Während die einen empört jeden Hinweis auf eine Mitverantwortung für den gesamtgesellschaftlichen Zustand von sich weisen, verfallen andere auf Strategien, die irgendwie verdächtig nach Volksfront aussehen oder anderweitig die Welt in seltsame Kategorien einteilen. Was aber, wenn damit auch gerade wieder etwas schiefläuft?

Ordnung und Sicherheit und Ruhe und Frieden

Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien sehen sich alle ziemlich ähnlich. Neben dem gemeinsamen Hauptfeindbild «Islam» vertreten sie vor allem gesellschaftspolitischen Positionen, die man auch gut mit «ultraspießig» beschreiben kann – klassische Geschlechterrollen und gesellschaftliche Hierarchien sollen wiederhergestellt oder auch in ­einer­ Form aufgebaut werden, in der es sie so möglicherweise niemals gab. All diese Forderungen verweisen im Grunde auf eine einzige Sache: Ordnung. Vom Großen, der Weltordnung nach Nationen, bis ins Kleinste, Alltäglichste hinein. Die Welt soll geordnet, überschaubar, berechenbar sein.

«Der Gedanke, dass gesellschaftliche ­Homogenisierung und die fein säuberliche Trennung von Menschen nach Nationen zu Frieden, Ruhe, Stabilität und Sicherheit für alle führt, ist kein neuer.»

Der Gedanke, dass gesellschaftliche Homogenisierung und die fein säuberliche Trennung von Menschen nach Nationen zu Frieden, Ruhe, Stabilität und Sicherheit für alle führt, ist kein neuer. Er ist nur in den vergangenen Jahrzehnten ein wenig in Vergessenheit geraten. Ihn wiederaufzunehmen erscheint verlockend, denn es ist nicht nur ein «halbfertiges» Projekt in dem Sinne, dass selbst die krassesten Versuche, die Welt fein säuberlich aufzuteilen, bisher gescheitert sind, sondern durch dieselben Versuche schon das Fundament, auf dem man aufbauen will, gelegt ist. Die Welt ist in Nationalstaaten aufgeteilt. Jetzt muss man es «nur noch richtig machen» – egal, wie revolutionär sich Rechtspopulisten gebärden, sie sind es eben nicht. Es braucht keinen Bruch um das Projekt «Grenzen zu, X-Land den X-Ländern» umzusetzen. Nur ein paar kleinere Änderungen des Bestehenden und wir kommen genau an diesen Punkt. Das lässt die Umsetzung dieses Projekts realistisch erscheinen, machbar. Es braucht keine Revolution, der Einzelne muss sich nicht ändern. Nur die Regierung muss eine andere sein.

Trotzdem aber steckt darin so etwas wie ein utopischer Kern: Wenn die Welt fein säuberlich aufgeteilt ist in einzelne Nationen, die über ihr jeweiliges Territorium verfügen, herrscht nicht nur Ordnung auf der Landkarte. Wenn jeder Mensch zu einer Nation gehört und diese Zugehörigkeit mit bestimmten Eigenschaften einhergeht, hat jedes Individuum seinen Platz in der Welt, an den es passt und an den es gehört und den es nicht erst suchen und finden muss. Eine Welt, in der jeder Mensch seinen Platz hat und an ihm bleibt, ist eine geordnete, ordentliche Welt. Und am Horizont schimmert die wärmende Sonne des Endes aller Konflikte: Nationalismus führt zwar zu Konflikten und Krieg, aber das bedeutet noch lange nicht, dass seine Anhänger*innen darin nicht auch das Gegenteil, nämlich das mögliche Ende aller Konflikte sehen können. Dadurch, dass alle bekommen haben, was ihnen zusteht, könnten sämtliche Verteilungskämpfe befriedet werden.

Linke Sehnsucht nach Ordnung

Ordnung war und ist aber auch in der radikalen Linken ein Sehnsuchtsobjekt. Der Realsozialismus ist das beste Beispiel dafür, aber auch einige aktuelle Entwicklungen verweisen in diese Richtung. Die gesellschaftspolitischen Experimente der frühen Sowjetunion wurden nicht zufällig nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen und ersetzt durch eine Gesellschaftsordnung, die nur allzu vertraut klingt: Klassische Geschlechterrollen, kosmetisch aufgearbeitet durch weibliche Erwerbstätigkeit, klare gesellschaftliche Hierarchien, nur unter vermeintlich anderen Vorzeichen. Einfach mal nicht das tun, was die Gesellschaft von einem erwartet – unvorstellbar und mit scharfen Sanktionen verbunden. Diese Vorstellungen leben nicht nur in der KSˇCM der Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, fort, erinnert sei beispielsweise an plakative Wahlkampfforderungen wie «Für die Einhaltung der Mittagsruhe» oder der Vorschlag, den Straftatbestand des «Parasitismus» wiedereinzuführen. «Parasitismus», das ist das «Leben auf Kosten anderer»; 1989 abgeschafft und zuvor hauptsächlich dazu verwendet, nicht-konforme Lebens- und Denkweisen abseits des gesellschaftlichen Mainstreams zu bestrafen. Ein anständiger Mensch geht eben anständig arbeiten und passt sich an.

Aber auch die radikale Linke ist von ähnlichen Denkmustern nicht frei. Ordnung muss herrschen, um den unzähligen Abstufungen im System der Unterdrückung durch Ausgleich der Nachteile gerecht werden zu können. Menschen werden weiterhin in Gruppen zusammengefasst, und im Bewusstsein um die Problematik, zwar nicht mittels Zwang homogenisiert, dafür aber nach Identitätskriterien in immer kleinere Grüppchen sortiert. Das ist zwar aus einer anderen Perspektive gedacht, endet aber trotzdem auch bei der Vorstellung, dass wenn wir nur richtig Ordnung machen und jeder*m das geben, was ihr*ihm «zusteht», dann endlich alles gut wird.

Rebellion und Unordnung

Betrachtet man das Beispiel der 1970er Jahre, wird deutlich, dass Veränderung aber nicht vom Ordnungmachen kommt. Ganz im Gegenteil lassen sich die Ereignisse der 1960er/1970er Jahre auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs eher mit Unordnung beschreiben. Jungs mit langen Haaren, die von laut schimpfenden Mädchen in Hosen für den «anständigen Bürger» nicht mehr unterscheidbar waren, die konsequente Weigerung, dem von der Gesellschaft vorgegebenen Weg zu folgen und am wichtigsten, das Umsetzen dieser Weigerung in das aktive Gestalten des eigenen Lebens nach den eigenen Vorstellungen – all das brachte Unordnung in die Gesellschaft. Wer tut, was angeblich gar nicht geht, beweist die Möglichkeit des Unmöglichen.

«Betrachtet man das Beispiel der 1970er Jahre, wird deutlich, dass Veränderung nicht vom Ordnungmachen kommt.»

Václav Havel und Gerhard Schröder als Beispiele für den Teil der Gesellschaft, der in den 1970er Jahren rebellierte und schließlich selbst an die Macht kam, teilen viele Gemeinsamkeiten. Meistens betrachtet man sie unter dem Aspekt, dass sie sich auf ihrem Weg dann doch der Ordnung angepasst haben. Aber trotzdem stellten sie, wie auch Obama, die Ordnung symbolisch auf den Kopf: Havel, der vom Staat verfolgte, wurde dessen Haupt; Schröder, ehemals an Joschka Fischers Seite die Staatsgewalt bekämpfend, wurde zum Chef derselben; Obama, als erster Schwarzer Präsident der USA für sich genommen schon ein Symbol einer Verkehrung der Ordnung, setzte sich obendrein zum Ziel, eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen. Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass sie die auf diese Weise entstandenen und an sie gerichteten Erwartungen einer besseren Ordnung nicht erfüllt haben. Statt mehr sozialer Gerechtigkeit oder einem «Leben in der Wahrheit» brachten sie nur mehr und mehr Neoliberalismus.

Neoliberalismus

Neoliberalismus steht im Gegensatz zum Nationalismus; der neoliberale Kampf Aller gegen Alle ist das Ende der Sicherheiten und auch der Gemeinschaften. Auf seine ganz eigene Art lässt er sich wie Rebellion als Unordnung beschreiben, als Chaos und Durcheinander. Die individuelle Freiheit, zu scheitern, aber dabei auszusehen, wie man will und zu schlafen, mit wem man will, ist der Teil der Unordnung, an dem sich Neoliberalismus und Rebellion treffen, tagtäglich beobachtbar und vielfach kritisiert. Sowohl von rechten als auch von linken Vorstellungen einer guten Welt aber unterscheidet sich der Neoliberalismus darin, dass ihm nicht an überhaupt irgendeiner Gemeinschaft von Menschen liegt. Weder mag es der Neoliberalismus, wenn Trump Ttip streicht und damit die Konkurrenz zumindest ein kleines Stückchen weg vom Einzelnen verschiebt, noch mag er es, wenn Menschen sich im Betrieb oder gleich den Betrieb als Kollektiv organisieren und so das Individuum ein Stück weit von der Konkurrenz aller gegen alle entlasten. Immer aber ist die Zugehörigkeit zur Gruppe das entscheidende Moment, um in den Genuss dieser Entlastung zu kommen.

Volksfront

Vielleicht ist es diese Ähnlichkeit, die manche Linke auf die Idee bringt, sich von der historischen Volksfront nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges inspirieren zu lassen. Ein übler Eindruck, den heute beispielsweise die Rhetorik Sarah Wagenknechts hinterlässt. Gleichzeitig könnte hier aber auch ein Ansatzpunkt für das Verständnis liegen, wieso Rechtspopulismus gerade im Osten so gut funktioniert. Die historische Volksfront führte nicht zuletzt dazu, dass deutscher Nationalismus in der DDR nicht reflektiert, sondern «reingewaschen» und zum Teil des ideologischen Fundaments wurde. Auch die Kscˇ erreichte ihre ersten Erfolge nach dem Krieg zum großen Teil auf dem Nationalismusticket. Der Gedanke, man könne den gleichen Fehler zwei Mal machen und beim zweiten Mal würde er sich als das Richtige entpuppen, entbehrt jeder logischen Grundlage.

Das Versprechen einlösen

Wenn es auch aus einer Perspektive der Abwehr heraus sehr verständlich ist: Die Sortierungs- und Ordnungsversuche mit dem Ziel, dass alle bekämen, was ihnen zustehe, müssen erfolglos bleiben. Das Ergebnis wird immer ungerecht bleiben, weil niemand ausschließlich Unterdrückende*r oder Unterdrückte*r ist. Die Nation hat am Ende die besseren Karten, weil sie zumindest die Illusion einer beinahe bedingungslosen Zugehörigkeit und damit dem Zugang zur Befriedigung wenigstens der Grundbedürfnisse anbieten kann. Der Zugang zu linken Strukturen, die ähnliche Funktionen erfüllen, ist demgegenüber mit hohen Barrieren verbunden. Diese haben oft ihre nur zu gute Berechtigung, aber eine Lösung stellen sie nicht dar.

Das Bedürfnis als einziges Kriterium anzulegen, scheint hingegen vielversprechend zu sein, wie es verschiedene Projekte nahelegen. Menschen beispielsweise, die eine Wohnung bekommen, einfach nur, weil sie eine brauchen, schaffen es zumeist, sich dann vieler weiterer Probleme selbst zu entledigen. Um sich nicht im eben beschriebenen Dilemma zu verfangen, muss jedoch sichergestellt sein, dass weitere Kriterien wie Herkunft oder Identität hierbei keine entscheidende Rolle spielen. Bereits begangenes Unrecht lässt sich nicht durch Privilegierung von Nachkommen der Opfer aus der Welt schaffen. Die Kategorisierung von Menschen nach Kriterien wie Aussehen, Herkunft, Religion oder Ähnlichem führt immer in die Sackgasse, denn auch, wenn man «den Spieß umdreht», schafft man lediglich neue Ungerechtigkeiten. Oder, anders gesagt: Die einzige Lösung, die in die Zukunft weist und keine weiteren Grenzen zwischen den Menschen schafft, ist nicht die Lösung, die auf die «weiße Arbeiter*innenklasse» oder «die Flüchtlinge» zugeschnitten ist, sondern die, die es schafft, für alle, denen etwas Bestimmtes fehlt, einen Ausweg zu bieten. Sie schafft Gemeinsamkeiten auf der Grundlage der simpelsten und grundlegendsten Form von Identität: der als Mensch. Und die Linke hätte der illusorischen und abstrakten Sicherheit der Nation endlich etwas Konkretes entgegenzusetzen.