Perestroika
Der Begriff Perestroika (Russisch: Umbau, Umgestaltung) bezeichnet den wirtschaftlichen Reformprozess in der Sowjetunion, der ab Mitte der 1980er Jahre die schrittweise Öffnung der sozialistischen Planwirtschaft einleitete. Begleitet wurde die Perestroika von der Abschaffung der Zensur und der Einführung von Presse- und Meinungsfreiheit unter dem Schlagwort Glasnost (Offenheit). Sowohl die wirtschaftlichen als auch der politischen Reformen stießen in der Bevölkerung auf eine große Erwartungshaltung, die bitter enttäuscht wurde. So gelang es der KPdSU unter Präsident Michail Gorbatschow weder, die Produktivität der maroden Fabriken zu steigern, noch, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern zu gewährleisten. Das Scheitern der Reformen führte schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion.
Artjom Magun: 20 Jahre liegen zwischen uns und den Ereignissen der Perestroika. Historisch gesehen ist das eine ziemlich lange Zeit. Das Spezifische solcher historischen Ereignisse liegt darin, dass sie ihre eigene Bedeutung nicht in sich tragen. Vielmehr bestimmt sich diese Bedeutung »ex post«, das heißt rückwirkend aus dem weiteren Verlauf der Geschichte. Und während die Perestroika langsam in der historischen Vergangenheit verblasst, sind ihre zerstörerischen und katastrophalen Auswirkungen (die während der Perestroika nur von den Rückwärtsgewandten betont wurden) durchaus noch gegenwärtig. Ich denke, wir beide stimmen bei der Beurteilung der aktuellen Lage in Russland grundsätzlich überein. Unsere Differenzen treten erst beim Thema Perestroika zutage: Ich vertrete die Ansicht, dass es sich dabei um eine Revolution handelte, während Sie die Perestroika in Ihrem wegweisenden Buch (Boris Kagarlitzky: Restoration in Russia: Why Capitalism Failed, 1995) als Restauration charakterisieren. Dabei legen Sie großes Gewicht darauf, den breiteren historischen Kontext zu berücksichtigen – sowohl die innere Geschichte der Oktober-Revolution, die durch die Perestroika beendet wurde, als auch die Geschichte Russlands als »Imperium der Peripherie«, dessen historisches Erbe durch die Sowjetunion in ihrer Spätphase fortgeführt wurde.
Nichtsdestotrotz wäre auch die rein externe Perspektive auf das Geschehene ungenügend: Ein solches Ereignis ist imstande, die mit ihm verknüpfte Subjektivität auf alle Zeit festzuschreiben. Das Subjekt erfährt im Folgenden eine Reihe von Veränderungen, aber es bleibt das selbe Subjekt. In unserem Fall – dem des post-sowjetischen Russland – handelt es sich dabei um die Bürger_innen der Russischen Föderation, die dem Sowjet-Kommunismus die Treue verweigerten und deren Hoffnungen auf westlichen Wohlstand enttäuscht wurden. Die Perestroika bewirkte zwar eine Subjektivierung, die die Menschen für kurze Zeit politisch aktivierte und mobilisierte. Anschließend blieben sie jedoch sowohl mit der Lust auf Freiheit zurück als auch mit Verachtung für Ideologie, mit einem Hang zu Zynismus und entfremdet von ihren Mitmenschen. Subjektivität ist ein bedeutsamer Faktor in der Politik: Sie ist das ergänzende Gegenstück aller sozioökonomischen Veränderungen. Eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft kann folgerichtig nur auf einer revolutionären Subjektivität der Massen errichtet werden, auf ihrem Willen, sich selbst zu regieren.
Die Implosion politischer Identifikation
Meine These, nach der die Perestroika und ihre Nachwirkungen revolutionär waren, habe ich an anderer Stelle im Detail entwickelt. Alle Indikatoren deuten in diese Richtung: In den 1990er Jahren gab es eine (durch die Eliten in Gang gesetzte) beträchtliche demokratische Mobilisierung, in deren Folge die Opposition die Macht ergriff und einen existierenden Staat abbaute und letztlich zerstörte.
Noch wesentlicher: Eine sozioökonomische Struktur wurde zerstört und radikal verändert. Die Beziehungen zwischen den Menschen wandelten sich: Sie wurden Konkurrenten_innen und viele Leute traten in gegenseitige Ausbeutungsverhältnisse ein. Der Staat verlor seine Funktion der paternalistischen Umverteilung des Reichtums, wodurch die materielle Ungleichheit anstieg. Wie es in revolutionären Zeiten der Fall ist, nahm das Ausmaß sozialer Mobilität deutlich zu: Manche Leute legten atemberaubende Karrieren hin und machten binnen kurzem ein Vermögen. Es gab nicht die Spur eines ideologischen Konsenses, so dass in den Massenmedien gegensätzliche Ideen und Meinungen aufeinander prallten. Den politischen Kommentar beherrschte ein zynischer, ironischer und extrem obrigkeitskritischer Stil, so dass die Gesellschaft sehr viel »offener« war als in den westlichen »Demokratien«. Aber nicht weniger wichtig – und vielleicht sogar viel wesentlicher – war die Veränderung auf der subjektiven Ebene, die Implosion politischer Identifikation. Zunächst hatte sie durchaus emanzipatorischen Charakter: Sie richtete sich gegen den Dogmatismus und die politische Theologie des Spätsozialismus. In den 1990er Jahren jedoch wich dies der politischen Apathie, einer ablehnenden Haltung gegenüber Politik und führte zur Ansicht, dass jegliche öffentliche Aktivität politischer Betrug sei. Mir scheint, dass diese Situation, hervorgerufen durch die Ernüchterung und Frustration des »revolutionären« Subjekts, ein eigenartiges psycho-ideologisches Nachspiel der Perestroika-Revolution war. Auch wenn es ein destruktiver und kein zukunftsorientierter, utopischer Prozess war, ist die Charakterisierung als Revolution richtig.
Die Perestroika und ihre Nachwirkungen erinnern in vieler Hinsicht an die Französische Revolution. In beiden Fällen versammelte eine neu aufgeklärte Intelligenzija, bewaffnet mit einer Mischung aus Experten-Rationalismus und idealistischem Utopismus (»die Herrschaft des Gesetzes« und »universelle Menschenrechte«), das Volk hinter sich und erreichte eine erstaunliche Einheit unter den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Nach dem Sieg der Revolution jedoch brach diese Einheit sehr schnell zusammen und die Konfrontation innerhalb des Dritten Standes rückte in den Vordergrund. Der Thermidor hatte schon 1794 triumphiert: Er verwarf den revolutionären Idealismus zugunsten der egoistischen Klassendiktatur der Großbourgeoisie.
Ich bin mir jedoch auch Ihrer Position bewusst. Sie sehen die Perestroika als Kulminationspunkt eines historischen Zyklus, der 1917 begann und dessen Ursprünge wiederum bis 1789 zurückreichen. Die Perestroika markiert die Niederlage des linken Projekts und die defätistische Übernahme des alten, liberalen Gesellschaftsmodells und seiner Ideologie. In der Tat fielen jene Ereignisse mit einer Welle des Konservatismus im Westen selbst zusammen (Thatcher, Reagan, Papst Johannes Paul II.). Diese Welle bediente sich der Perestroika, um linke Kräfte und Ideen zu zerstören und um die Hegemonie des liberalen Konservatismus zu errichten. Ich wiederhole jedoch: Diese Makro-Sicht berücksichtigt nicht die innere, subjektive Bedeutsamkeit der Perestroika und der Revolutionen in Ost-Europa. Diese waren eindeutig viel zu emanzipatorisch, um als Restauration bezeichnet werden zu können: Sie waren begleitet durch einen weitverbreiteten utopischen Enthusiasmus, der zugegebenermaßen nur kurz anhielt.
Und in Russland selbst bewirkten sie das Entstehen der chaotischen, anarchischen Gesellschaft der 1990er Jahre. Zur »Restauration für sich« wurden sie erst unter Putin. Darüber hinaus richtete sich die Restauration auch gegen die Perestroika als Revolution und nicht nur gegen die internationale sozialistische Bewegung. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde die Rhetorik des Regimes offen konservativ und restaurativ. Dies war in den 15 Jahren zuvor anders. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung aus heutiger Perspektive – mehr als zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Restoration in Russia? Wie hängen revolutionäre und restaurative Elemente in der Geschichte der Perestroika und der 1990er Jahre zusammen?
Es gibt nur einen Weg aus der Sackgasse – rückwärts
Boris Kagarlitzky: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass die objektive Bedeutung eines Prozesses wichtiger ist als die subjektiven Erfahrungen der Teilnehmenden. Ich würde Ihnen durchaus zustimmen, dass die Frage, warum die Massen sich ihrer Rolle in diesen Prozessen nicht bewusst sind und die Folgen ihrer eigenen Handlungen nicht erfassen können, durchaus lohnenswert sein kann. Denn das übliche Gerede von Manipulation erklärt gar nichts: Es ermöglicht höchstens, sich um eine Diskussion des Problems zu drücken. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Täuschung der Massen oder die Selbsttäuschung niemals etwas mit Emanzipation zu tun haben. Ganz im Gegenteil: Sie sind das genaue Gegenteil von Emanzipation. Falls das, was wir hier beobachten, den Übergang von dem einen Modell der Kontrolle (äußerlich, auf Zwang basierend) zu einem anderen Modell (innerlich, auf Manipulation basierend) bedeutet, kommen wir vom Regen in die Traufe. Der Anschein äußerer Freiheit wird durch die effektive Unterdrückung innerer Freiheit erreicht. Es wäre falsch zu behaupten, dieses Phänomen hafte der bürgerlichen Demokratie notwendig an. In bestimmten Phasen ihrer Entwicklung ist sie auf die bewusste (obgleich begrenzte) Mitwirkung der Massen angewiesen. Sie basiert auf einem bewussten Klassenkompromiss, in unserem Fall jedoch ist – egal, von welcher Seite aus betrachtet – von bewusster Klassenpolitik nichts zu sehen.
Weshalb aber wurden die Massen getäuscht? Oder weshalb ließen sie sich täuschen? Am Ende ist es gar nicht so wichtig, welches von beidem der Fall war: Wir diskutieren die Beweggründe der Getäuschten, nicht die moralische Verantwortung derjenigen, die die Täuschung vollführten. Wie ich andernorts geschrieben habe, waren die Ereignisse von 1989-1992 ein unvermeidbarer Prozess. Er war objektiv reaktionär, aber zur gleichen Zeit historisch notwendig, auch aus Sicht des zukünftigen Fortschritts. Es gibt nur einen Weg aus einer Sackgasse – rückwärts. Diese Rückwärtsbewegung ist absolut notwendig, wenn man vorwärts kommen möchte. Trotzdem ist sie zunächst rückwärtsgewandt – regressiv und reaktionär.
Die sowjetische Gesellschaft befand sich in einer historischen Sackgasse, aus der es keinen progressiven Ausweg gab. Ich spreche hier nicht von theoretischen Modellen, die wir – als schöne Utopien – zu jedem Zeitpunkt anfertigen können (wir selbst entwarfen damals voller Enthusiasmus solche Modelle). Vielmehr geht es mir um durchführbare politische Entscheidungen, die von breiter Unterstützung, Ressourcen und objektiven, »externen« Bedingungen getragen werden.
Die einzige derartige Möglichkeit war die Restauration des Kapitalismus. Mehr noch: Diese Restauration musste synchron mit den allgemeinen weltweiten Trends der globalen Entwicklung verlaufen – also Neoliberalismus, Abwicklung der Errungenschaften der Arbeiterbewegung im Westen, Kollaps und Wiedergeburt der nationalen Befreiungsbewegungen in der so genannten Dritten Welt und die völlige moralische Kapitulation der Sozialdemokratie. Die Perestroika war ein organischer und sehr zentraler Bestandteil dieses Prozesses. Sie gab ihm einen neuen Impuls und ermöglichte den Triumph des Kapitals in nie dagewesenem Ausmaß. Zu diesem Triumph des Kapitals kam es außerdem in einer Epoche, in der sich die fortschrittliche Rolle des Bürgertums völlig erschöpft hatte. Im Viktorianischen Zeitalter hatte das Bürgertum einen realen zivilisatorischen Auftrag (ob man das mag oder nicht). Marx hat dies nüchtern betrachtet. Solch eine zivilisatorische Mission gibt es heutzutage nicht.
Das revolutionäre Potenzial der Perestroika?
Sie vertreten, wie auch Alexander Shubin in seinem Buch Betrogene Demokratie, die Sichtweise, dass die Bewegung der Perestroika ein revolutionäres Potenzial enthielt, welches im Folgenden von den alten und neuen Eliten zerstört wurde. Dabei machten die objektiven historischen Umstände und das soziokulturelle Kräfteverhältnis in Russland ein solches Resultat von vornherein unausweichlich. In den Jahren 1988-89 mögen wir das nicht verstanden haben. Ich habe es 1990 erkannt. Das ändert jedoch nichts an der Lage der Dinge, sondern lediglich unsere Bewertung der eigenen Rolle.
Zu diesem Zeitpunkt wurde mir auch die Ausweglosigkeit des marxistischen politischen Kampfes unter den gegebenen Umständen klar. Wir konnten uns nicht gegen einen Prozess stellen, der objektiv notwendig war (auch für den zukünftigen Erfolg unserer eigenen Sache). Aber genauso wenig konnten wir ihn unterstützen, da er objektiv reaktionär war: Er hatte kurzfristig katastrophale Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung. Uns blieb nur, an zwei Fronten gleichzeitig zu kämpfen sowie die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Geschehens in einer Situation zu erklären, in der das 1988/89 gelockerte Ausmaß von Kontrolle wieder massiv zunahm. In den Jahren 1990 bis 1994 standen die Massenmedien unter ungleich stärkerer Kontrolle als es heute der Fall ist. Die Liberalen filterten streng jedes Wort, das über den Äther ging. Wir konnten nicht einmal davon träumen, dass in den seriösen Massenmedien über uns berichtet wurde. In dieser Hinsicht ist das Putin-Regime weitaus liberaler als das Jelzin-Regime.
Bei Revolutionen kommt es typischerweise dazu, dass die Eliten einen Prozess anstoßen, über den sie dann die Kontrolle verlieren. Neue Kräfte treten auf den Plan und ergreifen, unterstützt von den Massen, die Initiative. Bezeichnenderweise beklagt der eben genannte Shubin genau das Ergreifen der Initiative seitens der Eliten gegenüber den Massen. In anderen Worten: Es geschah etwas, das in einer Revolution nicht passiert oder ihr geradezu entgegengesetzt ist. Stellen Sie sich vor, dass etwas Derartiges im Frankreich oder England des 18.Jahrhunderts geschehen wäre. Anstatt Cromwell oder Robespierre hätten wir einen Dynastie-Wechsel gehabt, gefolgt von dem Versuch, die durch den Absolutismus zerstörte feudale Ordnung wieder herzustellen. Würden wir dies (auch mit der Beteiligung der Massen in der Frühphase) eine Revolution nennen? Natürlich nicht - das fiele niemandem ein.
Die Rückwärtsbewegung überdeterminierte die Verwirrung, die für die späten 1980er und frühen 1990er Jahre typisch war – Rechte wurden »links« genannt und umgekehrt. Aber die Bedeutung dessen, was geschah, ist recht simpel. Liberale kämpften dafür, die reaktionäre und rückwärtsgewandte Bewegung (die »Rückkehr in den Mainstream der Geschichte«) abzusichern, während wir darum kämpften, bei der ersten Gelegenheit eine Umkehr zu ermöglichen und wieder vorwärts zu kommen. Dieser Kampf hält bis heute an, nur die Lage hat sich verändert. Das Kräfteverhältnis ist anders.
Natürlich sucht sich jeder Mensch seinen Platz in dieser Konfrontation. Die Intelligenzija unterstützte die Liberalen in deren reaktionärer Mission, nahm so eine ideologisch anti-demokratische Position ein und unterschrieb ihr eigenes Todesurteil: Sie verwarf die Tradition der Narodniki (»Volksfreunde« – sozialrevolutionäre Bewegung im Russland des 19. Jhdt. Anm. d. Ü.) und hörte auf, Intelligenzija zu sein.
Artjom Magun: In Ihrer »Althusserianischen« Lesart der Perestroika zeigt sich für mich die distanzierte Perspektive des Experten. Sie stellen dem spontanen politischen Kampf von Menschen, die sich in einer unvorhersehbaren Situation mit offenem Ausgang wiederfinden, eine lineare Vorstellung von Geschichte gegenüber (»vorwärtsgewandt«, »rückwärtsgewandt«), und in dieser Vorstellung steckt eine satte Portion von historischem Determinismus. Was mir da fehlt, ist ein Sinn für die Offenheit der Geschichte und für die Aufgabe, freie Institutionen auf jener sozioökonomischen Grundlage zu schaffen, welche in einem Moment gegeben ist.
Boris Kagarlitzky: Ganz im Gegenteil: Ich vertrete, dass Linke die kapitalistische Restauration hätten bekämpfen sollen, und dies im Bewusstsein (oder auch ohne dieses), dass der Kampf von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Als Teilnehmer an diesem Ereignis habe ich genau in dieser Weise gehandelt. 1991 war mir klar geworden, dass der Widerstand gescheitert war – auch wenn es Momente gab, in denen es so aussah, als hätten wir eine Chance. Auf der anderen Seite geht es bei diesem Kampf nicht um den heutigen Sieg, sondern um den morgigen. Das ist normal: Wir müssen häufig einen Kampf aufnehmen, von vornherein wissend, dass wir ihn nicht gewinnen können.