1) Solange die Linke die Menschen mit dem Tod alleine lässt, kann sie niemals hegemonial werden. Dabei kommt es nicht darauf an, Antworten parat zu haben, sondern überhaupt etwas dazu zu sagen zu haben und zu erkennen, dass es um ein essentiell wichtiges Thema geht.
2) »Heißt nicht vom Tod sprechen zu fragen – wie leben wir eigentlich?« (Zeitschrift Alternative, Nr. 136, Linke und Tod). Die Bedingungen des Sterbens sind politische und soziale. Der Tod ist nicht gerecht, nur weil er alle trifft. Tod und Sterben sind untrennbar mit den Lebensbedingungen verknüpft.
3) »Ohne die Vorstellung eines fessellosen, vom Tod befreiten Lebens kann der Gedanke der Utopie nicht gedacht werden« (Theodor W. Adorno, Möglichkeiten der Utopie heute). Das Denken über die Abschaffung des Todes ist Voraussetzung für eine sich befreiende Gesellschaft. Die Überwindung des Todes als metaphysische und medizinisch-technische Aufgabe verändert das Konzept Leben. »Der Mensch würde den Tod primär als technische Grenze seiner Freiheit erfahren und deren Überwindung würde als anerkanntes Ziel individueller wie gesellschaftlicher Anstrengungen gelten« (Herbert Marcuse, Die Ideologie des Todes). Zugleich stellt sich der Tod als die »härteste Gegenutopie« (Ernst Bloch) dar. Nochmals Marcuse: »Einvernehmen mit dem Tod ist Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott.« Der Versuch, sich vorzustellen, wie die Überwindung des Todes wohl aussehen mag, scheitert. Die Aufhebung des Todes ist wie alles andere Fern-Zukünftige nur als Negation denkbar, also beim Betrachten der gegenwärtigen Todesbezüge als ein »so nicht!«
4) Der Tod ist die größte Angst des Menschen. Das Projekt der Aufklärung ist, von den Menschen die Angst zu nehmen (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung). Der Faschismus meint die Angst abzuschaffen, in dem er das Leiden umbringt, anstatt es zu lindern. Eine freie Gesellschaft dagegen hebt das Leiden und die Angst und damit den Tod auf.
5) Den Tod im philosophischen Sinn zu überwinden, ist nur als Prozess des ständigen Versuchens und Scheiterns denkbar, denn die vielen mit dem freiwilligen und unfreiwilligen Tod und Sterben von Menschen verbundenen Widersprüche werden nicht mit einem Streich verschwinden. Auch eine freie Gesellschaft, die nie ist sondern immer nur wird, kann ungelebte Leben hervorbringen, und auch dort mag das endgültige Verschwinden geliebter Menschen schmerzhaft sein. Denn sie wäre keine freie Gesellschaft, würde sie ersetzbare, unindividuelle Menschen hervorbringen. Und sie wäre keine, gäbe es in ihr Melancholieverbote.
6) Im Hier und Jetzt kann mensch am Tod nur scheitern. Ihn technisch zu überwinden, ist wahrscheinlich unmöglich. Doch selbst ein Erfolg in diesem Punkt wäre ein Scheitern, denn erst durch den Tod werden sich die Menschen ihrer Individualität bewusst (Jean-Paul Sartre). Daran, dass jemand einmal weg sein wird und unersetzbar ist, erkennen wir seine Einzigartigkeit. Nur weil das Leben endlich ist, sind Liebe und Leidenschaft möglich. Denn der Tod ist das Ende der Lebenszeit. Dies ist nur so lange ein Problem, wie wir keine Zeit haben, das zu tun was wir wirklich tun wollen, weil wir tun müssen, was Herrschaftssysteme von uns verlangen. Verfügen wir frei über unsere Zeit, brauchen wir auch keine Ewigkeit mehr.
7) Der Tod muss befreit werden – und genau das ist gegenwärtig unmöglich. Das Kapitalverhältnis steht einem freien Nachdenken über und einem freien Umgang mit dem Tod im Weg. Ein fundamental anderes Verhältnis zum Tod wäre eines, in dem der Tod nichts Schreckliches mehr wäre, weil er nicht das Ende zu vieler ungelebter Möglichkeiten wäre. Angesichts dessen könnte das Sterben, wenn nicht bedeutungslos, so doch angenommen werden als Zugeständnis an die Natur, an das Somatische. Der Tod wäre dann als ein Teil des Lebens ins Leben zurückgeholt. Wäre das Leben befreit, (erst dann) könnte auch der Tod befreit sein. Das bedeutet, dass jede emanzipatorische Auseinandersetzung mit Sterben und Tod sich auf eine utopische Gesellschaft beziehen muss. Jeder Versuch im Jetzt ist nur als Schritt auf diesem utopischen Weg denkbar. Auf dass dereinst »der Tod uns lebendig findet und das Leben uns nicht tot.« (Zeitschrift Alternative)
8) Den Tod überwinden oder befreien – vielleicht läuft das letztlich auf das Gleiche hinaus …?
9) Die heutigen Diskussionen um »lebenswertes« Leben teilen ihre Grundlage mit dem nationalsozialistischen Denken: das identifizierende, bürgerliche Bewusstsein, das Menschen auf ihre Verwertbarkeit hin unterteilt und alles (vermeintlich) Andersartige als Bedrohung wahrnimmt. Die Unterscheidung von »wertem« und »unwertem« Leben ist auch in den heutigen Todesdiskussionen, etwa um Sterbehilfe, Patient_innenverfügung, Organspende aber auch Pränataldiagnostik etc. präsent. Der faschistische Horizont dieser Diskussionen ist den meisten nicht gegenwärtig, muss aber stets mit bedacht und thematisiert werden.
10) Die moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Todesverdrängung. Der Tod ist das letzte große Tabu. Er wird hinausgezögert, in Krankenhäuser und Hospize verbannt, von ihm wird nicht gesprochen. Leichen gelten als unheimlich, Kinder werden von jeder Konfrontation ferngehalten, Trauerzeiten, Trauerkleidung, Trauerrituale gibt es kaum mehr. Unsere Städte sehen aus, als würde niemand darin sterben. (Philipp Ariés)
11) »Statt Kränzen bitten wir, den/die Tote_n während seines/ihres Lebens besser behandelt zu haben.« (Postkartenspruch). Um Sterbehilfe und Patient_innenverfügung kreist eine große gesellschaftliche Debatte, in die wir uns einmischen müssen. Dabei muss eine linke Position die Widersprüchlichkeit des Todesthemas in der kapitalistischen Gesellschaft reflektieren. Das bedeutet, weder von einem »freien Willen« im Wunsch zu sterben auszugehen, noch die Todesvergessenheit im Leben um jeden »Preis« zu verfechten. Wie freiwillig ist der Tod in einer Welt, in der »der Normalzustand schon die Hölle ist« (Thomas Ebermann bzw. Herbert Marcuse)? Was ist ein »würdiger Tod«, was wäre das Recht eines Sterbenden auf seinen Tod gegen das Recht eines (Tod)kranken auf sein Leben? Wer soll das entscheiden? Einerseits sind sich fast alle einig, dass das Dahinvegetieren im Halbkoma, angeschlossen an Schläuche und Geräte, kein schöner Zustand ist. Andererseits ist klar, dass »die Medizin« in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht nach Rentabilitäts-Kriterien darüber entscheiden darf, wann die lebenserhaltenden Instrumente abgeschaltet werden.
12) »Worauf es jetzt ankäme, wäre Trauerarbeit zu leisten.« (Bini Adamczak, Warum mir das Ausbleiben der Revolution auf den Magen schlägt)
Die Linke hat kein ausgeprägtes, bewusst entwickeltes, reflektiertes Verhältnis zu »ihren« Toten. Weder kennen wir eine eigene Trauerkultur, noch setzen wir uns mit dem Scheitern der linken Versuche in der Geschichte und den vielen Toten, die dieses Scheitern gekostet hat, auseinander. Es ist aber wichtig, im Kopf zu behalten, dass die Geschichte der Befreiung von Herrschaft unsere Geschichte ist. Wir sind dabei manchmal Opfer und Täter zugleich, die Ihresgleichen an die Wand stellen oder selbst dort stehen. Eine Trauer um unsere Toten und unsere gescheiterten Versuche, die kein Märtyrerkult ist, gehört zu einem reflektierten Kampf um den nächsten Versuch.
13) »Wenn ein Genosse (...) neben mir stirbt, stirbt er unter den Bedingungen, die auch mich bedrohen.« (Zeitschrift Alternative)
Selbsttötung ist der maximal scheiternde größte Widerspruch gegen eine menschenverachtende Welt. Sie ist als freie Entscheidung Zeichen unserer Unfreiheit, wie sie das Elend der bürgerlichen Subjekte und das Leiden daran offenlegt. Selbsttötung ist Scheitern an diesem Leben. Wir müssen Suizid vorbeugen, so wie wir ihn in seinem Vollzug respektieren müssen, denn: »Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.« (Juli Zeh, Corpus Delicti)
14) Seit einigen Jahren gibt es auch in Deutschland wieder ältere Genoss_innen, für die das Lebensende näher rückt. Die Linke ist nicht mehr vorwiegend Jugendbewegung. Aber wir haben keine soziale Praxis im Umgang mit Tod, Sterben und Trauer. Dabei geht es nicht nur um Alte. Auch jüngere Genoss_innen haben Krebs oder andere schwere Krankheiten und sind mit dem Tod bedroht. Anders als die schwule Community, die in der AIDS-Epidemie einen eigenen Umgang mit Tod und Sterben entwickelte (und auch musste, da sie als von Familien und Gesellschaft Ausgestoßene nur sich selbst hatte), verfügen wir nicht über einen ähnlich kollektiven und offenen Umgang mit dem Sterben unserer Alten und Kranken sowie mit der Trauer der Hinterbliebenen. Wir leben, als würde niemand sterben. Es ist nötig, eine Auseinandersetzung darüber zu führen, wie wir das Sterben unserer Genoss_innen begleiten, wie wir uns verabschieden, um sie trauern und uns an sie erinnern. Die, die ihr Leben dem Kampf für eine bessere Welt gewidmet haben, sollten auch als solche sterben und erinnert werden und nicht schlimmstenfalls in den Schoß einer verachteten Gesellschaft und ihrer Institutionen heimgeholt werden. Eine Anarchistin, die sich von ihrer Familie emanzipiert und die Religion verlassen hat, hat im von den Verwandten ausgesuchten Sarg auf dem Dorffriedhof des Heimatkaffs nichts verloren.
15) Die Kritik am herrschenden Sterbe- und Todesdiskurs und der Versuch eines anderen Umgangs mit dem Tod als Teil einer emanzipatorischen Praxis gehören zusammen. Ein insgesamt zutiefst widersprüchlicher Versuch, der immer an die Bedingungen der herrschenden Gesellschaft gebunden bleibt – bis zur Revolution – und stets Gefahr läuft, Teil des herrschenden Diskurses zu werden. Ein linksradikales Todesritual müsste noch im Ritual ein Aufstand gegen die Gesellschaft sein.
16) Der Tod ist vom Scheitern nicht zu trennen. Scheitern tut eine Linke allerdings auch an sich selbst, wenn sie sich der essentiellen Thematik des Todes nicht stellt, und zwar auf allen Ebenen.