Entstehung und Grundlinien

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie entwickelte sich im Anschluss an die emanzipatorischen Bewegungen der 1960er Jahre, als sich in Lateinamerika die antikolonialen Bewegungen verstärkt äußerten. Zunächst wurde sie von kleinen Gruppen katholischer und protestantischer Intellektueller entwickelt, zog dann aber schnell breitere Kreise. Auf katholischer Seite sind die Wurzeln in der Katholischen Soziallehre und der Katholischen Aktion, die sich v. a. in Frankreich in der Arbeiter-, Schüler- und Universitätsjugendbewegung artikulierte, zu finden. Wichtige Impulse gingen außerdem vom II. Vatikanischen Konzil aus (1962-65), das die Verantwortung der Kirche für die Welt und die Anerkennung der theologischen Kompetenz der Laien, also Nicht-AmtsträgerInnen, betonte. Dies war auch ein entscheidender Impuls für die lateinamerikanischen Bischofskonferenzen 1968 in Medellín und 1979 in Puebla, die die Prinzipien von Befreiungstheologie maßgeblich formulierten und voranbrachten.

„Die“ Befreiungstheologie gibt es nicht, auch wenn der Begriff im Allgemeinen in der sogenannten Dritten Welt entstandene Theologien bezeichnet. Weder sind alle dort entwickelten Theologien Befreiungs­theologien, noch ist ihre Existenz auf sie beschränkt. Befreiungs­theologie ist nach einer bekannten Formulierung die „kritische Reflexion der historischen Praxis im Lichte des Glaubens“ (G. Gutiérrez). Hier wird deutlich: Es geht nicht in erster Linie um bestimmte Themen, sondern um eine bestimmte Art und Weise, Theologie zu betreiben. Befreiungs­theologie ist wesentlich kontextuell: Das ‚Primat der Praxis‘ ist bestimmend, das heißt, die theologische Reflexion ist immer der zweite Akt, der erste ist das Leben selbst, konkreter: der Kampf unterdrückter und ausgebeuteter Menschen um ein menschenwürdiges Leben, die Befreiung von Militär­diktaturen und Kolonialherren. Theologien der Befreiung, egal welcher Prägung, brechen also mit idealistischer Theologie und einem „objektiven“, „universalen“ Wahrheitsanspruch. Die Kategorie der Befreiung ermöglicht dabei, Geschichte und Gegenwart als substanzielles Moment menschlicher Existenz zu begreifen und durch sie lässt sich auch die historische Praxis mit einer theologischen Reflexion jüdischer und christlicher Tradition verbinden.

Das Primat der Praxis führt zur wichtigen Funktion von Gesellschaftsanalyse für die Theologie. Genaue Kenntnis der gesellschaftlichen Strukturen und der Mechanismen, die zu Ausbeutung und Unterdrückung führen, ist nötig. Gemeinsames Merkmal von Befreiungstheologien, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, ist dabei die Rezeption marxistischer Kapitalismuskritik. Besonders die Dependenztheorie wurde zum soziologischen Referenzpunkt der lateinamerikanischen Befreiungstheologie: Sie interpretiert die Armut als Folge struktureller Abhängigkeit der „Entwicklungsländer“ von den „Industrieländern“ – nicht als Rückständigkeit, sondern als Kehrseite der Entwicklung. Gerade weil sich vieles in Bezug auf die Analyse der Nord-Süd-Verhältnisse im Zuge von Globalisierung und Neoliberalismus differenziert hat und damit die Dependenztheorie überholt ist, ist die sozioanalytische Vermittlung im jeweiligen Kontext für Befreiungstheologien weiterhin eine besondere Aufgabe.

Zweites wichtiges Charakteristikum von Theologien der Befreiung ist ihre Parteilichkeit, die „Option für die Armen“. Diese meint keine Stellvertreterpolitik, sondern sie sieht und analysiert die soziale Wirklichkeit aus der Sicht der Marginalisierten und kämpft an ihrer Seite für Befreiung. Der soziale Ort von Theologien der Befreiung ist also sehr wichtig: Auf der Seite der Herrschenden können sie nicht betrieben werden. Biographisch spielt daher gerade für Befreiungstheologie in unserem Kontext – einem reichen Land – der radikale Bruch mit der eigenen gesellschaftlichen Position und Klasse und den kirchlichen und gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen eine wichtige Rolle.

Sünde wird nicht individualisiert und auf ein isoliertes Subjekt bezogen verstanden, sondern als strukturelle Sünde. Situationen und Strukturen der Unfreiheit werden als Sünde benannt. Die Verantwortung für soziale Strukturen kann nur innerhalb von sozialen und politischen Bewegungen übernommen werden. Also werden sowohl die Ursache als auch die Bekämpfung von Sünde in sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen gesehen. Zu diesem strukturellen Sündenbegriff gehört wesentlich die Umkehr als notwendige Voraussetzung von Befreiung, sowohl als persönlicher Klassenverrat als auch als notwendige radikale Veränderung der Verhältnisse.

Die Theologie der Befreiung war nie Sache einzelner TheologInnen, sondern das Ergebnis kirchlicher Erfahrungen. Sie entstand in und war ausgerichtet auf die Basisgemeinden und deren gesellschaftliche Auseinandersetzungen – wahrscheinlich bekanntestes Beispiel ist der Kampf Oscar Romeros gegen die Militärdiktatur in El Salvador. In Chile waren die „Kreuzwege des Volkes“ und die Basisgemeinden Teil der ersten öffentlichen Widerstandsformen und Protestaktionen gegen die Militärdiktatur von Augusto Pinochet in den 1980er Jahren. In Brasilien existieren bis heute – wenn auch, wie überall, durch Verfolgung und Ersetzung von Bischöfen und Priestern weit weniger und sehr viel weniger amtskirchlich getragene – Basisgemeinden, die ihren Glauben auf dem Hintergrund der eigenen Situation interpretieren und auf ihre Kämpfe, z. B. in der Landlosen-Bewegung, beziehen. Eine sich in solcher Art gesellschaftlich artikulierende und positionierende Kirche hat die Befreiungstheologie geprägt.

Außerhalb Lateinamerikas sind in den 1960er und 70er Jahren an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlichen Akzenten, Erweiterungen und Unterschieden Theologien der Befreiung entstanden, beispielsweise die Schwarze Theologie in den USA und Südafrika, die „Theologie des Kampfes“ auf den Philippinen im Rahmen des Widerstandes gegen das Marcos-Regime und feministische Befreiungstheologien in verschiedenen Kontexten. Auch einige afrikanische Theologien rezipierten befreiungstheologische Elemente.

Befreiungstheologie in unserem Kontext?

Die Kritik, die es von lateinamerikanischer Seite an der Rezeption der Theologie der Befreiung in Europa gab, ist für die heutige Situation durchaus erhellend: Ihr wurde grundsätzliche Skepsis entgegengebracht. Auch einer politischen Theologie oder Theologie der Revolution, die zur gleichen Zeit in Europa entstanden, wurde abgesprochen, etwas mit der latein­amerikanischen Theologie der Befreiung zu tun zu haben. Jede Rezeption sei nichts anderes als die weitere Ausbeutung der „Dritten Welt“: Der „Rohstoff Theologie der Befreiung“ werde aufbereitet und zur Erneuerung eines Wissenschaftsbetriebs missbraucht. Hingegen müsse sich die praktische Grunderfahrung Lateinamerikas zum Vorbild gemacht und als Grundvoraussetzung angeeignet werden: die Teilhabe an gesellschaftlichen Befreiungsprozessen und die daraus folgenden Reflexionen in sozialwissenschaftlicher und theologischer Hinsicht.

Bereits während der Blütezeit von Befreiungs- und politischer Theologie in den 1970er Jahren gab es in diesem Punkt Defizite, die zur Krise der Entwicklung, Rezeption und Perspektive befreiungstheologischen Denkens in unserem Kontext, in einem Land der „ersten Welt“, wo die befreiungstheologischen Paradigmata wie „Option für die Armen“ und „Umkehr“ zu einer anderen Praxis als in Lateinamerika führen müssen, beitrugen. Es gab einen Strang antikapitalistischer Rezeption, z. B. durch die Gruppe der „ChristInnen für den Sozialismus“. Diese Bewegung gründete sich 1974 in Deutschland in Anlehnung und in engem Kontakt mit den „Cristianos por el socialismo“, die 1971-73 in Chile das Allende-Regime unterstützten. Sie sahen die Analyse gesellschaftlicher Widersprüche als Voraussetzung für die Bestimmung politischer Praxis. Der andere Rezeptionsstrang – die Trennlinie ist hier natürlich unscharf – fand vor allem durch die Veröffentlichung von Lebensbeschreibungen von Befreiungstheologen statt. Die lateinamerikanische Wirklichkeit wurde hier sehr subjektiv und personalisiert wahrgenommen und der Nord-Süd-Gegensatz fixiert. Die Repräsentation der Befreiungstheologie geriet so dramatisierend und vor allem an die moralische Empfindsamkeit appellierend. Die Reflexion auf die notwendigen Bedingungen einer bundesrepublikanischen befreienden Praxis wurde dadurch vernachlässigt.

Die Konsequenzen dieser Rezeptionsweise waren eine unbestimmte und unscharfe Analyse der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD und eine Beschränkung auf die Unterstützung des lateinamerikanischen Anliegens, der Überwindung der Abhängigkeitsverhältnisse, ohne die Notwendigkeit radikaler sozio-ökonomischer Veränderung im eigenen Land zu sehen. In der Praxis führte dies dazu, dass Solidaritätsarbeit sich zunehmend darauf reduzierte, finanzielle Unterstützung für die Partnergruppen und -projekte zu organisieren, statt über mögliche gemeinsame theologische Interpretationen und politische Strategien nachzudenken.

Perspektiven und Projekte

Trotz dieser ernüchternden Bilanz: Es gibt befreiungstheologische Ansätze, auf verschiedenen Kontinenten. International trifft sich seit zwei Jahren das „Welt­forum für Theologie und Befreiung“ vor dem Weltsozialforum – der seit Langem einzige Versuch, die befreiungstheologischen Ansätze inter­national zu vernetzen. Besonders der Austausch lateinamerikanischer und afrikanischer Ansätze von Befreiungstheologien – Selbstorganisation und Wiederaneignung der eigenen Wurzeln im Widerstand gegen (Neo-)Kolonialismus, gegen wirtschaftlich-politisch-kulturelle Dominanz der USA bzw. Europa – stand bisher im Vordergrund. Während es 2005 in Porto Alegre hauptsächlich eine akademische Veranstaltung war, wurden beim zweiten Treffen in Nairobi im Januar 2007 VertreterInnen aus sozialen Bewegungen mit einbezogen. Beiträge aus Europa und Deutschland sind bisher marginal. Außeruniversitäre Theorie und Praxis werden hier eine wichtige Rolle spielen, da an den theologischen Fakultäten in der BRD leider kaum noch Befreiungstheologie betrieben wird, nachdem die VertreterInnen der 68er-Generation, die politische Theologie vorangetrieben und Befreiungstheologie rezipiert haben, nach und nach emeritiert werden.

Eine praktische befreiungstheologische Rezeption gab es in der BRD z. B. in den ökumenischen Basisbewegungen. Initiiert von Ordensleuten oder LaiInnen entstanden beispielsweise in Hamburg und Berlin gemeinsame Wohngemeinschaften mit Flüchtlingen, die sich gegen Abschiebungen engagieren und um die sich Basisgemeinden mit den Menschen in ihrem Umfeld gebildet haben. Es gibt ökumenische Basisgruppen, die sich für MigrantInnen und Jugendliche einsetzen, Kirchenasyl initiieren und sich politisch engagieren. In der Tradition der Arbeiterpriester kümmern sich Gemeinden – z.B. die Gastkirche in Recklinghausen – um Wohnungslose, stellen temporäre Unterkunft, Gemeinschaft, Beratung und Essen zur Verfügung, initiieren Organisierungsprozesse und melden sich sozialpolitisch zu Wort. Das Institut für Theologie und Politik (ITP) in Münster organisiert Seminare und Austauschprogramme mit ChristInnen, die in sozialen Bewegungen engagiert sind, und treibt befreiungstheologische Forschung und Rezeption mit dem Ziel voran, befreiungstheologisches Instrumentarium auf die politische Situation hier anzuwenden. Dazu gehören Versuche, die Reste der Eine-Welt-Bewegungen zu repolitisieren und mit der globalisierungskritischen Bewegung zu vernetzen. Zum G8-Gipfel in diesem Jahr haben wir beispielsweise TheologInnen aus Brasilien, Cuba und der demokratischen Republik Kongo eingeladen.

Allianzen im Kampf um Veränderung?

Anschlüsse von BefreiungstheologInnen an die Linke gab und gibt es, sie werden nur wenig thematisiert. Beispielsweise machten feministische Theologinnen, die befreiungstheologische Ansätze verfolgen, ihre politischen Erfahrungen als erstes in der autonomen Frauenbewegung und brachten diese dann in ihre theologische Arbeit in ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern ein. Zu wünschen wäre eine deutlichere Anerkennung der Rolle linker Bewegungen für befreiungstheologische Ansätze sowie von beiden Seiten in Bezug auf eine gemeinsame Kooperation Unaufgeregtheit bei der „Wahrheitsfrage“ und Ausrichtung auf die Praxis: Ob christliche, sozialistische, anarchistische oder sonst eine Utopie oder Weltbild der Weisheit letzter Schluss ist, kann angesichts tausender vorzeitig Sterbender täglich nicht die vordringlichste Frage sein.

Konkrete Anschlusspunkte gibt es zurzeit im Bereich Migration – Kämpfe gegen Abschiebungen, gegen die „Festung Europa“ und den alltäglichen Rassismus. Hier gibt es bereits eine Zusammenarbeit zwischen linken und christlichen Initiativen, z. B. im Ökumenischen Netz Rhein-Mosel-Saar. Aber auch in der Sozialpolitik, gegen den Abbau sozialer Rechte, gäbe es gemeinsame Ansatzpunkte. Allerdings sind hier christliche Gruppen sehr marginal vertreten. Leider verhindert das Festhalten und Pflegen der Mittelschichts-Gemeinden durch die Kirchen ein Wiedererstarken christlicher ArbeiterInnenbewegungen. Unserer Erfahrung im ITP nach gibt es viele in Gemeinden tätige Menschen, die ansprechbar für gesellschaftskritische Positionen sind und diese auch in den Gemeinden vermissen. Dies heißt auch fundamentale Systemkritik, wie am Beispiel der „Ordensleute für den Frieden“ zu sehen ist, die regelmäßig mit ihrem Transparent „Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen“ vor der Deutschen Bank in Frankfurt demonstrieren. Natürlich sind diese Positionen insgesamt gesehen marginal – die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln sich eben in den Kirchen wider. Kirche wie Gesellschaft stellen Kampffelder für emanzipatorische Bewegungen dar und aus befreiungstheologischer Perspektive ist von jüdischen und christlichen Traditionen durchaus etwas zu gewinnen: Der radikale Bruch mit dem destruktiven politischen und wirtschaftlichen System (= „Umkehr“) und das Hoffen wider alle Plausibilitäten könnten Beiträge befreiungstheologisch arbeitender Menschen und Gruppen sein, um – hartnäckig dranbleibend – irgendwann die Verhältnisse wieder zum Tanzen zu bringen.

In der gegenwärtigen Situation sehen wir (im ITP) es als Hauptaufgabe an, die ideologische Hegemonie der Alternativlosigkeit kapitalistischer Arbeits- und Lebensweise aufzubrechen, durch Be­wusstseins­arbeit, theologisch-politische Bildungs­arbeit und konkrete politische Aktion und Mobilisierung, wie im Fall G8. Die Möglichkeit von Veränderung muss derzeit erst einmal wieder ins Bewusstsein gebracht werden – gesellschaftlich wie in den Kirchen. Dabei steht eine Zusammenarbeit emanzipatorischer Bewegungen dringend an, wenn es um annähernde gesellschaftliche Wirksamkeit gehen soll.