Sie waren durchgehend als «Streng Geheim» klassifiziert: Aus 2000 unveröffentlichten Archivmaterialien konnte ich Informationen zum Antisemitismus und Neonazismus in der DDR entnehmen. Im Wesentlichen stammen sie aus den Archiven des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR (BStU) und aus dem Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde.

Die strenge Geheimhaltung hatte die Funktion, den inneren Zusammenhalt, der für die politischen und für die Sicherheit zuständigen Institutionen zu gewährleisten, bei gleichzeitiger und immer wiederkehrender Betonung eines feindlichen Einflusses aus dem Westen. Damit konnte die SED die neonazistische Gefahr verdrängen und bis zur Unkenntlichkeit minimieren. Diese aus einem autoritären Herrschaftsverständnis geborene Praxis des Wegsehens und Verleugnens führte zur Fehleinschätzung, dass eine Gefahr nicht existiert, wo sie nicht sichtbar ist. Das war eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass es zum Antisemitismus und Neonazismus in der DDR kein politisches oder historisches Bewusstsein in der Bevölkerung gab.

Tausende neonazistischer Vorfälle

Die empirische Basis bilden über 9000 neonazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewaltstraftaten: Attacken auf Wohnheime, tätliche Gewalt auf der Straße, Pöbeleien, Schmierereien und das Rufen nazistischer Parolen. Die Anzahl neonazistischer Vorfälle zwischen 1949 und 1990 liegt bei 7000, und 725 Vorfälle betreffen manifesten Rassismus. 900 Straftaten sind antisemitischer Natur, wovon etwa 145 Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gräber betreffen.

Rassistische Angriffe auf Wohnheime gab es in der DDR ab 1975 und sie sind auch ein Ausdruck besonderer, spezifischer Aggression gegen Ausländer*innen. Für die DDR sind knapp 40 Angriffe auf Ausländer*innen-Wohnheime belegt, in der BRD ist in diesem Zeitraum keine Reihung alltäglicher, pogromartiger Angriffe belegt. Diese Angriffe endeten in der DDR (mit der Auflösung des Staates) am 26. August 1990, als ein Wohnheim für Mosambikaner*innen in Trebbin (Bezirk Potsdam) von etwa 30 Rassist*innen angegriffen wurde. Insofern muss auch die Aussage korrigiert werden, dass die Angriffe auf Wohnheime für Ausländer*innen in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) die ersten Pogrome in Deutschland nach dem II. Weltkrieg gewesen wären.

Dann gab es insgesamt über 200 gewalttätige, pogromartige Angriffe, bei denen tausende Personen aus über 30 Ländern verletzt und mindestens 10 Personen zum Teil in Lynchjustiz getötet wurden. Die Angriffe wurden in den allermeisten Fällen von jüngeren Männern durchgeführt und fanden in vielen verschiedenen Städten und Gemeinden der DDR statt. Das erste rassistische Pogrom in Deutschland nach 1945 geschah im August 1975 in Erfurt, nachdem dort zum ersten Mal Arbeiter*innen aus Algerien eingetroffen waren. Zwischen dem 10. und 15. August 1975 war es zu pogromartigen Angriffen gekommen. Nachdem es zuerst zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Deutschen, Ungarn und Algeriern gekommen war, wurde danach ein Dutzend Algerier*innen von einem rassistischen Mob von etwa 300 Deutschen durch die Stadt Erfurt gejagt. Vom MfS (Ministerium für Staatssicherheit) und Vpka (Volkspolizei-Kreisämter) wurden insgesamt 31 Ermittlungsverfahren und neun Ordnungsstrafverfahren eingeleitet und 57 Personen vorläufig festgenommen.

Wer waren die DDR-Neonazis?

Anfang 1989 gab es in den Bezirken der DDR insgesamt über 1100 Skinheads und 1100 neonazistische Heavy Metal-Fans. Zum Vergleich: Nach Schätzungen der Sicherheitsbehörden der BRD, gab es dort offiziell «rund 2 000 Skinheads», wobei nur jeder zweite Neonazi gewesen sein soll. Der Erhebungshintergrund der Zahlen ist unterschiedlich, doch vergleicht man diese offiziell erhobenen Angaben mit denen aus der DDR, so zeigt sich, dass es Ende der 1980er Jahre in der DDR, relativ gesehen, drei- bis viermal mehr Skinheads, inklusive der neonazistischen Heavy Metal-Anhänger*innen, gegeben hat als in der BRD. Diese grundlegende Einsicht in die Kräfteverhältnisse lässt sich entlang der nach 1990 registrierten rechten Propaganda- und Gewaltstraftaten im vereinten Deutschland, im Vergleich der östlichen Bundesländer mit den westlichen Bundesländern, immer noch feststellen.

Bei der Anzahl der Skinheads bildeten die Bezirke Berlin und Potsdam die Spitze der Entwicklung. Detaillierte Einsichten in die Nazi-Szene hatten die DDR-Behörden nur sehr bedingt. Skinheads in der DDR hatten, wie es hieß, «Verbindungen und Kontakte» zwischen den Bezirken, jedoch war es dem MfS nicht möglich «Hauptorganisatoren» der überörtlichen Treffen zu «personifizieren». Als Basis der Kontakte galt die Hooligan-Szene, viele Skinheads waren im Fußballanhang der Oberligaklubs verankert. Vorwiegend bei Disko- und Fußballveranstaltungen kam es zu «rowdyhaften Ausschreitungen und neofaschistischen Äußerungen».

«Die rechten Jugend­lichen wurden als ‹negativ-dekadente Jugendliche› bzw. als ‹Rowdys oder Asoziale› bezeichnet, die sich in Schulen, in der Armee, in Betrieben, in den Fußballstadien­ und auf Straßen und Plätzen antisemitisch und neonazistisch äußerten.»

Die rechten Jugendlichen wurden als «negativ-dekadente Jugendliche» bzw. als «Rowdys oder Asoziale» bezeichnet, die sich in Schulen, in der Armee, in Betrieben, in den Fußballstadien und auf Straßen und Plätzen antisemitisch und neonazistisch äußerten. Es gab eine große Anzahl von Antisemit*innen und Rassist*innen, die nicht diesen Gruppen zugehörig waren, die man allerdings als Sympathisant*innen ansehen kann. Bei den rassistischen Pogromen und den pogromartigen Auseinandersetzungen mit Ausländer*innen oder mit der Volkspolizei, an denen jeweils mehrere hundert Personen teilnahmen, beteiligten sich auch unorganisierte Rechte nicht nur mit antisemitischen und neonazistischen Parolen, sondern sie waren auch an gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv beteiligt.

Dass es in der DDR ein ernstes Problem gab, wurde gegen Ende des Bestehens auch durch demoskopische Erhebungen bestätigt. In einer «Operativstudie» des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung (Zij) vom Dezember 1988 waren Antworten zu politisch-historischen Einstellungen dergestalt, dass die Wissenschaftler*innen nahelegten, ernsthaft darüber nachzudenken. Die Ergebnisse der Untersuchung, bei der über 1900 15- bis 30-Jährige befragt wurden, war sogar eher noch «positiv verzerrt», aufgrund eines zu hohen Anteils von SED-Mitgliedern bei den Studierenden, Arbeiter*innen und Angestellten. Es gab deutliche Anzeichen für deutschtümelnde und nationalistische Überheblichkeiten und bei einem nicht unerheblichen Teil der Befragten mussten «größere Erkenntnisdefizite in Bezug auf Wesen und Funktion des Faschismus und der Rolle Hitlers» konstatiert werden. Der Behauptung, die «Deutschen waren schon immer die Größten in der Geschichte» stimmten insgesamt 11 Prozent der Befragten zu; Lehrlinge stimmten mit 15 Prozent zu. Zwei Prozent der Jugendlichen bekannten sich zu den Skinheads und vier Prozent waren Sympathisant*innen, das heißt mehrere zehntausend DDR-Jugendliche orientierten sich, mehr oder weniger, an dieser Neonazi-Szene. 30 Prozent bewerteten rechte Aktivitäten als «gut».

Bedauerlicherweise wurde das Ergebnis der Wissenschaftler*innen des Zij nie Gegenstand einer öffentlichen Diskussion, denn die Umfrageergebnisse wurden als «Geheime Verschlußsache» ausschließlich den Mitgliedern des Politbüros der SED zugänglich gemacht. Insgesamt bezifferte die AG Skinhead der DDR-Kriminalpolizei das rechte Milieu auf mehr als 15000 Personen.

Entpolitisierte Strafverfolgung und «Rückführungen»

Weit verbreitete Haken­kreuz- oder SS-Runen-­Schmierereien, die Pogrome und pogromartigen gewalttätigen Angriffe auf Arbeiter*innen aus «befreundeten» Ländern wie Kuba, Algerien, Mosambik oder Vietnam, wurden durch die Volkspolizei, die Geheimpolizei und durch die Justiz in einige wenige unpolitische Paragraphen des Strafgesetzbuchs gezwängt, und in der Regel damit ihres brisanten, politischen Kerns beraubt.

«In der politischen Ordnung der DDR, die von einer autoritär gelenkten Diktatur der SED geprägt war, reagierte die Regierung in vielen Fällen mit Rechtsbeugung, einer Umkehrung der Opfer-Täter-Verhältnisse.»

In der politischen Ordnung der DDR, die von einer autoritär gelenkten Diktatur der SED geprägt war, reagierte die Regierung in vielen Fällen mit Rechtsbeugung, einer Umkehrung der Opfer-Täter-Verhältnisse. Eine besondere Form stellten die massenhaften Rückführungen von ausländischen Arbeiter*innen dar, die wegen Beteiligungen an gewalttätigen Auseinandersetzungen (auch wenn sie ihnen von Nazis aufgezwungen wurden) oder auch wegen Streiks für bessere Arbeitsbedingungen zwangsweise aus der DDR ausgewiesen wurden. So wurden 1985 insgesamt 646 «Rückführungen» nach Kuba «aus den unterschiedlichsten Gründen» durchgeführt, in den ersten sieben Monaten vom 1. Januar 1986 bis zum 31. Juli 1986 waren es bereits 547.

Neonazis während 1989

Neonazis, Skinheads und Hooligans waren ab 1989 Bestandteile der Bewegung gegen die SED-Herrschaft. Sie waren in den Auseinandersetzungen im Herbst 1989 durch entsprechende Nazi-Propaganda oder durch die Bereitschaft zum militanten Kampf gegen die Sicherheitsorgane zu erkennen. Einige Beispiele: Am 4. Oktober 1989 griffen Neonazis bei der Schlacht um den Hauptbahnhof in Dresden die Volkspolizei mit Steinen und Brandbomben an und zerstörten mit Brandbomben einen Funkstreifenwagen der VP. Am 7. Oktober 1989 wurde in Plauen (Bezirk Karl-Marx-Stadt/Chemnitz) der Hitlergruß gezeigt. Am selben Tag grölten zwei Arbeiter in Köthen-Großwülknitz (Bezirk Halle) «Setzt die roten Schweine ab» und «Schlagt die Roten tot». Am 31. Oktober 1989 demonstrierten in Wolfen bei Bitterfeld (Bezirk Halle) Tausende für ein Ende der Herrschaft der SED und dabei wurden unter anderem Transparente mitgeführt, auf denen gefordert wurde: «Deutschland den Deutschen – Schwarze raus aus der DDR». Im selben Zeitraum wurde in Halle «Ausländer raus» gerufen und an einem Wohnheim in Rathenow (Bezirk Potsdam) wurde «Tod den Negern» an Wände geschmiert. Nachdem die DDR in die BRD eingegliedert wurde, gingen die ostdeutschen Rechten in westdeutschen Parteien, Gruppen und sonstigen Organisationen auf.

Verdrängen und Verleugnen

Neonazismus in der DDR passte nicht in eine politische Landschaft, in der Faschismus und Rassismus mit Stumpf und Stiel als ausgerottet galten. Aber neonazistische Ideologie ist nicht nur, was beispielsweise in Schulbüchern oder über die offizielle staatliche Kommunikationspolitik als solche bezeichnet wurde. Bei der handelte es sich um eine verkürzte antifaschistische Erzählung, die nazistische Überzeugungen in der Bevölkerung nicht thematisiert und somit eine dem Erbe der Nazizeit entstammende faschistoide Grundströmung nicht erkennen konnte. In einer gesellschaftlichen Situation wie der ab den 1970er Jahren, in der erstmals außereuropäische Arbeiter*innen in die DDR kamen, ist das zum Problem geworden.

«Neonazismus in der DDR passte nicht in eine politische Landschaft, in der Faschismus und Rassismus mit Stumpf und Stiel als ausgerottet galten.»

Das Syndrom des verleugnenden Verdrängens der Verbrechen und des Erbes der Nazis betrifft die kollektive Bewusstseinslage der Deutschen nach 1945 sowohl in der DDR als auch in der BRD. Das deutsche ideologische Syndrom aus Nationalismus und Rassismus bzw. Antisemitismus ist nach 1945 nicht verschwunden. Seine unveränderten Achsen wurden (von Adorno) aufgezeigt: Aus «völkisch» wurde «ethnisch», aus «Rasse» wurde «Kultur» und aus Antisemit*innen wurden Antizionist*innen oder Philosemit*innen. Nicht nur Antisemitismus sondern auch Nationalismus und Rassismus durften öffentlich nicht stattfinden, wucherten aber sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene der Alltagskultur wie auch in der Form eines institutionalisierten Rassismus fort.

Und es gab in der offiziellen Deutung weltpolitischer Vorgänge ein bedenkliches offizielles Erzählmuster, das darauf hinauslief, die Massenmorde der Nazis zu verharmlosen und ein Bild von Israel zu zeichnen, das gleich oder gar schlimmer als Nazideutschland wäre. ­­So ordnete Albert Norden, der im Politbüro der SED für Propaganda zuständig war, in einer der wöchentlichen «Argumentations-Sitzungen» mit der DDR-Presse am 9.6.1976 an, Vergleiche zwischen den militärischen Aktionen der israelischen Armee mit dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion zu ziehen.

Kontinuität nach 89

Seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat sich die politische Landschaft in Deutschland nach rechts entwickelt und nationalistische, rassistische und antisemitische Einstellungen haben in der Bevölkerung Mehrheiten gefunden. Das Amalgam aus antisemitischen und antizionistischen Ressentiments hat längst auch in der Mitte der Gesellschaft Einzug gehalten. Nach einer Umfrage der EU-Kommission (2003) sahen 65 Prozent der Deutschen in Israel eine «Gefahr für den Weltfrieden». Nach einer Umfrage der Bbc von 2007 haben 77 Prozent der Deutschen eine ablehnende Einstellung zu Israel, in Europa ist das die höchste Prozentzahl und eine Mehrheit der Deutschen glaubt, Israel stelle die größte Gefahr für die Weltsicherheit dar. Und in der Erhebung Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit der Uni Bielefeld gaben über 40 Prozent der Befragten an, ihrer Meinung nach sei das, was die Israel*innen mit Palästinenser*innen machen, prinzipiell das gleiche wie das, was die Nazis mit den Jüdinnen und Juden gemacht hätten. Über 57 Prozent der Befragten waren der Ansicht, Israel führe einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser*innen.

Laut Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz haben seit den 1990ern mehrere hunderttausend rechte Propaganda- und Gewaltstraftaten stattgefunden, und nach meinen Recherchen gab es in diesem Zeitraum über 250 Tote und tausende Verletzte.

Der Anteil der Täter*innen aus den fünf neuen Ländern im Osten ist, gemessen an der Zahl der Einwohner*innen, überproportional, im Verhältnis 3:1. Zugleich liegt dort der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung mit etwa zwei Prozent weit unter dem Bundesdurchschnitt von rund neun Prozent. Übrigens: In der DDR lag der Anteil der Ausländer*innen an der Bevölkerung lediglich bei einem Prozent.