen kannst, wie du wachsen willst, ohne mit aller Kraft um Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen. Detroit also als eine Art Reset? Oder als Widerspiegelung von Rissen im System? Als Ort neuer Formen von Freiheit? Peter schüttelt den Kopf: Vielleicht. Aber – ganz ehrlich – wenn die Sonne nicht durchkommt, dann bewegt sich hier alles jenseits des Depressiven.
Wir fahren am Museum of Comtemporary Art vorbei. »Everything is gonna be alright« steht da in Leuchtschrift über dem Eingang. Ich frage mich, wie das gemeint ist, während ich ins Flugzeug steige und darüber nachdenke, wo und wie ich leben will. Nicht so leicht, die Frage. Gar nicht leicht.