Der besagte Sommer 2015 war daher schon viel widersprüchlicher, als er manchen erscheinen mochte. Einerseits die Ambivalenz der sogenannten «Willkommenskultur», in der einige Menschen einen Prozess der Politisierung durchlaufen haben, aber gleichzeitig als Lückenbüßer*innen eingesprungen sind, wo die staatlichen Versorgungsleistungen willentlich versagt haben. Auf der anderen Seite konnte man die rassistischen Mobilisierungen und ihre schleichende Institutionalisierung verfolgen. Diese Entwicklungen haben viele Fragen aufgeworfen und gefestigte Vorstellungen von linker Politik ins Wanken gebracht.

Neben der Frage, wie den reaktionären Tendenzen begegnet werden kann, hat die spektren- und milieuübergreifende Zusammenarbeit mit Geflüchteten und Unterstützer*innengruppen auf produktive Weise neue Anforderungen an die politische Praxis gestellt. Zuallererst ist davon die längst überwunden geglaubte, sich darum aber nicht weniger hartnäckig haltende Politik der Repräsentation, betroffen. Demgegenüber hat sich gezeigt, dass die Verankerung der politischen Auseinandersetzungen im Alltag eine Bedingung dafür ist, den neuen politischen Zusammenschlüssen gerecht zu werden und erst dadurch «‹postmigrantische› Gemeinschaften» (ak 609) denkbar und praktisch erfahrbar werden. Im Folgenden wollen wir unsere Erfahrungen aus Tübingen beschreiben und einige Überlegungen anstellen, was wir für eine zukünftige linke Politik daraus ziehen.

Tübingen für alle? Neue soziale Bündnisse statt ritualisierte Bündnispolitik

Die rassistischen Äußerungen des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer Ende 2015 haben die schwäbische Provinz wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Von Tagesthemen bis Spiegel stößt Palmer mit seiner rechtspopulistischen Hetze nicht nur bei AfD und Pegida auf offene Ohren, seine öffentlichkeitswirksame Strategie geht (fast) immer auf. Er fordert Verschärfungen der europäischen Grenz- und Asylpolitik («bewaffnete Grenzen»), schürt irrationale Ängste indem er von «grünen Professoren» erzählt, die sich angesichts der «in 200 Meter Entfernung wohnenden 60 arabischen Männern» um ihre «blonden Töchter» sorgten, bedient rassistische Ressentiments gegen Geflüchtete und unterscheidet zwischen «Bürgern» und «Nicht-Bürgern», in «Staatsvolk» und in «eine Gruppe, die dem Staatsvolk nicht angehört».

«Kurz: Alle bewährten Methoden ­linker Bündnispolitik wurden ­aufgefahren, ohne sich überhaupt nach der Zweckmäßigkeit solcher Formen in Bezug auf ein konkretes politisches Ziel zu verständigen.»

Aus diesem Anlass fand sich ein breites Bündnis von antifaschistischen und linksradikalen Gruppen zusammen, zu denen wir uns als Teil der interventionistischen Linken (Il) dazu zählen: von der Linkspartei bis hin zu Wohnprojekten und – zu Beginn wenigen – Geflüchteten, die von Palmers Rhetorik und seiner praktischen Politik des «Wir-schaffen-das-nicht» direkt betroffen waren. Für Tübinger Verhältnisse relativ breit aufgestellt, war das Bündnis in einem klassisch-repräsentativen Politikverständnis gefangen. Was tun, gegen Palmers rassistische Politik der Entsolidarisierung? Lasst uns eine Kundgebung in der Innenstadt anmelden! Die Unterstützer*innenkreise, die seit dem Spätsommer in den improvisierten Unterkünften für Geflüchtete aktiv waren, wurden hingegen eher kritisch beäugt. Die sicher nicht unbegründete Befürchtung dabei, sich im Klein-Klein der alltäglichen «Sozialarbeit» zu verlieren, schnitt die Vorstellung eines politischen Bündnisses von der praktischen Unterstützungsarbeit ab. Während die wenigen Menschen in der Runde, die mit linker Politik bislang wenig am Hut hatten, durch zähe Diskussionen um ein gemeinsames Selbstverständnis ermüdet wurden und schließlich nicht mehr zu den Treffen kamen, bewährte sich die traditionelle Linke durch genügend Sitzfleisch. Arbeitskreise sollten gegründet werden, um die starre Plenumssituation zu entzerren. Kurz: Alle bewährten Methoden linker Bündnispolitik wurden aufgefahren, ohne sich überhaupt nach der Zweckmäßigkeit solcher Formen in Bezug auf ein konkretes politisches Ziel zu verständigen. Aber wenigstens stand das Selbstverständnis von «Solidarity for all».

Unerwartet kam es dann zu einem entscheidenden Ereignis: Ein Refugee-Aktivist hatte uns geraten, für unsere Treffen in den Sammelunterkünften Werbung zu machen. Und tatsächlich kamen etwa 30 Leute aus unterschiedlichen Unterkünften zu einem Treffen des Bündnisses Anfang 2016. Bei diesem Treffen gelang es, längerfristigen Kontakt mit einigen Personen aus der Kreissporthalle herzustellen. In dieser Sporthalle in der Tübinger Südstadt waren zu diesem Zeitpunkt fast 400 Menschen unter unwürdigen Bedingungen untergebracht. Mit Tüchern verkleidete Bauzäune trennten die «Schlafabteile», die keine Privatsphäre erlaubten; es mangelte an Toiletten und es gab keine Kochmöglichkeiten. Erst im Nachhinein erfuhren wir, dass ein Teil der dort Untergebrachten nach gemeinsamem Entschluss das Essen verweigerten, weil es ihren Bedürfnissen nicht gerecht wurde.

Durch die Zusammenarbeit mit den Geflüchteten wurde die bisherige Dynamik des Bündnisses vom Kopf auf die Füße gestellt. Der Kampf um alltägliche Verbesserungen erforderte zuallererst ein anderes Verständnis von Zeit: Einige aus dem Bündnis fingen an, sich wöchentlich mit den Menschen aus der Kreissporthalle zu treffen, dazu wurde mit Presse und Landratsamt kommuniziert. Die Frequenz unserer Aktivitäten erhöhte sich so schnell, dass die ritualisierten Bündnistreffen völlig irrelevant für die konkrete Auseinandersetzung wurden. Während das Ganze immer mehr Raum in unserem Alltag einnahm, krochen wir, aus Perspektive der unmittelbar Betroffenen, immer noch im Schneckentempo. Aber es ging voran: Wir formulierten zusammen einen offenen Brief an das für die Kreissporthalle zuständige Landratsamt. Durch Kontakte zur Regionalzeitung erhielten wir einiges an Presseecho. Gleichzeitig gelang es uns, die wöchentlichen Treffen mit zwei weiteren wichtigen Gruppen zusammenzubringen. Zum einen beteiligte sich das infocafé Tübingen, das sich vor allem auf die konkrete Unterstützung im Asylprozess und auf die direkte Vermittlung von Wohnraum für besonders Bedürftige konzentrierte. Zum anderen kamen wir mit dem Unterstützer*innenkreis AK Kreissporthalle zusammen, der schon länger in der Unterkunft Freizeitangebote, Sprach- und Nachhilfekurse, sowie Kinderbetreuung organisierte, politische Konfrontation mit dem Landratsamt aber tunlichst vermied. Er unterstützte unser Anliegen, nachdem wir das anfängliche Misstrauen im direkten Gespräch entkräften konnten. Gemeinsam luden wir das Landratsamt zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion ein, in der Sprecher*innen der Kreissporthalle von ihren Erfahrungen aus der Sammelunterkunft berichteten, für die Schließung der provisorischen Unterkunft sowie für dezentrale Unterbringung eintraten. Die Absage des Landratsamts, das eine öffentliche Podiumsdiskussion nicht für das geeignete Format hielt, in der «Themen, die auch die persönlichen Verhältnisse der Menschen betreffen» (Zitat Landrat) zur Sprache kommen, tat der gut besuchten Veranstaltung keinen Abbruch. Zwei Wochen später wurde die provisorische Unterkunft geschlossen.

Ritualisierte Politik und politische Militanz

Das Ergebnis ist bescheiden angesichts der laufenden Abschiebeverfahren, von denen zum Teil auch jene betroffen sind, die mit für die Schließung der Sammelunterkunft eingetreten sind. Worauf es uns hier ankommt, ist ein Prozess, der festgefahrene Vorstellungen politischen Handelns in Frage gestellt und darüber hinaus neue, wenn auch noch unzureichende, soziale Bündnisse geschaffen hat.

«Gemeint ist damit nicht zwingend eine Politik der ersten Person, ­­aber die Bereitschaft, das Alltagsleben zu verändern und innerhalb dessen eine transformatorische Perspektive zu entwickeln.»

In der Auseinandersetzung fielen zwei Momente radikal auseinander, die Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem Buch Empire als «repräsentative Tätigkeit» auf der einen und «konstituierende Tätigkeit» auf der anderen Seite beschreiben: Das Bündnis Tübingen für alle, das Politik nur im Modus der Repräsentation denken konnte und uns im Nachhinein als traditionslinkes und leidenschaftsloses Ritual erscheint, stand der Konstitution einer – wenn auch nur temporären – Gegenmacht gegenüber, die auf dem Austausch und gemeinsamer Beratung mit Menschen aus und rund um die Sammelunterkunft aufbaute. Zentral für eine solche «konstituierende Tätigkeit», in der Negri und Hardt den Ausgangspunkt politischer Militanz vermuten, war dabei die Eigendynamik der alltäglichen Kämpfe, die sich nicht unter dem sperrigen und letztlich leeren Konstrukt des Bündnisses fassen ließen. Statt informeller Institutionalisierung und Reproduktion bewährter «Hüllen», wäre es mit Henri Lefebvre gesprochen die Aufgabe des Linksradikalismus, «die Qualität und die Eigenheiten des Menschen wiederzufinden» und von «der Alltäglichkeit ausgehend das Alltägliche innerhalb des Alltäglichen aufzuheben». Gemeint ist damit nicht zwingend eine Politik der ersten Person, aber die Bereitschaft, das Alltagsleben zu verändern und innerhalb dessen eine transformatorische Perspektive zu entwickeln. Die Ritualisierung linker Politik ist letztlich eine Strategie, Alltag und politischen Aktivismus auseinanderzuhalten. Diese Trennung, die in mancher Hinsicht der repräsentativen Demokratie nachempfunden ist, kann auch notwendig sein, um den eigenen Alltag vor einer Überfrachtung politischer Anforderungen zu schützen. Trotzdem bleibt das Alltagsleben Ausgangspunkt und Prüfstein für eine linksradikale Politik. Es war eine der zentralen Einsichten der Neuen Linken – in Abgrenzung zur parteikommunistischen Staatsfixierung – die konkrete «Erfüllung oder Nicht-Erfüllung menschlicher Beziehungen» (Guy Debord) zum Maßstab revolutionärer Politik zu machen.

Anforderungen an linksradikale Organisierung

Im Laufe eines solchen Prozesses kann sich linke Politik grundlegend verändern. Wir ziehen daraus allerdings nicht den Schluss, dass politische Organisierungsprozesse überflüssig sind. Eine themenübergreifende und überregionale Organisierung wie die der Il nahm während der Auseinandersetzung eine wichtige Funktion ein. Der Austausch über lokale Erfahrungen, die Verständigung über politische Ziele, die über die momentanen Zustände hinausweisen, sowie die Bündelung sozialer Kämpfe und die Verteidigung partieller Erfolge sind ohne organisatorische Anstrengungen nicht zu haben. Das ist auch eine Lehre aus Spanien, die Nikolai Huke kürzlich beschrieben hat: «Nur wenn erneut im kollektiven Austausch über singuläre alltägliche Erfahrungen Organisationsformen entwickelt würden, die konkrete und emanzipatorische Lösungen für den Alltag anbieten, könne es gelingen, die momentane ‹Phase der Sackgasse abzukürzen›». Die Frage nach der konkreten Form politischer Organisierung ist damit nicht beantwortet. Stattdessen haben wir versucht, einige Anforderungen an sie zu formulieren.