Gramsci bietet viele Anknüpfungspunkte für eine undogmatische Linke, die einen Weg jenseits von orthodoxem Marxismus und Sozialdemokratie sucht. Doch in aktuellen Diskussionen zur Neuen Rechten ist zu hören, dass auch sie sich auf Gramsci beziehen soll. Der Bezug findet dabei meist über einen Vordenker der Neuen Rechten aus Frankreich statt: Alain de Benoist. In seiner Schrift Kulturrevolution von rechts – Gramsci und die Nouvelle Droite beschäftigt sich dieser tatsächlich mit einigen Ideen Gramscis. Dieser «rechte Gramscianismus» soll in diesem Artikel genauer unter die Lupe genommen werden. Doch zunächst werden die Grundzüge von Gramscis Hegemonietheorie, auf die sich auch Benoist beziehen will, erläutert.
Exkurs: Gramscis Hegemonietheorie
«Das historisch-politische Kriterium, das den eigentlichen Untersuchungen zugrunde gelegt werden muß, ist folgendes: daß eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich «führend» und «herrschend». Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. Deswegen kann eine Klasse bereits bevor sie an die Macht kommt «führend» sein (und muß es sein): wenn sie an der Macht ist, wird sie herrschend, bleibt aber weiterhin «führend». […] Es kann und es muß eine «politische Hegemonie» auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben.» (Gramsci: Gefängnishefte 1, §44)
Die von Gramsci entwickelte Hegemonietheorie ist eine von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie und den Debatten in der russischen Sozialdemokratie geprägte Theorie. Am Beispiel des Risorgimento, einer Bewegung für Freiheit und nationale Unabhängigkeit im Italien des 19. Jahrhunderts, entwickelt er sie in seinen Gefängnisheften. Bei Gramsci wird der Hegemoniebegriff neben dem Moment der Führung (Dominanz) um die Komponente des Herrschens erweitert sowie ihr Zusammenhang analysiert. Er geht davon aus, dass eine Gruppe bei der Erlangung der Macht im Staat nicht alleine auf den gewaltsamen Umsturz zurückgreifen kann, sondern auch Bündnisfähigkeit beweisen und Kompromisse eingehen muss, um ihre Herrschaft dauerhaft absichern zu können. Dazu reicht es nicht aus, die Hegemonie nur auf ökonomischer und politischer Ebene zu erlangen, also zum Beispiel durch die Verfügung über die Produktionsmittel oder die Besetzung des Staatsapparates und der Regierungsmacht. Um dauerhaft bestehen zu können muss auch die ideologische und kulturelle Hegemonie im Alltagsbewusstsein der Beherrschten (Subalternen) verankert werden. Gramsci versteht Kultur dabei als eine kollektive Denk- und Lebensweise. Kultur ist somit nicht bloß auf das Ästhetische oder die Hochkultur, an der nur ein kleiner Teil der Gesellschaft teilhat, beschränkt. An einer Stelle in den Gefängnisheften bezeichnet er Kultur auch als eine «kohärente, einheitliche und national verbreitete Auffassung vom Leben und vom Menschen», eine «laizistische Religion», eine Philosophie, die eben «Kultur» geworden ist und ziviles und individuelles Verhalten hervorgebracht hat. Im Kampf um die kulturelle Hegemonie versucht der Staat durch die Institutionen der Zivilgesellschaft und die Intellektuellen seine Vorstellung von Kultur bei den Subalternen zu etablieren. Der Staat tritt somit als «Erziehender» auf, der bemüht ist, den spontanen Konsens, die aktive oder passive Zustimmung der Subalternen zu den herrschenden Verhältnissen, zu organisieren. Gramscis Hegemonietheorie lässt sich somit als eine auf der Zustimmung großer Teile der Beherrschten beruhende Form von Klassenherrschaft verstehen. Unmittelbarer Zwang durch Polizei und Militär wird gegen diejenigen eingesetzt, die sich weder aktiv noch passiv fügen wollen. Auf Repression wird vor allem in Zeiten von (Hegemonie-)Krisen zurückgegriffen.
«Gramsci fordert nun einen Strategiewechsel, der den Kampf der Zivilgesellschaft um die Hegemonie mit einbezieht. Nur so kann ein gegenhegemoniales Projekt langfristig erfolgreich sein.»
Gramsci unterscheidet die politische Gesellschaft als Sphäre des Zwangs von jener der Zivilgesellschaft als Sphäre des Konsens. «Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang» lautet die bekannte Formel Gramscis. Diese Trennung von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft ist nicht absolut, sondern hat methodischen Charakter. Durch sie wird angezeigt, dass auch die Zivilgesellschaft ein zentraler Schauplatz ist, auf dem gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden. Zu ihr gehören die Hegemonieapparate, zu denen Institutionen wie die Kirche, Bildungseinrichtungen, Vereine, Gewerkschaften, Medien, Kultureinrichtungen und die Familie zählen. Gramsci fordert nun einen Strategiewechsel, der den Kampf der Zivilgesellschaft um die Hegemonie mit einbezieht. Nur so kann ein gegenhegemoniales Projekt langfristig erfolgreich sein. Neben der Zivilgesellschaft als Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte kommt auch den Intellektuellen eine besondere Rolle bei der Ausübung der Herrschaft und im Kampf um Hegemonie zu, denn die Hegemonie verbreitet sich nicht von selbst.
Gramsci erweitert den klassischen Begriff des Intellektuellen: Für ihn kommt es auf die gesellschaftliche Funktion der Intellektuellen an. In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen traditionellen und organischen Intellektuellen. Die traditionellen Intellektuellen werden von ihm als «Beamte des Überbaus» und «Gehilfen» der herrschenden Gruppe bei der Ausübung und Durchsetzung ihrer kulturellen Hegemonie bezeichnet. Durch ihre gesellschaftliche Stellung und Verbindung mit der Herrschaft ordnen sich ihnen die Intellektuellen der anderen Gruppen unter. Kennzeichnend für die traditionellen Intellektuellen ist ihr Selbstbild als eine Elite, die außerhalb der Gesellschaft steht.
Hingegen ist die Funktion der organischen Intellektuellen die von Leiter*innen und Organisator*innen der gesellschaftlichen Prozesse, die Einfluss auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse üben und somit eine bestimmte gesellschaftliche Hegemonie produzieren und sichern können. Sie sind die Intellektuellen, die Interessen ihrer Gruppen vertreten. Nach Gramsci bildet jede gesellschaftliche Gruppe ihre eigenen organischen Intellektuellen aus, die deren Interessen artikulieren und verallgemeinern. Dadurch erhalten sie ihre gesellschaftlich organisierende Wirkung, und darin sieht Gramsci Anknüpfungspunkte für eine auf Befreiung der Subalternen ausgerichtete Politik.
Die Hegemoniefrage müsse dazu «von unten» gestellt werden, um die kulturelle Hegemonie der Herrschenden zurückzudrängen. Das Ziel ist die Herausbildung einer antagonistischen und befreienden Kultur und der Bruch mit der herrschenden Alltagskultur. Dazu müssen die Subalternen in neu geschaffenen und selbstermächtigenden Strukturen ihre organischen Intellektuellen ausbilden, welche an den «Alltagsverstand» anknüpfen und diesen kritisch weiterentwickeln. Selbstorganisation und Befreiung sind in Gramscis Ansatz wesentlich.
Gramsci stellt auch die Frage, ob es eine Kulturreform und Hebung des Bildungsniveaus der subalternen Schichten geben kann «ohne eine vorhergehende ökonomische Reform und eine Änderung des gesellschaftlichen Gefüges und in der Welt der Wirtschaft». Seine Antwort darauf ist, dass «eine intellektuelle und moralische Reform an ein ökonomisches Reformprogramm gebunden sein [muss], ja, das ökonomische Reformprogramm ist genau die konkrete Art und Weise, worin sich jede intellektuelle und moralische Reform äußert». Hier wird deutlich, dass Gramsci trotz seiner Kritik am reduktionistischen Ökonomismus seiner Zeit nicht die Meinung vertrat, durch eine bloße Veränderung des Bewusstseins oder der Kultur ließe sich die Gesellschaft grundlegend ändern. Gramsci wies aber wie kaum ein*e Marxist*in vor ihm auf die Rolle der Kultur im Kampf um die Hegemonie hin. Ausgehend von seiner Kritik am Ökonomismus machte er darauf aufmerksam, dass ökonomische Verhältnisse und politische, kulturelle und ideologische Entwicklungen zusammenhängen und in ihren Wechselwirkungen zu betrachten sind.
Rechter Gramscianismus?
Nach diesem Exkurs soll nun die Rezeption Gramscis in der Neuen Rechten genauer betrachtet werden. Im Jahr 1982 erschien Alain de Benoists programmatische Schrift Kulturrevolution von rechts – Gramsci und die Nouvelle Droite, welche drei Jahre später von Armin Mohler ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht wurde. Mohler war unter anderem in den 1950er Jahren Privatsekretär von Ernst Jünger und gilt als Wegbereiter der Neuen Rechten in Deutschland. Das zeigt sich am Institut für Staatspolitik (IfS), dem wichtigsten rechten Think Tank im deutschsprachigen Raum. Götz Kubitschek, der Geschäftsführer des Instituts, bezeichnet sich selbst als Freund und Schüler Armin Mohlers und hielt eine Trauerrede bei dessen Beerdigung im Jahr 2003. Im IfS finden regelmäßig Akademien und Veranstaltungen statt, in denen sich die Neuen Rechten von AfD bis Identitäre Bewegung ideologisch schulen. Auch die Theorien Alain de Benoists werden dort rezipiert: Direkt nach der Gründung des Instituts im Jahr 2000 war Benoist Podiumsteilnehmer bei einer Diskussionsrunde. Dazu werden seine Schriften im hauseigenen Antaios Verlag verlegt und finden somit Eingang in die Debatten der Neuen Rechten.
In seinem Buch Kulturrevolution von rechts sieht Benoist die (alte) Rechte auf dem Weg in die gesellschaftliche Irrelevanz in nahezu allen politischen, kulturellen und ideologischen Fragen. In diese Lage habe sich die Rechte zum einen durch ihre Theorie- und Intellektuellenfeindlichkeit selbst manövriert, zum anderen werde sie in propagandistischer Manier vom politischen Gegner bekämpft und mundtot gemacht. Zur gleichen Zeit beobachtet Benoist den Aufstieg der Neuen Linken seit 1968. Er hat die Idee, die Strategien der Neuen Linken zu analysieren und für die Neue Rechte nutzbar zu machen. In diesem Zusammenhang stößt er auf Gramscis Hegemonietheorie, die er in dieser und weiteren Schriften zu einer Theorie der «Metapolitik» weiterentwickelt, auf die sich die Neue Rechte heute bezieht. Für Benoist sind die «Ideen» das entscheidende Moment im Kollektivbewusstsein und in der Menschheitsgeschichte. Benoist sagt: «Alle großen Revolutionen der Geschichte haben nichts anderes getan, als eine Entwicklung in die Tat umzusetzen, die sich zuvor schon unterschwellig in den Geistern vollzogen hatte.» Die Metapolitik setze deshalb auf das langfristige Agieren im vorpolitischen («metapolitischen») Raum, in dem die Ideen entstehen und verbreitet werden. Parteipolitik, die bloß auf die Erlangung von politischer Macht ziele, verwirft er. Benoist setzt beim Bewusstsein an, mit seinem «metapolitischen Erkenntnisweg». Angesichts der sozialen und politischen Krisen sieht er die Lösung in einer allumfassenden, einheitlichen Weltanschauung mit dem Ziel der (Wieder-) Herstellung einer Ordnung und dem (Wieder-) Erschaffen sozialer Normen.
Laut Benoist werde die Politik nicht mehr an ihren «traditionellen Orten», der öffentlich-politischen Gesellschaft, betrieben, sondern im Bereich des Privaten und der Zivilgesellschaft. Die Menschen würden in Denken und Handeln zunehmend durch Ideologien beeinflusst. Dies führe zu einem Werte- und Normenwandel bzw. Verfall. Deshalb bedarf es laut Benoist einer, der politischen Macht vorgelagerten, kulturellen Macht. Gramsci wird von ihm dabei als der Theoretiker angesehen, der das Problem der «kulturellen Macht» zum ersten Mal aufgeworfen hat.
Benoist interpretiert Gramsci so, dass dieser beim Überbau, dem Bewusstsein ansetzen wolle, um die Gesellschaft zu verändern. Gramsci kehre das Basis-Überbau-Modell des klassischen Marxismus um. Tatsächlich kritisiert Gramsci, dass die ökonomische Basis als alleinig bestimmend für den Überbau gesehen wird. Denn für ihn ist der Überbau eine umkämpfte und spezifische Praxis der Herrschaft, die nicht bloß vermeintlich feststehende ökonomische Interessen abbildet. Daher blendet Gramsci die Basis in seiner Analyse keinesfalls aus oder kehrt ihre Wirkung um, wie Benoist behauptet. Gramsci betont gerade den wechselseitigen Zusammenhang, also will die dogmatische Betonung einer der beiden Seiten als alleinigem beeinflussenden Faktor brechen.
«Benoist versteht die Erlangung von gesellschaftlicher Hegemonie als eine Stufenfolge, bei der im ersten Schritt Ideologien durch die Kultur verbreitet werden, um im zweiten Schritt durch die ‹historische Aktion oder die Volksabstimmung› an die Macht zu gelangen.»
Benoist versteht die Erlangung von gesellschaftlicher Hegemonie als eine Stufenfolge, bei der im ersten Schritt Ideologien durch die Kultur verbreitet werden, um im zweiten Schritt durch die «historische Aktion oder die Volksabstimmung» an die Macht zu gelangen. Dabei fällt aber die Analyse der Ökonomie und anderer Kräfteverhältnisse weg. Wesentliche Elemente von Gramscis Theorie werden von Benoist also ausgeblendet.
Auch an den Intellektuellenbegriff versucht Benoist anzuknüpfen. Anders als Gramsci sieht er die Intellektuellen, nicht die Subalternen, als das «Subjekt der Geschichte». Die Intellektuellen sollen als Avantgarde und Wortführer*innen «durch permanente Überzeugungsarbeit» die Gesellschaft ideologisch formen und den Kampf um die kulturelle Hegemonie von oben führen. Dies entspricht Gramscis Definition des traditionellen Intellektuellen. In der Theorie Benoists sollen diese Intellektuellen durch die Besetzung von zentralen Positionen in Politik, Wirtschaft und vor allem den Medien das neue Herrschaftspersonal stellen. Gramsci dagegen sah die organischen Intellektuellen in der Schlüsselposition. Daran wird deutlich, dass die Neue Rechte in ihrer Rezeption der Hegemonietheorie eine elitäre Strategie verfolgt. Eine intellektuelle Avantgarde soll den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben.
Reclaim Gramsci
Von einem rechten Gramscianismus lässt sich aufgrund der selektiven Auswahl und Lektüre der Theorien Gramscis nur schwer sprechen. Von kollektiven Ermächtigungsprozessen und Selbstorganisation ist die Neue Rechte weit entfernt – und sie verfolgt etwas ganz Anderes. Sie kämpft um die Deutungshoheit in gesellschaftlichen Diskursen und versucht dadurch ihre Ideen zu verankern. Dabei sollte für radikale Linke klar sein, dass sich grundlegender emanzipatorischer Wandel nicht allein durch den Austausch von Meinungen, von «oben», erreichen lässt. Der Neuen Rechten geht es nicht um einen grundlegenden Wandel. Ihre Kritik ist explizit keine der Produktions- und Eigentumsverhältnisse, das zeigt sich exemplarisch in der verkürzten Rezeption Gramscis. Sie will lediglich das Herrschaftspersonal durch eine neurechte Elite austauschen. Solche Ideen bekämpfen wir am besten, indem wir eigene Antworten für eine solidarische Gesellschaft formulieren und dem Elitarismus die Selbstorganisation entgegensetzen. Hierfür kann dann auch wieder auf Gramsci zurückgegriffen werden.