Dass sich das europäische Institutionengefüge in einer solchen Hegemoniekrise befindet, wird immer offenkundiger: Nachdem der europäische Frühling auch dieses Jahr zuerst in Spanien ausgebrochen ist und diesmal mehrere Generalstreiks in der Lage waren, die Verwertungsprozesse zu unterbrechen, ließ die spanische Regierung mit einem Gesetzesentwurf aufhorchen. Mittels einer »Reform« des Strafgesetzbuches sollen künftig Demonstrationen oder Prostestcamps als »Anschlag auf die Staatsgewalt« geahndet werden können. Wer über soziale Medien zur Störung der öffentlichen Ordnung aufruft, riskiert sogar eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren1. Und als hätte Felip Puig angesichts der Zunahme sozialer Kämpfe den Fürsten erneut zur Hand genommen, kommentiert der katalonische Innenminister den offenkundig gegen Grundrechte verstoßenden Gesetzesentwurf mit den Worten: »Wir brauchen ein System, das den Demonstranten Angst macht.« Aber auch im Zentrum des finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes wird zunehmend mit Zwang Politik gemacht: Die deutsche Exekutive unternahm anlässlich von Blockupy Frankfurt grundgesetzwidrig den Versuch, das Recht auf Versammlungsfreiheit aufzuheben. Das Verbot aller Protestaktionen und hunderte, pauschal ausgesprochene Aufenthaltsverbote deuten auf den Versuch der »Normalisierung des Ausnahmezustandes« hin2.
Gerade diese Neuzusammensetzung des »dialektischen Verhältnisses von Zwang und Konsens« (Antonio Gramsci) charakterisiert Hegemoniekrisen. Verfolgt man den Verlauf der Krise in Europa, wird zunehmend deutlich, dass die hegemoniale Phase des Neoliberalismus nun auch im imperialen Zentrum an ihr Ende zu kommen scheint. Zur Aufrechterhaltung der herrschenden Machtverhältnisse soll notfalls Zwang die wegbrechende Zustimmung ersetzen. Die im Rahmen der EU durchgesetzten, auf Konsens beruhenden Projekte des Neoliberalismus, der Binnenmarkt und die Währungsunion, die sich als im Allgemeininteresse stehende Lösung dringlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Probleme in Szene setzen konnten, haben massiv an Zustimmung verloren. Denn die sich zunehmend entfaltende, größte Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren lässt die imaginativen Bilder des Neoliberalismus verblassen und die Ausstrahlungskraft seiner Projekte schwinden.
Und auch wenn das europäische Institutionengefüge, dessen Teil die nationalstaatlichen Regierungen sind, beträchtliche Anstrengungen unternommen hat, die Krise als eine des mangelnden Wettbewerbes und der übermäßigen Staatsschulden neu zu interpretieren, wird diese Neukonstitution der neoliberalen Weltauffassung beständig gestört durch das Verdrängte: Gerade in der gegenwärtigen Krise wird deutlich, dass die auf Konkurrenz und Akkumulation ausgerichteten Produktionsverhältnisse ihre eigenen Voraussetzungen unaufhörlich untergraben: die Steigerung des Lohns zur Erhöhung der Nachfrage nach Gütern, die (vergeschlechtlichte) Reproduktion der »Ware« Arbeitskraft und die Regeneration der Natur. Die Vielfachkrise durchlöchert das Narrativ »neoliberaler Regierungskunst«, dass Gesellschaft dann sinnvoll eingerichtet sei, wenn all ihre Momente dem Wettbewerb unterliegen (Michel Foucault).
Eine tiefe Hegemoniekrise wird spätestens dann deutlich, wenn sich ein Teil der »organischen Intellektuellen« (Gramsci) der herrschenden Ideologie, denen gerade die Aufgabe der ständigen Universalisierung und Erneuerung dieser Denkweise zukommt, von ihren bisherigen Glaubenssätzen absetzen. Diskursfragmente wie: »Das kapitalistische System passt nicht mehr in die Welt« vom Gründer des World Economic Forums Klaus Schwab und die Aussage des FAZHerausgebers Frank Schirrmacher, dass »im bürgerlichen Lager die Zweifel immer größer werden, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang«, repräsentieren daher weit mehr als einen Sturm im Wasserglas des Feuilletons.
Aber die Krise lässt nicht nur die Ausarbeitung einer »Weltauffassung« und von »Europabildern« ins Stocken geraten, sondern durchzieht auch das zweite Moment konsensualer Herrschaft: Erst die Bankenrettungspakete und die sinkenden Einnahmen durch die Rezession haben die Schuldenstände explodieren lassen und damit die Spielräume für materielle Zugeständnisse massiv verkleinert. Nach und nach geraten die Subalternen (lat. subalternus = untergeordnet) der EU-Mitgliedsstaaten in den Fokus von Austeritäts-, d. h. Sparprogrammen, die durch das europäische Institutionengefüge verordnet und notfalls durch die »Einsetzung« seiner Verwalter (etwa Mario Monti in Italien) durchgesetzt werden.
Die Ungleichzeitigkeiten sozialer Kämpfe
Doch im Gegensatz zu den neoliberalen Sparpakten im Zuge der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion werden diese Einschnitte weder durch den aktiven, noch durch den passiven Konsens der Bevölkerung getragen: Der Syntagma-Platz in Athen, die Puerta del Sol in Madrid und der Stadtteil Tottenham in London, die emblematisch für eine Renaissance der Kämpfe in Europa stehen, befinden sich nicht zufällig in jenen Ländern, in denen bisher die härtesten Austeritätsmaßnahmen gesetzt wurden. In dieser Beobachtung kommt gleichzeitig zum Ausdruck, dass die Hegemoniekrise und die sich in ihr abzeichnende Autoritarisierung durch Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet sind: In Ländern, in denen sich kämpferische Traditionen mit den ungleichen Entwicklungen der europäischen Wirtschaft überschneiden, kam es zu heftigen sozialen Auseinandersetzungen. Vergleichsweise ruhig blieb es in den »Exportweltmeisterländern« (insbesondere Deutschland und Österreich), denen es durch Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktflexibilisierung gelang, ihre Nachfrageproblematik zu externalisieren – auch wenn selbst hier eine Konjunktur sozialer Auseinandersetzungen zu beobachten ist. Dass die Erosion von Konsens sich aber auch lange unbemerkt, subkutan verdichten kann, bevor sie sich in sozialen Kämpfen artikuliert, wurde zuletzt an den »überraschenden« Protesten gegen die Sparpolitik der rumänischen und tschechischen Regierung deutlich.
Nicht nur anhand von Spanien zeigt sich, dass gegen diese Kämpfe »institutionelle Präventivdispositive« (Nicos Poulantzas) in Stellung gebracht werden. So meinte der britische Premier im Anschluss an die Aufstände in London: »Wir brauchen einen Gegenschlag […]. Was auch immer die Polizei für nötig hält, wird ihr vom Gesetzgeber auch zur Verfügung gestellt.« In Griechenland sah sich die Regierung angesichts des Generalstreiks in einen »Krieg« gegen die Gewerkschaften verwickelt, in dem sie für »das Land siegen müsse«. Und deutschsprachige Zeitungen paraphrasieren Carl Schmitt, den Theoretiker des NSAusnahmestaates, wenn sie »eine alternative Gesellschaftsform zur Demokratie« einfordern. Der italienische Philosoph Antonio Gramsci hat vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre diese Konstellation als Interregnum beschrieben: »Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ›führend‹, sondern einzig ›herrschend‹ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.«
Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus?
Nichts verdeutlicht den Umstand, dass der Neoliberalismus trotz des zunehmenden Verlustes seiner führenden Qualität noch absolut herrschend ist, deutlicher als die 2011 beschlossene Economic Governance und der Fiskalpakt, der im Laufe des Jahres 2012 ratifiziert werden soll3. Denn nicht nur auf der nationalstaatlichen Ebene des Europäischen Institutionengefüges werden Zwangsapparaturen in Stellung gebracht. Mit den angesprochenen Maßnahmen soll die europäische Wirtschaftspolitik mit einer europäischen Schuldenbremse, einem Verfahren zur wettbewerblichen Restrukturierung und einem automatischen Austeritätsmechanismus bewehrt werden. Zugespitzt geht es um austerity forever. Die derzeitigen Austeritätsund Restrukturierungsprogramme der »Problemstaaten« sollen auf alle Mitgliedstaaten ausgedehnt und durch ihre Verrechtlichung auf Dauer gestellt werden. Um die Maßnahmen auch gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen, sind repressive Momente in Form von Geldbußen vorgesehen4.
Während die Economic Governance ohne Rechtsgrundlage in der Europäischen Verfassung beschlossen wurde, geht der Fiskalpakt noch einen weiteren Schritt in Richtung Autoritarisierung. Aufgrund seines Charakters als völkerrechtlicher Vertrag unterläuft der Pakt auch noch die geringen demokratiepolitischen und rechtsstaatlichen Garantien des Europarechts: Der wegbrechende Konsens führt dazu, dass zur Fortsetzung der neoliberalen Integrationsweise auch noch Verfahren der formalen Demokratie (wie das Änderungsverfahren der »Europäischen Verfassung«) und grundlegende Kategorien der Rechtsform unterlaufen werden. Die Economic Governance, der Fiskalpakt und die institutionellen Präventivdispositive auf der nationalen Maßstabsebene des Europäischen Institutionengefüges sind darüber hinaus durch eine Aufwertung der Exekutivapparate und eine Entwertung jener Terrains gekennzeichnet, auf denen die Forderungen der Subalternen noch vergleichsweise günstige Ausgangsbedingungen haben (zum Beispiel Parlamente). Die Hegemoniekrise in Europa und ihre affirmativen Lösungsversuche können daher mit dem Begriff autoritärer Wettbewerbsetatismus gefasst werden5.
Ob sich diese »Lösungsversuche« langfristig durchsetzen können, ist allerdings offen und Gegenstand der katalysierten, gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Der Ausbau repressiver Herrschaftstechniken darf jedenfalls nicht als reine Stärkung der neoliberalen Gesellschaftsformation verstanden werden. Auch wenn sie wohl nie herrschender war als heute, lässt der Verlust ihrer führenden Momente sie spröde werden und verknöchern. Letztlich geht es darum, ob sich das herrschende Institutionengefüge ungestört so rekonfigurieren und einrichten kann, dass es erneut »Glauben machen kann«. Eine Frage, die nicht zuletzt entschieden wird, wenn die Subalternen in Europa zusammenströmen und, um es mit Thomas Seibert zu sagen, die »Demokratie der Plätze« in Gang setzen: »Alle zusammen, jede für sich.«