Fadensonnen
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baumhoher
Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
Paul Celan
*
What is forgiveness? It’s just a dream
What is forgiveness? It’s everything
Trail of Dead: Another Morning Stoner
Einen
Moment lang
weiß ich nicht, wo ich bin.
Offenbar, folgere ich dann, hast du sie wohl eingeladen, das hier ist deine Party, Dieseleute sind deine Freunde, Dieser Raum ist dein Wohnzimmer. Und ja, du bist gerade aus dem Bad gekommen und jemand erzählt dir von den sonnigen Inseln, wo er selbst gerade herkommt, du nickst und siehst ein frisch verliebtes Paar sich ansehen: Augeninseln mit Palmen, mit Tempeln füreinander. Und du kommst aus der Küche, in jeder Hand ein Glas, für wen das andere war, hast du vergessen, wie man das wohl macht, mal jemand Festes zu finden?, was darf ich hoffen?, ist Musik nun das Opium des Volkes?, fragt eine junge Frau, und du zweifelst sehr daran, die letzten Fragen richtig verstanden zu haben, als ein junger Mann, ein Freund wohl, eine hungrige Verliebtheitsgeschichte beginnt, und du, immerhin Gastgeber, ihn sich satt erzählen lässt an dir. Und jemand zeigt dir Bilder von den Glücklichen Inseln, wundervollen Gegenden, wo man tatsächlich leben könne, wenn man nur Boote hätte, du nickst, während du einigen Leuten hinterherblickst, die deine Party bereits verlassen. Die haben anscheinend was Besseres vor, denkst du und scheinst dir die Seele aus dem Leib, redest, redest Perlen vor die Säue!, denkst du, die reinste Sprachvergeudung, gibt es hier keine besseren Leute?, greifst du dir schnell jemand aus dem Türrahmen, ihr küsst euch heftig, zwei verletzliche Türme aus Vorstellungen, komm näher, bleib mir vom Leib.
Und du kommst aus dem Badezimmer, your temple, wo du dir die Lippen abgewischt und neu gezogen hast, was hat das alles hier mit mir zu tun?, fragst du dich, ist das alles denn überhaupt noch gültig, sind wir noch gültig?, und zum Fenster raus ist da auch schon der nächste Morgen, Fadensonnen über der grauschwarzen Ödnis, und du suchst nach deiner Heimatinsel, vorübergehend ist da dein Gesicht im Dielenspiegel, unglaublich müde, deine Augen zwei dunkelblaue Steine. Offenbar verstehst du es nicht einmal mehr, dich erfolgreich zu betrinken, stehst du minutenlang in der Diele, unschlüssig, ob du zurückgehen sollst in Diesenraum. Dann änderst du die Richtung, um verloren zu gehen, du schließt eine Tür ab. Drehst lauter. Der Player im Bad hatte so was wie ein Partygimmick sein sollen, nun ist die Akustik eine Offenbarung an Weite und Hall: Your Bathroom, Your Church! And You Will Know Us By The Trail of Dead, Another Morning Stoner. Vielleicht auch eine andere Band, ein anderer Song, eine ganz andere Art Musik, jedenfalls das, was du in letzter Zeit mehr als alles andere gehört hast, weil es auf unglaubliche Weise alle deine Herzensthemen verbindet: Are you asleep, are you in a dream? / The copper shades of a morning. Deine Augen nun halb geschlossen und auf der Fensterbank schemenhaft jene Armee von Pflegemitteln, Spraydosen, Tabletten - ferne Lichter, Schatten, ein kupferfarbener Schraubverschluss. Schriften scheinen auf. Und verblassen wieder. Während du dich vom Rausch, vom Sog des Songs immer weiter ziehen lässt, immer weiter hinein, direkt bis ins Zentrum deines Doppellebens: Einerseits geführt an all den öffentlichen Plätzen, den Straßen, Büros, Geschäften, Stränden, Taxiständen, Clubs, Parks, Cafes, Bars - und die Reihe deiner sozialen Selbstversuche, Körperversuche, Ich-Erzählungen allerorten letztlich doch immer nur Darstellungen deiner chronischen Getrennheit von Diesenleuten. Doch andererseits, jenseits davon: Dein eigentliches Leben, privat und insgeheim geführt im zweckfreien Raum von Klang, Idee, Sprache. Die Besseren Inseln liegen jenseits der öffentlichen Plätze, denkst du nun heftig, da sind noch Lieder, unwritten songs of another day, zu singen jenseits der Menschen. Und du überlässt dich nun völlig der Musik. Die dich auf eine Weise berührt, wie es die Leute, die du kanntest, nie vermocht haben. Die waren ja immer zu fern. Zu wenig. Zu flüchtig. Und dass es für immer genau so bleiben könnte, dass auch jeden weiteren Tag deines Lebens Menschen nie so wahr, so wirklich sein werden wie das hier, I fear that you would never be / Every song in the world for me, scheint als Furcht kurz auf. Und verblasst wieder. Denn hier sind ja Klarheit, Rausch, Nähe, Weite, Verstehen, Ewigkeit und – ein baumhoher Gedanke greift sich den Lichtton – Liebe. Und so ruft deine Seele nach mehr. Nach mehr Liedern. Und genau an dieser Stelle öffnet sich der Song weit, instrumental. Und weil so beschworen, ist sie nun anwesend: deine Gemeinde. Die Gemeinschaft all jener Texte, Bilder, Songs, die dir je etwas bedeutet haben, die dir so oft den Tag, das Jahr, das Leben gerettet haben wie niemand sonst. Niemand sonst. Die Sounds eurer Gedanken und Gefühle ergänzen einander vollkommen. Und, lauter nun, wie von hohen Säulen und Dachbögen widerhallend: Gitarrenglocken zu einer Klangkathedrale nach noch mehr Liedern. Noch mehr Liedern. – Und jetzt, genau in diesem Moment, in dem sich für dich, Your Bathroom, Your Church, alles verbindet und die Welt schön und groß und einsam ist, und unglaublich komplett, geschieht etwas: Jenseits deiner eigenen Party, Why is a song the world for me?, und so weit entfernt von der Menschenwelt, wie man nur irgend sein kann, wird dir mit einem Mal klar, was dieser Song dir bedeutet. Gar nichts. Dieser Song bedeutet dir gar nichts. Und er bedeutet dir alles, weil in ihm deine Seele nach den Menschen ruft. Nicht nach mehr Liedern. Nach den Menschen. Und niemand sonst.