Selbst die Richtigstellung, die Bernhard Schmid eine Woche später in derselben Zeitung veröffentlichte, konnte den Siegeszug dieser kleinen Propagandalüge nicht mehr stoppen. Seit über drei Jahren wiederholen „islamkritische“ Autor_innen diesen gefälschten historischen Verweis mit einer Beharrlichkeit, als könne sie die schlichte Tatsache, dass der nach europäischen Wortbildungsregeln konstruierte Terminus „Islamophobie“ weder im Persischen noch im Arabischen existiert, überhaupt nicht erschüttern.
Tatsächlich erhielt die Vokabel, welche sich erstmalig 1922 in Etienne Dinets L’Orient vu de l’Occident belegen lässt, ihre klassische Definition durch einen Bericht des Runnymede Trust mit dem Titel Islamophobia: A Challenge for Us All (1997). Der antirassistische Think Tank aus Britannien legt darin einen bis heute tauglichen Katalog von Kriterien vor, mit denen seriöse Verwendungsweisen des Begriffs von islamistischer Propaganda unterschieden werden können. Denn natürlich wird der Begriff auch von europa-basierten fundamentalistischen Gruppen wie der englischen Hizbut-Tahrir missbraucht, um sich den Zumutungen der Kritik zu entziehen. Doch solchen Instrumentalisierungen unterliegen auch andere solcher Begriffe, wie etwa die regelmäßige und pauschale Denunziation von Kritiker_innen der israelischen Siedlungs- und Besatzungspolitik als vermeintliche „Antisemit_innen“ beweist.
Es ist also sinnvoll, Begriffe der Vorurteilsforschung im Kontext realer Konflikte und Auseinandersetzungen so weit einzugrenzen, dass ihrer beliebigen denunziatorischen Verwendung Grenzen gesetzt sind. Nach der Definition des Runnymede Trusts liegt Islamophobie unter anderem dann vor, wenn 1. der Islam als ein monolithischer Block betrachtet wird, der statisch und unempfänglich für Veränderungen sei; 2. er als gesondert und „anders“ gesehen wird, ohne gemeinsame Werte mit anderen Kulturen und ohne von diesen beeinflusst zu sein oder diese zu beeinflussen; 3. er als dem Westen unterlegen, barbarisch, irrational und sexistisch konstruiert wird; und 4. er ausschließlich als gewaltsam, aggressiv, bedrohlich, terroristisch und kulturkämpferisch wahrgenommen wird.
Die islamophobe Szene
Es wäre nun völlig verfehlt, mit diesem Katalog im Rücken Meinungsumfragen à la Wilhelm Heitmeyer zu konzipieren, um die quantitative Verbreitung von Islamophobie in der deutschen Bevölkerung zu eruieren. Denn was man dort erfasst, ist noch immer mehrheitlich völkischer Nationalismus und vulgärer Ausländerhass. Islamophobie hat, zumindest hierzulande, seine Bedeutung nicht als Massenphänomen, sondern als Elitendiskurs, der es beträchtlichen Teilen der linken, liberalen und konservativen Intelligenz ermöglicht, Ressentiments gegen Migrant_innen und Antirassist_innen in einer Form zu artikulieren, die sie zugleich als glühende Verfechter_innen der alteuropäischen Aufklärung erscheinen lässt. Was Islamophobe türkisch- und arabischstämmigen Leuten zum Vorwurf machen, ist etwas, das die Mehrheit der Deutschen vermutlich gar nicht als solchen begriffe: gegen Juden und Israel zu sein, Schwule nicht zu mögen und Frauen sexistisch herabzustufen – alles gängige Formen der deutschen Alltagspraxis, die im islamophoben Diskurs aber als spezielle Eigenschaften muslimischer Einwanderer konstruiert werden und sie als Mitglieder der deutschen Gesellschaft disqualifizieren sollen.
Charakteristisch ist hierbei der Einsatz konspirationistischer Bilder, z.B. wenn die ex-linke italienische Starreporterin Oriana Fallaci, einer der Köpfe der islamophoben Bewegung, muslimische Immigrant_innen in Europa als Vorhut einer geplanten Invasion begreift1 oder die frühere Kalaschnikow-Redakteurin2 Gudrun Eussner die Riots in den französischen Banlieues als eine von Islamisten gelenkte „Vorstadt-Intifada“3 konstruiert. Im März 2006 war Eussner auch Teilnehmerin eines internationalen Symposions des konservativen „Front Page Magazines“, einer in der deutschen islamophoben Szene vielzitierten Internet-Zeitung, die von dem ehemaligen Marxisten und heute prominenten US-Rechten David Horowitz herausgegeben wird. Bereits einleitend heißt es in dem Transkript: „Eine muslimische Vergewaltigungsepidemie fegt über Europa – und über viele andere Nationen, die Gastgeber für Immigranten aus der islamischen Welt sind. Die direkte Verbindung zwischen den Vergewaltigungen und dem Islam ist unabweisbar, da Muslime unter verurteilten Vergewaltigern und Vergewaltigungsverdächtigen signifikant überrepräsentiert sind.”4 Die Logik ist bestechend dumm, so als könne eine statistische Korrelation – die ja z. B. auch zwischen Schuhgröße und Einkommen besteht – den Beweis für einen kausalen Zusammenhang liefern. Soziale Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Armut oder patriarchale Rollenbilder werden von vornherein zugunsten einer religiösen Interpretation ausgeklammert. Doch damit nicht genug, im Verlauf des Symposions stellt Eussner die Vergewaltigungen als Teil einer konzertieren dschihahdistischen Strategie dar, mit der die Expansion des Islam nach Europa bewerkstelligt werden solle. Nicht-muslimische Frauen würden dafür bestraft, dass sie sich nicht gemäß dem Koran verhielten. Hinter allem stünde der Softcore-Islamist Tariq Ramadan, der diese Vergewaltigungen initiiert habe, als er vorschlug, Europa nicht mehr als das „Haus des Krieges” (dessen Gesetzen man sich still unterordnen müsse, solange man in der Minderheit sei), sondern als das „Haus der Einladung zum Islam” zu betrachten.
Für Islamophobe ist der Hass gegen Muslime offenbar eine Art Antisemitismus-Ersatz. Sie mobilisieren ähnliche verschwörungstheoretische Mechanismen, wie sie traditionell in der Judenfeindschaft wirksam sind, allen voran das, was Horkheimer und Adorno „pathische Projektion“ nannten: ein Phänomen wie Vergewaltigung wird herausgegriffen, systematisch ethnisiert und schließlich anhand von Koran-Zitaten bzw. der Zuschreibung einer arabischen Kollektivpsyche entweder als hinterhältiges, planmäßiges Vorgehen zur Eroberung Europas oder als essentialistischer Ausdruck einer mit dem Westen nicht vereinbaren „Kultur“ interpretiert. Die eingeforderten Konsequenzen sind Abschiebung, gesellschaftlicher Ausschluss, Verweigerung von Grundrechten oder die Verschärfung der Zuwanderungsgesetze – wie dies z. B. der islamophobe Autor Horst Pankow in der „linken“ Zeitschrift Konkret (3/2006) fordern durfte. Manchmal werden auch offene Pogromphantasien ins Spiel gebracht, etwa wenn Oriana Fallaci in ihrem Buch Die Wut und der Stolz von ihrer Drohung gegenüber der Polizei spricht, Flüchtlingszelte mit afrikanischen Muslimen in Brand zu stecken, weil diese das Baptisterium in Florenz vorsätzlich bepissten – und dafür den Beifall des Freudomarxisten Uli Krug (Bahamas Nr. 39, 2002) erhält.
Mit Religionskritik hat das grundsätzlich nichts zu tun, auch wenn das von einigen „linken“ Vertreter_innen der islamophoben Szene anfangs noch vorgeschoben wurde. Doch mittlerweile prangt selbst auf der Titelseite der Bahamas (Nr. 51, 2006) ein Foto des fundamentalistischen Katholiken Joseph Ratzinger, der dort als Held im Kampf gegen die „islamische Invasion“ gefeiert wird. Und auch eine Zeitung wie die Jungle World weiß anlässlich der Ausführungen Benedikts XVI. über den Islam von der „erstaunliche[n] Nähe von Kritischer Theorie und päpstlicher Philosophie“5 zu berichten – die man polemischerweise wohl am ehesten in der von beiden vertretenen Homophobie erkennen darf.6
Kulturalisierung von Homophobie
Damit kommen wir zu einem Thema, das vor allem für linke Islamophobe einen Vorwand liefert, ihre Ressentiments als politisch korrekte, ja als emanzipatorische Haltung zu verkaufen. Während Pauschalvorwürfe wie der des Antisemitismus auch sachlich ins Leere laufen, da z. B. französische Muslim_innen, denen man dies während der Vorstadt-Riots Ende 2005 wiederholt anzudichten versuchte, trotz des Nahostkonflikts in überwältigender Mehrheit (71 %) eine „positive Meinung von Juden“ haben,7 scheint an der Konstruktion einer spezifisch islamischen Homophobie, glaubt man einer neuen Gallup-Studie,8 tatsächlich etwas dran zu sein. Während so z. B. 66 % der Briten homosexuelle Handlungen mittlerweile für „moralisch akzeptabel“ halten, sind es unter Londoner Muslim_innen gerade einmal 4 %. Auch in Berlin, wo Muslim_innen erheblich liberaler eingestellt sind – obwohl ihnen Religion nicht minder wichtig ist als ihren Glaubensgenossen in der britischen Hauptstadt – sind es immerhin noch 26 % versus 68 %. Doch schon bei näherem Hinsehen erweist sich dies als Teilaspekt eines größeren Zusammenhangs: Londons Muslim_innen beispielsweise sind auch in anderen Fragen wie Sex außerhalb der Ehe, Abtreibung und das Betrachten von Pornographie wesentlich konservativer eingestellt. Tatsächlich ist das der einzige Bereich, in dem Gallup wesentliche Einstellungsunterschiede festzustellen vermochte. Denn was Gewalt, Selbstmordattentate, Ehrenmorde oder gar die Todesstrafe angeht, sind Muslim_innen entweder genauso skeptisch oder übertrumpfen ihre Landsleute sogar in ihrer Ablehnung.
Aber was bedeuten diese Zahlen überhaupt und worauf lassen sie schließen? Für Islamophobe ist klar, dass hier „Kulturen“ aufeinanderprallen. Jedoch allein der Unterschied zwischen Berliner und Londoner Muslim_innen straft diese Auffassung Lügen. Ähnlich große Differenzen gibt es im Übrigen auch zwischen Deutschen und Französ_innen. Nur ist das den Kommentatoren ebensowenig ein Zeile wert wie, sagen wir, die erwartbaren Unterschiede, die sich bei einer vergleichenden Umfrage zwischen Pol_innen und Dän_innen ergäben. Was nämlich im Fall der Muslim_innen hinzutritt, ist die Tendenz zur Essentialisierung von „Andersheit“: Ihre Haltung gilt, im Unterschied zu der von weißen Europäer_innen, als statisch und unveränderbar, frei von äußeren Einflüssen und eingeschmolzen in die Grunddoktrinen ihrer Religion.
Doch sind solche Meinungserhebungen überhaupt wirklich indikativ für die Verbreitung von Homophobie? Kehren wir zur Beantwortung dieser Frage noch einmal zurück in das Jahr 1991. Bereits damals stimmten zwei Drittel der Deutschen dem Statement zu: „Die sexuelle Orientierung von Menschen ist mir gleichgültig; warum sollte ich mich daran stören“.9 Damit setzten sie sich eindeutig von jenem Drittel ab, das Ansichten vertrat wie: „Was die Homosexuellen treiben, ist doch eine Schweinerei; sie sollten kastriert werden“ oder: „Man muss alles tun, um die Homosexualität einzudämmen, auch unter Erwachsenen. Wir brauchen daher wieder strengere Strafvorschriften“. 1974 standen diese beiden Blöcke sich noch ungefähr im Verhältnis 50:50 gegenüber. Ein eindeutiger Fortschritt, wie es scheint.
Allerdings ergab die Umfrage eine Reihe weiterer interessanter Befunde. Obwohl die Mehrheit angab, sich nicht an der sexuellen Orientierung von Menschen zu stören, plädierten gleichzeitig über 70 % der Westdeutschen für eine Diskriminierung von Homosexuellen in Gestalt von Zugangsbeschränkungen zu politischen Ämtern oder zum Beruf des Lehrers (1974 waren es an die 90 %). Mehr noch aber signalisierten fast zwei Drittel, dass sie soziale Kontakte mit homosexuellen Männern meiden möchten. Circa 40 % erklärten gar, dass ihnen in der Gegenwart solcher Personen „körperlich unwohl“ würde. Und auffälligerweise hat sich gerade in diesem Bereich, der dem Item „Homophobie“ von allen am nächsten kommt, zwischen 1974 und 1991 fast überhaupt nichts getan.
Offenbar hat es durch die „sexuelle Befreiung“ einen ideologischen Einstellungswandel in der deutschen Gesellschaft bezüglich der moralischen Akzeptanz „devianter“ („abweichender“) Sexualpraktiken gegeben. Aber an der homophoben Formkonstitution des bürgerlichen Subjekts hat sich dadurch praktisch nichts verändert. Denn Homophobie ist nicht die moralische Bewertung homosexueller Handlungen, es ist die Furcht vor gleichgeschlechtlicher Intimität, die sich projektiv auch darin niederschlägt, mit „Homosexuellen“ lieber nicht in Berührung zu kommen oder sie für ihr „Sosein“ bestrafen zu wollen. Dass es sich dabei weniger um eine bewusste Einstellung als um einen Akt der Verdrängung handelt, belegt eine experimentalpsychologische Studie aus dem Jahr 1993, derzufolge homophobe Männer überdurchschnittlich häufig (80 %) selbst von schwuler Pornographie erregt werden, verglichen mit 34 % der nichthomophoben Männer – dass sie diese Tatsache aber zugleich beharrlich verleugnen.10
Homophobie als soziale Struktur
In unserer Gesellschaft ist die Erfahrung gleichgeschlechtlicher Liebe und Lust an die Übernahme einer verachteten und als „abartig“ betrachteten homosexuellen Rolle gebunden. Wer in diese identitäre Rolle nicht hineinschlüpfen möchte, ist wohl oder übel darauf angewiesen, seine diesbezüglichen Wünsche vor sich und anderen zu verbergen. Das hat mit reformierbaren ideologischen Haltungen wenig zu tun. Ein Grund, warum das Syndrom der Homophobie den tiefreichenden Einstellungswandel im Rahmen der „sexuellen Revolution“ unbeschadet überstehen konnte. Mehr noch: Betrachtet man die Entwicklung von Homophobie als objektiver sozialer Form über längere Zeiten und größere Räume hinweg, lässt sich gut argumentieren, dass sich diese Struktur im 20. Jahrhundert weniger durch eine ideologische Abschwächung als vielmehr durch innere und äußere Expansion auszeichnete: im Innern durch die Ausweitung auf Frauen und Jugendliche11 – Gruppen, deren romantische Freundschaftsbeziehungen bis dahin kaum problematisiert wurden –, im Äußern durch die zunehmende Einbeziehung der nicht-westlichen Welt. Für ersteres mag als Beispiel eine im Abstand von 20 Jahren wiederholte Studie zur Jugendsexualität genügen. Danach ist die Zahl der 16- bis 18-jährigen Jungen, die angaben, gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben, zwischen 1970 und 1990 – also mitten in der Phase „sexueller Befreiung“ – von 18 auf zwei Prozent gefallen.12 Die zunehmende Angst, als „Schwuler“ angesehen zu werden, wenn man einem anderen Jungen zu nahe tritt, lässt sich in den USA mittlerweile sogar an der Entstehung neuer urbaner Idiome ablesen – etwa dem „I‘m not gay“ seat. Gemeint ist der Sessel, den zwei Jungen zwischen sich freilassen, wenn sie gemeinsam ins Kino gehen; wer sich draufsetzt, ist schwul! Dies zeigt sehr deutlich, dass es sich bei Homophobie nicht nur um eine individuelle Disposition, sondern um eine gesellschaftliche Formmatrix handelt, die „Schwule“ als eine abweichende Subjektposition überhaupt erst hervorbringt.
Ein sehr schönes Beispiel dafür ist – und hier kehren wir einmal mehr zu unserem Ausgangspunkt zurück – die sog. islamische Welt. Im klassischen Arabisch gibt es kein Wort für „Schwuler“ und trotzdem ist es keine Übertreibung zu behaupten, dass wohl nahezu die Hälfte aller klassischen arabischen Liebesgedichte von männlichen Autoren für Personen ihres eigenen Geschlechts verfasst wurden. Dies galt selbst den Frömmlern nicht als anrüchig – auch wenn sie den Akt des Analverkehrs für eine schwere Sünde hielten. Als der marokkanische Gelehrte Muhammad al-Saffar in den 1840er Jahren Paris besuchte, stellte er verwundert fest: „Tändeleien, Romanzen und Umwerbungen finden bei ihnen [den Franzosen] nur mit Frauen statt, denn sie tendieren nicht zu Knaben oder jungen Männern. Vielmehr gilt ihnen das als extrem schändlich.“13
Von da betrachtet erscheint es wie eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet arabische und türkische Muslime heute dafür herhalten müssen, Europäer_innen eine Selbstrepräsentation als tolerante Anwält_innen der „Homosexuellen“ zu ermöglichen, die sie in einem jahrhundertelangen Normalisierungsprozess doch überhaupt erst als distinkte „Minderheit“ produziert und ausgesondert haben.