Standing Rock

Die Standing Rock Reservation ist ein Reservat an der Grenze zwischen North Dakota und South Dakota, USA. Durch das Gebiet soll eine Erdölpipeline geführt werden, die Dakota Access Pipeline. Ab April 2016 entwickelten sich hier die größten indigenen Proteste in den USA seit der Besetzung von Wounded Knee 1973. Ein Baustopp, den Präsident Obama im Dezember 2016 verfügt hatte, wurde durch Präsident Trump im Februar 2017 aufgehoben.

Bei der Entkolonisierung geht es darum, zu realisieren, wie sehr koloniale Sichtweisen weiterhin unsere Kulturen und uns selbst prägen, und diese Prozesse zu dekonstruieren – vor allem den Anspruch auf Land, Rohstoffe und deren Kontrolle, das weiße Überlegenheitsdenken, und das binäre Entweder/Oder-Denken, das die Herrschaft unterstützt. Für mich war die wichtigste Erkenntnis, wie persönlich die notwendige Veränderung ist. Wir brauchen sicher auch eine systemische Veränderung, aber zwischen persönlicher und systemischer Veränderung besteht nicht der oft behauptete Widerspruch. Tatsächlich sind sie eng verbunden, und wir brauchen persönliche Veränderung, um eine weitergehende systemische Veränderung zu ermöglichen.

Walking Well

Neuankömmlingen wurde in Standing Rock nahegelegt, eine Einführungsveranstaltung zu besuchen, bei der vier Punkte besonders betont wurden:

  1. Der Schwerpunkt liegt bei den Indigenen.
  2. Es geht darum, eine neue Tradition zu schaffen.
  3. Mach dich nützlich.
  4. Mach zu Hause weiter.

Vor diesem Hintergrund haben wir den «Lakota Way» kennengelernt, also die Traditionen der Lakota, die auf sieben Werten beruhen: Gebet, Respekt, Mitgefühl, Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Bescheidenheit und Weisheit. Unter anderem bedeutete das, bescheiden zu sein in Bezug auf unsere eigenen Beiträge, und keine Ratschläge aufzudrängen, ohne selbst in dem Kampf verwurzelt zu sein und ihn dauerhaft zu führen. Zugleich hieß es, aktiv nach Möglichkeiten zu suchen, selbst etwas beizutragen, statt auf eine Aufforderung zu warten. Und es bedeutete, unsere Ansichten nicht nur für die Dauer unseres Aufenthaltes im Camp zu ändern, sondern dauerhafte Beziehungen aufzubauen und solidarische Strukturen dort, wo wir leben.

«Für mich war die wichtigste Erkenntnis, wie persönlich die notwendige Veränderung ist.»

Mit am eindrucksvollsten war es für mich, das Lakota-Konzept des «Walking Well» kennenzulernen (auf Deutsch etwa «gutes Vorgehen», A.d.Ü.). Das bedeutet, soweit ich verstehe, das Leben nach den oben genannten sieben Werten auszurichten, als eine Art permanentes Gebet. Es geht um ein radikales Umdenken dessen, was aus europäischer Perspektive als Gebet angesehen wird; darum, die Heiligkeit jeder Interaktion und jeder Beziehung anzuerkennen, und darum, dies als Maßstab für die Hingabe zur Schöpfer*in zu nehmen. Und es geht um die Frage, wie man Verantwortung trägt und im alltäglichen Leben handelt. Das bedeutet, dass die Veränderung auf einer sehr persönlichen Ebene stattfindet und alles betrifft, was man tut.

Ich sehe vor allem zwei Aspekte, die sich auch auf die Kämpfe der Linken beziehen lassen – einerseits unsere Beziehung zur Macht, andererseits unsere Beziehungen untereinander. Beide werden von dem gleichen Prinzip geleitet, von Mitgefühl.

Radikale Liebe

Im Verhältnis zur Macht betraf dies das Verhältnis, das bei Aktionen aus dem Camp gegenüber der Polizei eingenommen wurde. Das war für mich eine der grundlegendsten Perspektivverschiebungen. Aktionen aus dem Camp waren Zeremonien, wie alles andere auch. Wir wurden aufgefordert, in diesen Zeremonien Raum zu lassen, um für das Wasser und das Land und die Menschen zu beten, aber auch, um für die Polizei und die Pipeline-Angestellten zu beten – dafür, dass sie es einsehen und ihre Waffen niederlegen, weil es immer eine Wahl gibt und Menschen sich verändern können. Wir wurden außerdem aufgefordert, in unseren Herzen ein bisschen Liebe für die Polizei zu finden, und nicht zur Aktion zu gehen, wenn uns das nicht gelänge.

Es geht hier um radikale, transformatorische Liebe. Eine Liebe, die die Familien und Herausforderungen und Ziele und Träume unserer Unterdrücker*innen sieht und sie vermenschlicht, statt sie zu diffamieren und Mauern in unseren Herzen und Köpfen zu errichten. Denn solche Mauern werden Wirklichkeit, und dann wird Veränderung unmöglich. Es geht dabei auf keinen Fall darum, mit der Polizei zu turteln. Es geht darum, sich mit Entschlossenheit und Hingabe gegen den gemeinsamen Feind zu stellen, die Kolonisierung, und dabei an die Möglichkeit menschlicher Veränderung zu glauben.

Es ist gut möglich, dass dieser Ansatz nicht in jedem Kampf funktioniert – alles hängt von den konkreten Bedingungen des Einzelfalls ab. Man sollte aber zwei Dinge im Kopf behalten: Einerseits sind wir nicht in der Position, zu urteilen und über die beste Strategie für einen Kampf zu entscheiden, an dem wir nicht beteiligt sind. Und es herrscht auch keine absolute Einigkeit über diesen Ansatz. Es gibt daneben eine lange, andauernde Tradition der Selbstverteidigung von Indigenen und PoC für das Überleben ihrer Gemeinschaften. Andererseits stehen diese beiden Ansätze nicht unbedingt im Gegensatz zueinander. Es geht eher um eine Art, in der Welt zu sein, als um eine bestimmte Taktik.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der entscheidende Punkt hier nicht Gebet oder Spiritualität ist, sondern das, was dahinter steht – der Glaube an die Verbundenheit allen Lebens und daran, Respekt und Mitgefühl in alle Lebensbereiche zu bringen, um so uns selbst zu heilen und unsere Kulturen zu verändern. Es geht darum, unsere Perspektive und das Erkenntnisniveau zu ändern und uns selbst und andere anzunehmen, um so weitere Veränderung zu ermöglichen.

Es ist wichtig, hier darauf hinzuweisen, dass indigene Gemeinschaften die systematische Unterdrückung durch Militär und Polizei und den Verrat durch den Staat besser kennen als sonst irgendjemand. Weil sie die Gewalt der Kolonisierung verstehen, können sie erkennen, dass diese Gewalt auch gegenüber ihren Unterdrücker*innen ausgeübt wird. Denn Privilegien und Unterdrückung beeinflussen auch die Unterdrücker*in. Sie verursachen eine Abtrennung des Selbst und eine Entfremdung von Gefühlen und Verbindungen, eine Leere im Kern unseres Daseins: die Kolonisierung. Indigene erinnern Weiße bei Teach-Ins oft daran, dass auch Europäer*innen kolonisiert wurden (ich habe das in den letzten Monaten bei Kandi Mossett, Neesu Wushuwunoag und Leuten von der Red Warrior Society erlebt). Insbesondere Frauen wurden oft unter Todesdrohungen gezwungen, traditionelle Spiritualitäten und kooperative Beziehungen zur Erde aufzugeben (mehr dazu in Silvia Federicis Buch Caliban und die Hexe).

Alltägliche Heilung

Die andere große Perspektivverschiebung, die ich in Standing Rock erlebt habe, war die Erkenntnis, wie notwendig auch persönliche Veränderungen in unserem Verhältnis zu uns selbst und zueinander sind. Ein paar Punkte, die in der Einführungsveranstaltung erwähnt wurden, haben mich dazu gebracht, grundsätzlicher über den Charakter weißer und europäischer Kulturen nachzudenken. Ein wichtiges Thema war ein Bewusstsein für unsere Energien, und wie sie andereMenschen beeinflussen. Nach dem Glaubenssystem der Lakota hinterlässt alles, was man tut, einen Abdruck, ein Überbleibsel, eine Reaktion. Entscheidend ist dabei, dass alles was man tut und die Energie, die man dabei erzeugt, wichtig ist. Das bedeutet, dass es bei der Veränderung der Welt grundsätzlich darum geht, dass wir unserer selbst und unserer Einflüsse auf andere bewusst sind. So werden einerseits das Alltägliche und andererseits Heilung zur Hauptquelle für Widerstand und Veränderung. Das ist nicht neu (es ist zum Beispiel auch eine der Grundlagen der Black Lives Matter-Bewegung), aber es mag für das weiße Empfinden relativ neu sein.

Von diesem Ausgangspunkt aus werden andere Dinge bedeutsam, die wir vorher vielleicht nie wahrgenommen haben. Zum Beispiel die Verlangsamung. Hektische Energie ist ein Hauptcharakterzug der weißen liberalen Kultur und wirkt sich auf andere aus. Eine andere wichtige Folgerung ist es, in eine beunruhigende oder verwirrende Situation fragend hinein zu gehen und ein vorschnelles Urteil zu vermeiden.

Das bedeutet auch, behutsamer miteinander umzugehen. Zum Beispiel gab es in der Aktivist*innenszene im Camp mehrere Wellen, Neuankömmlinge als unreflektiert und unwillkommen zu verurteilen und zu sagen, dass nicht mehr Leute kommen sollten, ohne dass das auf eine Aufforderung der Camp-Ältesten zurückging. Das bedeutet nicht, dass der Zustrom von vielen neuen Leuten auf einmal keine Probleme verursacht hat – aber die starke Tendenz, vorschnelle Urteile zu fällen, über andere und uns selbst, kann wirklich entfremdend und lähmend wirken. Es ist darum auch wichtig, genug Raum einzunehmen, in sich selbst zu ruhen, die eigenen Wurzeln, die eigene Rolle und die eigene Verantwortung zu finden.

«Die Idee ist, Antworten nicht außerhalb zu suchen oder in irgendeiner privilegierten Tradition, sondern in uns und aus unserer Umgebung.»

Für Weiße bedeutet das, dass (mindestens) zwei Schritte nötig sind: Erstens, die eigene Rolle als Unterdrücker*in zu akzeptieren und zu verarbeiten – und da, wo es angemessen ist, um Erlaubnis, Zusammenarbeit und Verzeihung zu bitten. Zweitens, die eigenen Wurzeln zu finden und sich Heilung zu erarbeiten, und dabei PoC-Räume zu respektieren. Zu wissen, wer man ist und woher man kommt, kann sehr dabei helfen, die eigene Rolle und Verantwortung zu erkennen. Und aus dieser Position heraus, ist es dann deutlich schwerer, isoliert und hoffnungslos zu werden. Die Idee ist, Antworten nicht außerhalb zu suchen oder in irgendeiner privilegierten Tradition, sondern in uns und aus unserer Umgebung. Eine Richtschnur kann dabei das Lakota-Konzept des «Mitákuye Oyás’i » sein - übersetzt etwa «Alle meine Beziehungen» oder «Alle sind verbunden». Was heißt das für unsere Bewegungen? Wie kann ein tiefergehender Wandel aussehen?