«Wir fordern Lösungen! Was bekommen wir: Repression, Repression und haufenweise Knüppel!»
Eine Chronologie der Ereignisse
Am 2. Mai legten die Studierenden der Universidad Nacional de Colombia (UNAL) in Bogotá den Universitätsbetrieb lahm, verkündeten einen zweitägigen Streik und riefen die asamblea general (Vollversammlung) ins Leben. Damit erreichte die schon seit Monaten anschwellende Auseinandersetzung zwischen den Studierenden und dem kolumbianischen Staat eine neue Qualität.
Die Wut einzelner Jugendlicher wurde beim Staatsbesuch von George W. Bush auf den Straßen der Hauptstadt entfacht. Die kolumbianische Exekutive ging daraufhin – bis an die Knochen bewaffnet – in die Offensive. Einige Hundert entkamen jedoch der versuchten Einkesselung, der exzessiven Gasbedröhnung und den nicht gerade zögerlich eingesetzten Knüppeln und legten die Septima, eine der wichtigsten Geschäftstraßen der Stadt, auf einer Länge von zwei bis drei Kilometern in Schutt, Asche und Scherben; eine Horde aufgebrachter Jugendlicher gegen Banken, Fastfood-Ketten, Möbel- und Autohäuser. Kurz darauf wurden in den Abendnachrichten erste Fahndungsfotos präsentiert.
Schließlich der 1.Mai. Die Massen zogen durch die Straßen. Und am Ende kam es, wie es (wohl) kommen musste: Die Situation eskalierte. Im historischen Zentrum der Stadt, am Plaza de Simon Bolívar, kam es zu Ausschreitungen zwischen Studierenden und den schwer bewaffneten Polizeieinheiten, die Veranstaltung wurde unter massivem Einsatz von Tränengas binnen weniger Minuten aufgelöst. Willkürlich wurden Leute verhaftet. In den Medien wurde zur Denunziation von an der Kundgebung beteiligten Studierenden aufgerufen, sogar Kopfgelder wurden ausgesetzt. Die Stigmatisierung der Studierenden als „Terroristen“ begann. Vor diesem Hintergrund bekam der für die darauf folgenden Tage veranschlagte Streik der UNAL eine unerwartet dynamische Dimension. In der asamblea general versammelten sich zigtausende Studierende, ProfessorInnen und ArbeiterInnen der Universität und protestierten gegen die Kriminalisierung des sozialen Protestes und forderten die Verteidigung der öffentlichen Bildung gegen das aktuelle Reformprogramm der Regierung, welches in den nächsten Tagen durch den Kongress gebracht werden sollte.
Der Nationale Entwicklungsplan
Dieser sieht u. a. vor, die umfassende Budgetierung verschiedener öffentlicher Institutionen einzuschränken und einen Teil der Kosten den Universitäten, Schulen, Spitälern selbst aufzubürden. Das finanzielle Überleben der Universitäten wird einer strengen Marktlogik unterworfen. Da die staatlichen Subventionen nicht ausreichen, muss verstärkt auf andere Einkommensquellen wie Drittmittel-finanzierte Forschungsprojekte zurückgegriffen werden oder – und hier wurzeln letztlich die aktuellen Proteste – die Studiengebühren werden deutlich erhöht. Dass die öffentlichen Universitäten dadurch existenziell bedroht sind, zeigt das Beispiel der Universidad del Atlantico, die schon vor Jahren einer ähnlichen Umstrukturierung unterzogen wurde. Die Universität an der kolumbianischen Karibikküste erlitt Ende 2006 einen Finanzkollaps und ist seither bis auf Weiteres geschlossen.
Aus sozialpolitischer Sicht ist zu beachten, dass das Bildungssystem Kolumbiens bereits einen stark elitären Charakter hatte. Auch wenn das Recht auf Bildung und dessen staatliche Finanzierung in der Verfassung verankert ist, wird der öffentliche Sektor (auch) in diesem Bereich ausgehungert. Die Folge ist eine selbst im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern auffällig starke Präsenz von privaten Bildungseinrichtungen. Bei der so genannten Höheren Bildung (Universitäten, Akademien, etc.) betrifft dies bereits über 70 % der Studienplätze. Zu diesen Eliteeinrichtungen hat der überwiegende Teil der kolumbianischen Bevölkerung freilich keinen Zutritt. Nur die öffentlichen Universitäten waren für einzelne Angehörige unterer sozialer Schichten ein Eintrittstor in den akademischen Sektor. Die schrittweise Privatisierung wird jene Bevölkerungsteile – Verfassung hin oder her – sukzessive weiter ausschließen und marginalisieren.
Abseits dieses grundlegenden Konfliktes rund um den Erhalt einer frei zugänglichen Universitätsbildung (der in der einen oder anderen Form ähnliche Grundzüge weltweit aufweist), wurden die Proteste obendrein ganz und gar in die gesamtgesellschaftliche kolumbianische Politik eingebettet.
Uribes Law-and-Order-Politik
Wir sind keine Terroristen! schrien tausende Studierende in Sprechchören. Und: Terrorist ist der Staat, der mordet und [Menschen] verschwinden lässt! Derlei Bekenntnisse innerhalb von Protesten gegen Bildungsabbau wirken für Außenstehende erst einmal befremdlich. Was bemüßigt eine – offensichtlich nicht-militante – Studierendenbewegung zu derlei Klarstellungen?
Die „Demokratische Sicherheit“, könnte die Antwort verkürzt lauten. Mit diesem Konzept ist Alvaro Uribe 2002 an die Macht gekommen. Es handelt sich dabei um ein Programm einer stark militarisierenden Law & Order- Politik, welche Uribe – gestützt von massiven internationalen Geldflüssen – konsequent umgesetzt hat. Dabei konnte er sich auf die unter seinem Vorgänger gescheiterten Friedensverhandlungen mit der Guerilla FARC (Revolutionäre Bewaffnete Streitkräfte Kolumbiens) stützen, welche die kolumbianische Öffentlichkeit für eine militärisch orientierte “Lösung” des internen bewaffneten Konfliktes empfänglich gemacht hatte. Die weltpolitischen Umbrüche in Folge von 9/11 gaben Uribes massiver Aufrüstungspolitik zusätzlichen Rückenwind. Der Kampf gegen die Aufständigengruppen wurde nun 1:1 zum berüchtigten „Krieg gegen den Terror“ umgeschrieben. Die Parole “Wer nicht für uns ist, ist gegen uns” konnte von Washington übernommen werden. In Kolumbien wurde diese Strategie jedoch vor allem gegenüber oppositionellen kolumbianischen AkteurInnen radikalisiert. Die schon in den ersten Monaten der Amtszeit Uribes stattgefundenen Repressionswellen (Massenverhaftungen, Militarisierung, etc.) sorgten für gehörige Kritik nationaler wie internationaler Menschenrechtsgruppen. Uribe antwortete darauf öffentlich mit der Unterstellung der unzweifelhaften Kollaboration jener NGOs mit den Guerrillas. Auf der uribischen Liste vermeintlicher „Terrorgehilfen“ hatte nun jede regierungskritische Organisation ihren Fixplatz, darunter Amnesty International, Human Rights Watch oder Ärzte ohne Grenzen. Außerdem Gewerkschaften, Frauenrechtsgruppen, alternative Friedensinitativen u. v. a. In diesem Kontext ist es zu verstehen, wenn tausende Studierende im ganzen Land pauschal unter Terrorverdacht gestellt werden. Und das von einem Präsidenten und einer Regierung, deren eigene Weste alles andere als blütenweiß strahlt.
Während Uribes Gouverneurszeit in der wichtigen Provinz Antioquia waren die paramilitärischen Todestrupps in bis dahin unerreichter Geschwindigkeit entstanden. Durch die kurzfristige gesetzliche Legalisierung militarisierter Sicherheitsdienste in privater Hand hatte Uribe das Entstehen des paramilitärischen Terrors dabei aktiv gefördert: Diese Einheiten waren wenig später in den paramilitärischen Strukturen der AUC (Vereinigte Selbstverteidiger Kolumbiens) aufgegangen. Es folgten strategische Verfolgung und Ermordung politischer AktivistInnen und kritischer Stimmen sowie die Säuberung ganzer Stadtviertel und Landesteile. Medellín, die Hauptstadt der Provinz, schaffte unter Gouverneur Uribe Ende der 1990er den Sprung auf Platz eins innerhalb der weltweiten Mordstatistiken. Seit einigen Monaten ist zudem das Schlagwort der parapolitica in aller Munde. Gemeint sind damit die zahlreichen Verstrickungen aktiver Politiker, Polizei und Militärs in paramilitärische Strukturen. Sogar die hiesigen Massenmedien konnten sich den Aufdeckungen im Paraskandal nicht weiter entziehen. Kritische Stimmen klagen diese Zusammenhänge schon seit Jahren an. Trotzdem kann Uribe noch auf überraschend hohe Unterstützung von Seiten der Bevölkerung zählen. Sein autoritärer Kurs sowie seine Politik der harten Hand scheinen für eine Mehrheit der kriegsmüden kolumbianischen Bevölkerung offenbar eine gewisse Anziehungskraft auszustrahlen; eine Art von Hingabe unter eine starke Führungsfigur. Uribe inszeniert sich dabei bewusst als Präsident des Volkes, der für den Frieden einsteht, die AUC – unter weitgehender Straflosigkeit – zur Demobilisierung bewegte (wenngleich die Paramilitarisierung des Staates unter anderen Namen freilich fortbesteht), jedoch die zu selbigem Schritt nicht bereiten Guerrillas mit aller Entschlossenheit bekämpft. Die hierbei der Bevölkerung vermittelte Legitimität politischer und militärischer Gewalt richtet sich nicht allein gegen tatsächliche Guerrillastrukturen, sondern allem voran auch gegen jegliche politische Opposition.
Das Ende der Proteste
Umso erstaunlicher die Dynamik, die die aktuelle Protestbewegung im Mai erlangen konnte. Die Studierenden, ProfessorInnen, LehrerInnen und ArbeiterInnen schafften eine Mobilisierung, wie sie in Ausmaß, Reichweite und Kontinuität unter Uribe bislang nicht zustande gekommen war. Der Aufstand im Namen des freien Bildungszugangs wurde somit zugleich zur Anklage gegen staatliche Repression, die paramilitarisierte Regierung, soziale Ungleichheit, fortgesetzte Aufrüstung, den aktuell diskutierten Freihandelsvertrag mit den USA und schließlich unausweichlich: gegen die Kriminalisierung des sozialen Protests als solchen. Zwischenzeitlich befanden sich beinahe alle öffentlichen Universitäten des Landes im Streik.
Am 23. Mai schließlich folgte ein Nationalstreik, an dem sich nach Schätzung des mitgliederstärksten Gewerkschaftsdachverbands Kolumbiens CUT bis zu einer Million Menschen beteiligten. Rund 69 Schulen schlossen sich den streikenden öffentlichen Universitäten an. Uribe sprach daraufhin von einer Vereinnahmung der Universitäten durch terroristische Gruppen und ließ die besetzten Schulen und Universitäten Stück für Stück räumen: Die sozialen Zentren der Protestorganisierung mussten zerschlagen werden.
Mit dem 2. Juni erfolgte die von den Protestierenden lang befürchtete Räumung des Campus der Universidad Nacional in Bogotá. Nach genau einem Monat mussten die BesetzerInnen ihre Zelte mitten in der Nacht abbrechen. Uribe hatte via TV den Exekutivkräften die Erlaubnis zum unmittelbaren Einrücken in die Universitäten gegeben. Dort wo die öffentlichen Universitäten nicht widerstandslos geräumt wurden, wie zum Beispiel in der Provinz Caldas, kam es zu Stürmungen mit Massenverhaftungen. Daraufhin wurde das aktuelle Studiensemester offiziell unterbrochen und die vorläufige Schließung aller Sitze der Universidades Nacionales erklärt. Die Studierenden wurden in Zwangsferien geschickt, das Betreten der Universitätsgelände blieb ihnen untersagt. Das Fehlen von räumlichen Versammlungsmöglichkeiten erwies sich schlussendlich als Todesstoß für die angeschlagene Bewegung. Bei Wiederaufnahme des Unibetriebs in Bogotá Anfang August waren alle Spuren des Widerstands konsequent beseitigt worden. Die unzähligen kunstvollen Wandbemalungen innerhalb des Campus waren weiß überstrichen, jene, die sich im Streik besonders exponiert hatten (allen voran die ArbeiterInnen der Universität), waren mit Disziplinarverfahren sanktioniert worden. Die asamblea general, das demokratische Entscheidungsorgan des Protestes, wurde für „illegitim“ erklärt. Darüber hinaus wurden landesweit dutzende Studierende des Vandalismus, der Rebellion, etc. angeklagt, unter ihnen sieben Studierende der Universität von Buacaramanca – einer Provinzhauptstadt –, die sich wenige Wochen später auf der Todesliste der Aguilas Negras (sich neu formierende paramilitärische Verbände) wiederfanden.