Die Anrufung der Komplexität kommt immer gut. Wenn man weiß, dass ziemlich vieles gar nicht klar geht und so richtig doll schief läuft und man außerdem weiß, dass ziemlich wenig Leute ziemlich wenig dagegen tun, sondern die meisten ihre Prioritäten eher woanders setzen, dann kann man schon ins Stolpern geraten. Man kann aber auch erst mal weitermachen, mitmachen und «Ja!» sagen, denn schließlich ist die Welt ja sehr komplex geworden und Hauptsache man ist dabei und nicht auf der Verlierer*innenseite.

« ‹Frei› sind wir in der komplex gewordenen Welt nur, solange wir als Subjekte singulär bleiben und unsere Substanz flüchtig, also quasi gasförmig existiert, als Wolke mit unscharfen Rändern.»

Die viel beschworene gewachsene Komplexität ist mit einem Besitzanspruch auf «unsere» Welt verbunden. Es geht in der Rede über die Komplexität auch darum zu erklären, wie wir uns gemeinsam auf die Welt beziehen und warum wir das genau so tun. Die Rede von der Komplexität verweist also auf ein spezifisches Konzept von Subjektivität. Subjektivität soll sich heutzutage entgrenzen und ins Offene entfalten. Spaß, Genuss und Lebensfreude werden großgeschrieben, haben aber manchmal auch einen seltsam zwanghaften und verpflichtenden Charakter. Das Subjekt der komplex gewordenen Welt hat viel damit zu tun, die Früchte seiner Freiheit zu ernten und gerät dabei schon mal ins Schwitzen. Nach wie vor ist es eine der Hauptaufgaben, sich selbst zu finden und das Gefundene anschließend zu verwirklichen. Die heutige Subjektivität ist dem Verhältnis zu sich selbst und der Rede darüber radikal geöffnet, dafür jedoch durch eine Art Sprach- und Urteilsverzicht über die äußere Welt stark begrenzt. Die Suche nach Sinn muss ein Kreisen um die abstrakte Leerstelle des Selbst bleiben. «Frei» sind wir in der komplex gewordenen Welt nur, solange wir als Subjekte singulär bleiben und unsere Substanz flüchtig, also quasi gasförmig existiert, als Wolke mit unscharfen Rändern.

Die kulturelle Hegemonie einer vollständig privatisierten moralischen Verantwortung erzeugt eine Art negativer Anrufung unserer Widerstandskraft, die uns auffordert, in unserem Konsumverhalten und unserem sozialen Handeln so wenig Widersprüche, Regelverletzungen und Grenzüberschreitungen wie möglich zu erzeugen, um einem Ideal der Schuldlosigkeit des individuellen Karma-Kontos gerecht zu werden. Keine Subjekt-Wolke darf die Persönlichkeitsentfaltung einer anderen Subjekt-Wolke durch Worte oder Taten infrage stellen. Ein reibungsloses und konfliktfreies Miteinander gilt als hohes Ideal. «Man muss ja nicht immer alles gleich bewerten.» Dafür darf sich schließlich alles auf die Fahne geschrieben werden - bis auf die Gewaltfrage. Wer angesichts dieser hybriden Wetterlage in eine Identitätskrise gerät, der spart eben auf ein neues Tattoo. Ein spielerischer und zweckfreier Umgang mit der komplex gewordenen Welt ist erfolgversprechend und wird im vorherrschenden Diskurs positiv sanktioniert, unsere Kreativität ist gefragt.

Ein Teilgebiet der hybriden Subjektwolke - ihre härteste Stelle oder quasi des Pudels Kern ist das unternehmerische Subjekt. «Respekt, wer‘s selber macht!» (Baumarktslogan). Mut, Kreativität und Leidenschaft für die eigene Idee sind die Tugenden der neuen jungen Menschen, die versuchen die Welt durch Affirmation zu transformieren und dabei auch noch Geld zu verdienen. Nur geht es dem Unternehmer*innen-Subjekt eben nie darum, «auch noch» Geld zu verdienen, sondern es muss primär und ursächlich um den Profit gehen, denn unternehmerisch handeln bedeutet, erst zu rechnen, dann zu entscheiden. Und um einen Profit zu machen ist und bleibt (Selbst-)Ausbeutung notwendig.

Um in die Welt einzugreifen, kann man als Subjekt-Wolke also versuchen den eigenen Einsatz zu erhöhen, aber nicht die Spielregeln zu ändern, denn das wäre naiv und unvernünftig in der freien Welt hybrider Subjekt-Wolken. Einer Welt, deren Parameter sich nur durch das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage verschieben lassen und die im Übrigen sehr komplex geworden ist.

Ich kann mir morgens per Sprachsteuerung ein personalisiertes Frühstücksmüsli von einer Drohne auf meinen Esstisch liefern lassen, vorausgesetzt ich habe den Prime-Account. Es ist zwar fraglich, ob mein Leben dadurch wirklich einfacher wird, aber sind wir damit schon bei der viel beschworenen Komplexität der Welt angelangt? Schließlich kann man sich auf Skype nie gleichzeitig in die Augen schauen. Eine reale, technisch unvermittelte Begegnung zwischen Subjekten zählt an meinem Erfahrungshorizont immer noch zu den Ereignissen mit der größten Komplexität und das ist nicht neu, sondern war schon immer so.

Der digitale Zugang zu Informationen ist gewachsen, aber nicht unsere Fähigkeit sie kognitiv und analog zu verarbeiten. Was sich allerdings verändert und echt total verbessert, ist die Intensität der Kontrolle und Selbstkontrolle unseres Verhaltens. Zugegeben: Digitale Technologie ist komplex, aber die meisten Menschen surfen und streicheln fröhlich auf digitalen Interfaces herum, deren Bedienung mit viel Mühe so kinderleicht und intuitiv erlernbar gestaltet wurde, dass sie alles andere als komplex ist und die Schnittstellen immer weniger wehtun, während ihre Zahl zunimmt.

Erfahrungen, Gefühle und subjektive Zustände müssen zunehmend abbildbar und (aus-)tauschbar gemacht werden, um sie zu sharen bzw. um damit auf einem digitalen Markt zu handeln. Die Interaktion von Subjektivität und Technologie ist also kein Prozess der Zunahme, sondern der Reduktion von Komplexität. Von der Komplexität der Materie und dem digitalen Quellcode werden die User*innen bewusst fern gehalten.

In der komplex gewordenen Welt gelten die bisherigen Konzepte der kollektiven Verarbeitung von Widersprüchen als allgemein überwunden und jeder konsequente Lagebericht führt notwendigerweise zu Schuldeingeständnissen seitens der Berichtenden. Sicherheitshalber und vernünftigerweise scheint es geboten, auf Zukunftsvisionen zu verzichten. Es besteht der Verdacht, dass die Rede von der «gewachsenen Komplexität unserer Welt» dazu dient, genau diese Situation ideologisch zu rechtfertigen.

Die aussätzige Wahrheit

Der zum Aussätzigen degradierte Obdachlose steht an der Ecke und schimpft. Manchmal brüllt er, aber es ist nicht klar, wer gemeint ist. Er redet viel zu viel und die Verständigung mit ihm ist risikoreich und unbequem. Außerdem wird schnell klar, wo ihre Grenzen liegen. Das Verstehen ist nicht mehr möglich, da der «Aussätzige» versucht, alles auf einmal zu sagen und scheinbar Starkstrom im Kopf hat, wo andere einen Handyakku haben. In der sehr komplex gewordenen Welt ist auch die Wahrheit zur Aussätzigen geworden. Eine Idiotin.

Das Prädikat «wahr» bleibt lediglich empirisch bewiesenen Gesetzmäßigkeiten und jenen mittelbar und unmittelbar gegeben Informationen vorbehalten, deren Faktizität sich nicht leugnen ließe, ohne die Subjektivität gleich komplett an den Nagel zu hängen. Wer versucht, den Begriff Wahrheit auf praktische Kritik an falschen Verhältnissen auszudehnen, der droht schnell aus der Normalität der komplex gewordenen Welt hinaus zu fallen. Es ist aber die Teilnahme an dieser Normalität, die ein weiches und fließendes Miteinander am Himmel der hybriden Subjekt-Wolken gewährleistet.

«Wer versucht, den Begriff Wahrheit auf praktische Kritik an falschen Verhältnissen auszudehnen, der droht schnell aus der Normalität der komplex gewordenen Welt hinaus zu fallen.»

Die normale Sprache und der normale Umgang, den wir miteinander pflegen, geben vor, eine Verständigung mit anderen Subjekten jederzeit zu ermöglichen und zwar potenziell mit allen, mit denen wir sprechen und mit denen wir nicht sprechen. Die aktive Behauptung einer möglichen Verständigung ist das Ziel unserer emsigen Normalitätsproduktion. Wer nun aber versucht, sich analog und auf der Straße mit dem oder der «Aussätzigen» zu verständigen, der erlebt schon mal ein blaues Wunder. Allerdings erweist sich die Tragik und Komik des Scheiterns der Verständigung als nackte Wahrheit, während die Verheißung, durch eine Teilnahme an Normalität, von anderen verstanden zu werden, oft ein leeres Versprechen bleibt.

Das Beispiel macht sichtbar, dass der Versuch einer Verständigung zwischen Subjekten immer eine hoch komplexe Folge von Erfolgen und Misserfolgen bleibt, während die Behauptung einer Normalität diesen Umstand tendenziell verdeckt und zu Gunsten eines ökonomischen Funktionszusammenhanges verschleiert.

Der Umgang mit Wahrheit bleibt risikoreich und unbequem, ist aber möglich, vor allem dann, wenn wir uns dem Paradoxon stellen. Wenn wir nicht vergessen, dass unserer Erkenntnisfähigkeit enge Grenzen gesetzt sind und unsere Versuche, die Welt gemeinsam zu verstehen eine komplexe Folge von Erfolgen und Misserfolgen bleiben müssen.

Das Navi in der Zeitmaschine

Ein Mann, der einen Fluss überqueren wollte, über den eine Fähre fährt, fuhr mit seinem Wagen ins Wasser, da das Navi die Fähre als Brücke anzeigte. Vielleicht hat dieser Mann so gelernt, die Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts besser zu verstehen.

Die Welt ist genau in dem Maße zu sehr komplex, in dem wir aufhören, sie verstehen zu wollen. Wahrscheinlich erscheint die gegenwärtige latente Krise auch deshalb so komplex, weil die notwendigen Fragen, wie jene nach dem Verhältnis von Geld und Arbeit, der Organisation unserer Bedürfnisbefriedigung, nach dem Sinn und der Sicherung von Privateigentum und noch mehr ihre Antworten außerhalb des machtpolitisch gegebenen Möglichkeitsraumes liegen. Solange wir, anstatt die Grenzen dieses Möglichkeitsraumes zu befragen, vor seiner Komplitesse zurückschrecken, haben wir die Sprache der Veränderung noch nicht wieder gefunden.

Spaziergänger*innen haben gemeinsam, dass ihnen die Karte bei der Erforschung unbekannter Gebiete, lediglich als Werkzeug dient, während sie nie vergessen werden, dass ihr eigentliches Ziel im Territorium selbst und in seiner Durchquerung liegt. Die entscheidende Orientierung beim Spazierengehen liefert der Reiz der Landschaft.

Es sollte also möglich sein, unter dem verfilzten Dickicht der verlorenen Fäden endloser Gegenwart ein neues Subjekt auszumachen. Es ist möglich, sich ein Verhältnis des Sprechens und der Wahrheit zu denken, das dem zwischen dem Spaziergang und der Landschaft gleicht.

Um als kritische Subjekte gemeinsam verändernd und kämpfend in die Welt einzugreifen, um für Gegen-Hegemonie zu kämpfen ohne uns in die Macht zu verlieben, sollten wir noch besser lernen, die Sprache als Karte, als Instrument zur Orientierung und Richtungsänderung zu gebrauchen, ohne sie mit der Landschaft zu verwechseln. In jedem Sprechen hört man das Verhältnis, das ein Mensch zu seinem Schweigen eingeht.