»I now prophesy that I will dismember my dismemberer.«
»Nun prophezeie ich, dass ich den verstümmeln werde, der mich verstümmelt hat.«
H. Melville
Im letzten Jahrzehnt waren wir mit der Neudefinition von Machtverhältnissen zwischen Kapital und Kämpfen konfrontiert. Seit dem Ende der 1950er bis in die 1970er Jahre mehrten sich in verschiedenen Ländern antikoloniale Unabhängigkeitskämpfe, Antikriegs- und Studierendenbewegungen und Arbeiter_innenkämpfe, die einander solidarisch verbunden waren: Es war der Versuch, eine Stimme unter den heterogenen Revolten zu finden. Neu entstehende Bewegungen wiesen auf eine weltweite Opposition jenseits von Erste/Dritte-Welt-Einteilungen hin. Das Kapital antwortete auf diese Kämpfe mit zunehmender Kontrolle durch internationalisierte ökonomische Institutionen und mit neuen Formen der Akkumulation.
Seitdem hat sich der Kapitalismus zur gegenwärtigen globalisierten Biofinanzmacht gewandelt. Diese zeigt seine Fähigkeit zu Repression und zum Ignorieren von Dissens und aktuellen Bewegungen: Das koloniale westliche System kehrt in der globalen Krise zu seinen Wurzeln, zurück. Die Auslagerung industrieller Fertigung in außereuropäische Länder war ein Ergebnis von Arbeitskämpfen; Peacekeeping-Operationen und Antiterrorismus waren die Begriffe für permanenten globalen Krieg; die Zirkulation von Gütern und das Ziehen von Grenzen für Menschen bildeten den Rahmen für Globalisierung; gemeinsames Wissen wurde in der Prekarität enteignet; unsere Körper sind heute Orte der Kontrolle sowie der Produktion, ausgeschlossen von jeglicher sozialer Sicherheit. Die Krise dient als Vorwand, um soziale Sicherungssysteme abzubauen und Rechte zu beschneiden. Gleichzeitig sichert sie das Überleben des Finanzkapitalismus.
In diesem Kontext haben revolutionäre Frühlinge, #occupy, Bildungsbewegungen und acampadas, Streiks und großstädtische Blockaden die Opposition zum Biokapitalismus vergrößert. Diese Kämpfe müssen Formen transnationaler Verbindung finden, gemeinsame Praktiken teilen, neue Strategien austauschen, ein neues politisches Lexikon finden, kurzgesagt, Tumulte mit gemeinsamen Institutionen kombinieren, also Kämpfe mit realer Demokratie.
Die Krise des provinzialisierten Europas
Der bengalische Historiker Dipesh Chakrabarty wies vor fast zehn Jahren auf den anhaltenden Prozess der »Provinzialisierung Europas« hin. Er beschreibt das Ende der Zentralität westlichen Denkens und die Deterritorialisierung seines gewälttätigen Humanismus im Westen.
Seit dem Beginn der globalen Krise haben mehrere westliche Intellektuelle auf die Möglichkeit eines Endes der Europäischen Union hingewiesen. Kürzlich hat Étienne Balibar behauptet, dass Europa ein totes politisches Projekt sei, wenn es keinen radikalen Neustart gebe. Die Konstruktion Europas vor fünfzig Jahren basierte auf einer »uralten Utopie«. Grundlage war nach der Umsetzung des Marshallplans die Einführung eines gemeinsamen europäischen Marktes, die freie Zirkulation von Gütern innerhalb der sogenannten Festung Europa, die Wechselseitigkeit von Politiken zwischen den Nationen der Union, und die fortschreitenden Beschäftigung von Niedriglohn-Arbeitskräften aus postkolonialen und peripheren Ländern.
Die Änderung des Schengen-Abkommens, die darauf abzielt, die turbulenten Migrationsströme in die EU zu stoppen und Fremdenfeindlichkeit und Neonazismus bedient ist keine Restauration der nationalstaatlichen Funktion. Die Mitgliedsstaaten sind im Gegenteil unter der Kontrolle der Troika ihrer ökonomischen Macht beraubt, als »kommissarische Diktatur« setzt sie die Zwangsregeln der Banken um, verteidigt deren Gewinne und regelt den Migrationsfluss abhängig von der jeweils benötigten Arbeitskraft. In diesem Szenario hat sich die Bedeutung des alten Europa radikal gewandelt, wie Balibar deutlich macht: »Europa, oder der größte Teil davon, wird eine brutale Zunahme von Ungleichheit erfahren: einen Zusammenbruch der Mittelklasse, eine Abnahme qualifizierter Jobs, eine Verlagerung von »flüchtigen« produktiven Branchen, eine Regression von Wohlfahrt und sozialen Rechten und eine Zerstörung der kulturellen Industrie und allgemeiner öffentlicher Dienstleistungen.
In der gegenwärtigen Arbeitsteilung ist die alte Struktur von Nord/ Süd- und West/Ost-Gegensatz größtenteils zusammengebrochen: Die atlantische Hegemonie ist weit überholt und Europas politische und ökonomische Macht fest im Griff eines unumkehrbaren politischen Erdrutsches.
Multiplizierte Grenzen und neue Gehege
Der Biofinanz-Kapitalismus ist weit davon entfernt, ein sicherer Sieger zu sein. Europa ist immer noch ein umkämpftes Terrain, auf dem immer wieder unerwartete Szenarien entstehen. »Geobodies« formen unterschiedliche Bilder vom europäischen Raum, Migration ist ein zentrales Thema auf der Agenda der Mitgliedsnationen. Solange vor allem die Jugendarbeitslosigkeit dramatisch wächst und individuelle Wünsche weit entfernt von jeder Erfüllung sind, werden hochqualifizierte »PIIGS« nach Norden migrieren und Fluchtwege jenseits aufkommender neuer Grenzen zeichnen.
2011 migrierten mehr als 200000 Menschen aus den PIIGS Ländern (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) nach Deutschland: Ingenieur_ innen, Ärzt_innen, Computerexpert_innen, Sozialarbeiter_innen und Forscher_innen entziehen sich dem Austeritätskessel. Dazu stiegen die Anmeldungen für Deutschkurse um 43 Prozent in Spanien, 22 Prozent in Griechenland und 17 Prozent in Italien. Sprache ist die erste Grenze, der Migrant_innen begegnen und sie ist effektiver als Mauern. Deutschland verstärkt seine steile Hierarchie indem die Einreisebedingungen differenziert werden und nur diejenigen unterstützt werden, deren Arbeitskraft benötigt wird. So erhalten 7.4000 Ingenieur_innen Sprachkurse und Unterkunft auf Kosten des Staates. Auf der anderen Seite behält Deutschland Sozialleistungen seinen Staatsbürger_innen vor.
Wenn Europa vor der Krise als kaum einnehmbare Festung gedacht wurde, die von »im Außen» lebenden Migrant_innen begehrt wird, besteht nun ein komplexes Geflecht von Hierarchien innerhalb der Grenzen. Dazu gehören komplizierte Voraussetzungen für die Staatsbürgerschaft, Sprachgrenzen, Hierarchisierung anhand von erwünschten Qualifikationen und rassistische Profilerstellung innerhalb Europas. So verwundert es nicht, dass die EU-Regierungen im Mai das Schengen- Abkommen veränderten, um Grenzen schließen zu können, falls die Migrationsströme über das benötigte Maß hinaus anwachsen: früher war dies die Ausnahme bei Proteste gegen Gipfeltreffen, inzwischen ist es alltägliches Werkzeug zum Regieren der Körper. Staatsbürger_innenschaft ist nur ein Recht, wenn sie ökonomisch zweckmäßig ist. Körper werden nur akzeptiert, wenn sie ausbeutungsfähig und entfernbar sind.
Die Unterscheidung zwischen Migrant_innen und Prekarisierten, einst benutzt um die Zugehörigkeit zum Äußeren oder Inneren der Festung zu benennen, hat einer Verschränkung Platz gemacht: Migration ist der Ort an dem wir leben, Prekarität ist die Zeit und Arbeitslosigkeit der Rahmen unserer Arbeit. Dies verweist auf eine andere Landschaft: hochqualifizierte junge Arbeitskräfte, lern- und gesinnungsflexibel, beweglich zwischen Jobs und Ländern, mit Wünschen und Erwartungen aufgewachsen, in der Lage zu kooperieren und Wissen zu teilen.
Wieder einmal ist Europa umkämpftes Terrain, sowohl Raum für Experimente der Regierungen als auch Opposition zum Kapitalismus, Boden für Xenophobie und Rassismus, aber auch heterogener Ausdruck von Kämpfen. Diese Fragmentierung geopolitischen Raumes und das Überlappen von Ausbeutungsmustern weckt Fragen über eine mögliche und dringend notwendige Neustrukturierung von Kämpfen.
Die blockupy-Mobilisierung in Frankfurt war einer der ersten Versuche, eine Verbindung zwischen Bewegungen in einem transnationalen Raum zu schaffen.
In Frankfurt erlebten wir das Gesicht eines besiegten Kapitalismus und gleichzeitig die Gewalt seiner Repression. Ohne diffuse physische Gewalt wie bei vorherigen Protesten auf globaler Ebene wurde hier der/ die Einzelne adressiert, so dass jeder Objekt eines anderen und spezifischen Verbotes wurde: Repression zielt auf die individuellen Körper. Biofinanz-Kapitalismus drückt seine Macht durch Auferlegung flexibler Ausnahmen aus, die in uns eingeschrieben werden, nach seinem Geschmack austauschbar und innerhalb seines Käfigs beweglich sind.
Im Inneren dieser multiplizierten Grenzen und neuen Gehege sollten wir eine gemeinsame Fluchtroute finden.
Transnationale Praktiken sind unser Anfang
As consistently as possible I use beginning as having the more active meaning, and origin the more passive one: thus »X is the origin of Y,« while »The beginning A leads to B.«
»So konsequent wie möglich benutze ich den Begriff Anfang, um das Aktive anzudeuten und Ursprung für das Passive. Während also X der Ursprung von Y ist, führt Anfang A zu B.«
E. Said
Das letzte Jahr war sicher eines der wichtigsten in Bezug auf die Intensivierung und Ausweitung von Kämpfen auf globaler Ebene. Einige Beobachter_innen gratulierten den Besetzungen zu ihrer vermeintlichen Spontaneität im Kontrast zu vorherigen organisierten Bewegungen, die die letzten zehn Jahre gekennzeichnet haben. Wir sollten die rituelle Suche nach einer Stunde Null der Bewegung aufgeben und stattdessen die aktive Multiplikation von Organisationsformen ernst nehmen, die vorherige verändern und sie gleichzeitig bewahren.
Wir bevorzugen den Begriff »Anfänge» wie Edward Said ihn definiert hat. Während die Spontaneität an das erste Erscheinen, einen Ursprung erinnert, hat der Anfang eine aktive Bedeutung, die Fähigkeit zu verbinden: Er deutet einen Prozess an, der sich durch innovative Formen von politischer, sozialer und sprachlicher Organisation definiert. In diesem Sinne ist die #global change-Bewegung ein Anfang.
Es ist der Anfang von Kämpfen gegen die Austeritätspolitik, die neue Formen von sozialer Sicherheit auch gegen den Nationalstaat denkbar macht. Tatsächlich ist die nationale Perspektive mit ihrem Latein am Ende, wie uns die dramatische griechische Situation gezeigt hat: Auch einem starken und gut etablierten Widerstand gelingt es nicht, die neuen Formen von Diktat herauszufordern, die zwar auf nationalem Gebiet Anwendung finden, aber außerhalb vom Regierungsort entschieden werden.
In der globalen Krise kann der nationale Raum nicht das strategische Kampffeld sein. Wir können nicht gegen die italienische Arbeitsmarktreform protestieren, ohne eine Koalition mit den spanischen acampadas einzugehen, wir können ohne eine Allianz mit griechischen Bewegungen keine starke Opposition zur Schuldenpolitik aufbauen. Die systematische Attacke gegen die »99 Prozent», die in den PIIGS-Ländern leben, muss auf einen starken transnationalen Widerstand unter diesen Bewegungen treffen. Solidarität bedeutet verschiedene Proteste zu verknüpfen und gleichberechtigte Netzwerke ohne paternalistische oder mitfühlende Anklänge aufzubauen.
In den letzten Jahren sind Praktiken entstanden, die Konflikträume jenseits von Europa vergrößert und radikal verändert haben. Zunächst hat sich auf globaler Ebene in unterschiedlichen Zusammenhängen die Verwendung von Schutzschilden ausgebreitet. In der italienischen Bildungsbewegung von 2008 verliehen die Schilde in Form sogenannter »Buchblocks» der Forderung nach freier Bildung Ausdruck. Danach wurden sie bei Studierendenprotesten in Großbritannien, von Arbeiter_ innen in Asturias und an so weit entfernten Orten wie Oakland und Piñerinhos Favelas erreicht. Platzbesetzungen insbesondere in Madrid, New York City sowie Kairo wurden zu einer transnationalen Protestform. Geteilte Praktiken stärken die Solidarität.
Zweifelsohne sollten Praktiken mit der Fähigkeit kombiniert werden, Projekte hervorzubringen. An die Stelle eines festgeschriebenen Programms der Kämpfe sollten wir eine Vielfalt geteilter Projekte stellen, Wünsche in spezifische Forderungen übersetzen und alternative Lebensmodelle entwerfen. Die Herausforderung liegt darin, gemeinsame »Visionen und Lösungen« zu erschaffen und damit unseren organisatorischen Praktiken Kontinuität zu geben. Dies sind Bedingungen, um das Ein-Tages-Event des Aufstandes in zunehmende Tumulte zu transformieren. Die Kategorie des »Tumults« wurde von Machiavelli in der Renaissance entwickelt und geht der Form moderner Souveränität des Nationalstaates voraus. Der Tumult könnte beim Durchdenken des Konfliktes in der Krise nützlich sein. Auch die Bedeutung von Souveränität, Gehorsam und dem Monopol politischer Entscheidungen muss überdacht werden.
Tumulte sind die Vorbedingung, um eine reelle und radikale Demokratie aufzubauen. Darum sollten wir Europa mit den spanischen Praktiken der acampadas überziehen. Durch die Konzentration auf das Thema Demokratie konnte die Acampada Sol mit neuen mit neuen Formen netzwerkbasierter Organisation innerhalb der weitesten sozialen Zusammensetzung experimentieren.
Es ist wichtig, globale Protestformen in den Blick zu nehmen und ihre Potentiale zu erforschen. Wir sollten den gegenwärtigen Aufstand nicht als hilflosen Versuch sehen, der unfähig ist, neue Lebensformen und neue organisatorische Mittel und Institutionen hervorzubringen. Vielmehr glauben wir, dass die gegenwärtigen globalen Unruhen das Ende der autoritären Institutionen der Moderne beschreiben, seien es Diktaturen oder liberale Demokratien.
Der letzte Globale Mai hat erstmals alle diese Praktiken und Experimente miteinander verbunden. Jetzt könnten wir auf den nächsten Herbst als Möglichkeit setzen, die Straßen Europas jenseits von Grenzen einzunehmen und soziale Netzwerke ungeachtet ihrer nationalen Spezifität zu durchziehen. In den Grenzen des Troika-Unionismus müssen wir den Euro-mediterranen Raum gemeinsamer Institutionen ablehnen; gegen die vom Biofinanz-Kapitalismus auferlegte innere Kolonisierung – dismember our dismemberer.