Es soll hier von der Projektion des Papstes auf den Islam die Rede sein. Sie folgt, wie man sehen wird, demselben Muster einer phantasierten abstrakten Entgegensetzung. Aber sie ist doch ungleich interessanter. Sie steht auf höherem Niveau, hat mehr Tiefe und ist deshalb viel gefährlicher. Ein Enzensberger bedient nur fertige Meinungen; wer nicht schon vorher Börsenspekulant war, wird es auch durch die Lektüre seines Essays nicht werden. Der Papst aber argumentiert aus der Tradition seiner Kirche heraus, die Europa wesentlich mitgeformt hat und noch immer - auch ohne christliche Präambel einer EU-Verfassung - in der europäischen Politik tief verankert ist. Das Niveau der päpstlichen Auseinandersetzung zeigt sich nicht zuletzt in seinen durchaus glaubwürdigen Gesten der Versöhnlichkeit dem Islam gegenüber. Wir sehen hier auch von vornherein, wie verschieden die europäisch-religiöse Haltung von derjenigen des US-amerikanischen religiösen Fundamentalismus ist. Der jetzige Papst hat wie sein Vorgänger die Moschee betreten, er glaubt, dass Christen und Muslime denselben Gott anbeten und er würde sich niemals der Behauptung der Fundamentalisten, Israel habe ein Recht, alles Land zu besetzen, das einst dem Abraham verheißen wurde, anschließen.
Wir können das verallgemeinern, denn es ist lehrreich zu sehen, dass der päpstliche Diskurs sich vom Diskurs des US-amerikanischen Fundamentalismus auf ganz ähnliche Weise unterscheidet wie die europäische von der US-amerikanischen Politik. Der Papst, die EU-Politiker erscheinen uns noch verhältnismäßig besonnen und vernünftig; der USPräsident mit seinen christlichen Anhängern wirkt aggressiv und irrational. Man ermisst an dieser Analogie, dass der Graben zwischen den Kontinenten sehr viel mit den konfessionellen Verschiedenheiten zu tun haben könnte. Doch wir sollten die Breite des Grabens nicht überschätzen. Die Vernunft ist doch letztlich auf beiden Seiten des Atlantiks die gleiche. Wie dies nach dem 11. September 2001 sichtbar wurde, davon handelt mein Beitrag. Er beschränkt sich darauf, die «Regensburger Rede» des Papstes zu befragen. Deren gewollter Bezug auf 9/11 ist schon dadurch evident, dass sie am 12. September 2006 gehalten wurde, fast auf den Tag genau fünf Jahre danach. Eine Flut von Kommentaren ist der Rede gefolgt. Es lohnt sich dennoch, sie sich aus einigem Abstand noch einmal vorzunehmen. Sie ist das Dokument einer Transformation der Kirche von ihrer Spitze her.
Die «Regensburger Rede»
«Glaube, Vernunft und Universität» lautet der Titel. Eine so benannte Rede hätte der Kurienkardinal Ratzinger schon vor zehn Jahren, der Universitätsprofessor Ratzinger schon vor vierzig Jahren halten können. Denn immer war es sein Anliegen, die Vernünftigkeit des Glaubens zu erweisen. FAZ-Lesern zum Beispiel hat er es nicht gerade selten in Interviews und langen Artikeln erklärt. Irgendeine Frontstellung gegen den Islam war damit nie verbunden gewesen. Sie wäre auch recht absurd erschienen, bezog Ratzinger sich doch ganz konkret auf die Vernunft der antiken griechischen Philosophie, die, wie er immer wieder darlegte, mit der Religion der frühen Christen zusammenfließen musste, damit zunächst eine anspruchsvolle Theologie entstehen konnte und später, auf dieser Basis, die europäische Vernunft überhaupt. Wie ihm natürlich bekannt ist, waren zentrale Stücke der griechischen Philosophie in der islamischen Welt tradiert und weitergedacht worden, lange bevor das Europa, das aus dem Untergang des weströmischen Reiches hervorging, auch nur von ihrer Existenz wusste.
Ratzingers Lehre von der Vernünftigkeit des Glaubens war eine Theologie wie jede andere gewesen. Sie war freilich eine, von der man sich einen guten Stand in der Öffentlichkeit versprechen konnte. Seht nur, signalisierte sie, wir sind auch vernünftig, ihr seid es nicht allein. Durch den Mund dieses Theologen stellte sich die Kirche als eine dar, die geduldet werden wollte; sie war ja in Sorge, als überflüssig zu erscheinen. Doch mit der Regensburger Rede dreht sich das Bild. Jetzt auf einmal ist die Vernunft des Glaubens der Unvernunft der Gewaltsamkeit entgegengesetzt, die den Islam angeblich kennzeichnet. Aus dem Theologen Ratzinger ist inzwischen der Mann geworden, der für die ganze Kirche spricht. Und was er sagt, wird nicht bloß geduldet, sondern man kann es an den Orten des Gewaltmonopols nur allzu gut gebrauchen.
Was ist hier geschehen?
Aus dem Abstand fast eines weiteren Jahres gelesen, fällt zuerst auf, dass der Islam in der Rede kaum eine Rolle spielt. Er dient praktisch nur als «Aufhänger», wie man in der Zeitungssprache sagt. Das breit ausgeführte Thema der Rede ist eigentlich die Abwehr der «Enthellenisierung», mit der man die Kirche ihre ganze Geschichte hindurch bedrängt habe. Diesen Versuch, ihr die griechische Vernunft wieder zu entziehen, hätten erst die Reformatoren um Martin Luther, dann die von Kant beeinflussten Liberalen des 19. Jahrhunderts und schließlich in unserer Zeit diejenigen gemacht, die das Christentum lieber mit anderen Kulturen als der griechischen, besonders der fernöstlichen, verbunden sehen wollten. Es sei aber doch nicht zu leugnen, führt Ratzinger aus, dass schon die Bibel selber Einflüsse gerade griechischen und nicht etwa fernöstlichen Denkens verarbeite. Gerade im interkulturellen Gespräch sei das religiöse Bekenntnis zur griechischen Vernunft wichtig. Denn in den anderen Kulturen, sofern sie noch im Ganzen religiös bestimmt sind, begreife man gar nicht, wie der Westen das Religiöse von der Universalität des Denkens überhaupt glaube ablösen zu können.
Das ist so nachvollziehbar wie der andere Hinweis Ratzingers, dass Ethos und Religion «ihre gemeinschaftsbildende Kraft verlieren», wenn sie sich aufs subjektive Gewissen zurückziehen, den Anspruch auf universelle Vernunft nicht mehr erheben. Und wenn er nun die Wissenschaft warnt: Sie verliere ihrerseits die Kraft der universellen Vernunft, wenn sie die Religion von sich stoße, dann tut er, was man von einem Theologen nicht anders erwartet. Er ist von links dafür gescholten worden. Man hielt ihm vor, er wolle die Wissenschaft erneut zur Magd der Theologie machen. Indessen war das wenig aufregend, denn gäbe es ein solches Projekt Ratzingers, lägen doch die Realisierungschancen bei Null. Daran ändern auch jene Figuren in deutschen Landesregierungen nichts, die das Papstwort jetzt aufgriffen, um die Verbindung von Biologie und Schöpfungslehre im Schulunterricht zu predigen.
Von einer ganz anderen Brisanz ist der «Aufhänger». Der war es, der weltweit gehört wurde, weshalb man sagen muss, dass da vor allem der Papst gesprochen hat – die Institution Papst. Der Theologe Ratzinger wollte wahrscheinlich nur den Satz zitieren, der sich so gut in seine Argumentation fügte: «Nicht vernunftgemäß, nicht mit dem Logos handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.» Manuel, der byzantinische Kaiser, von dem er geliehen war, hatte ihn aber nun einmal der Unvernunft islamischer Gewalttätigkeit konfrontiert. Deshalb zitierte Ratzinger auch den anderen Satz dieses Kaisers: «Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten». Glaubensverbreitung durch Gewalt sei widersinnig, fuhr Manuel vor Hunderten von Jahren fort, denn sie stehe im Widerspruch zum Wesen Gottes und der Seele.
Nachdem Ratzinger das zitiert hatte, mochte er sich noch so sehr distanzieren - es «ging mir einzig darum, auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft hinzuführen», nur so weit «stimme ich Manuel zu, ohne mir deshalb seine Polemik zuzueignen», er hatte doch als Papst Christentum und Islam unterschieden und er hatte ausdrücklich dem Christentum eine angeblich gewaltlose Vernunft, dem Islam den gewaltsamen Djihad zugeordnet. Wenn ihm das nur unterlaufen war, war es umso schlimmer.
Von welchem Dämon wurde er da geritten?
Wie konnte es ihm sogar gelingen, mit Manuel die griechische Vernunft dem «Logos» des Neuen Testaments schlichtweg gleichzusetzen? Manuel war Kaiser, seinem Macht- und Gewaltinteresse mag man dergleichen nachsehen. Doch der Papst setzt Theologenscharfsinn ein, die Identifikation zu rechtfertigen: «Den ersten Vers der Genesis, den ersten Vers der Heiligen Schrift überhaupt abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet, das der Kaiser gebraucht: Gott handelt ‹syn logo›, mit Logos.» «Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott, so sagt uns der Evangelist. Das Zusammentreffen der biblischen Botschaft und des griechischen Denkens war kein Zufall.» Das geht mit verdächtiger Leichtigkeit über die Bühne – wenn man sich nur erinnert, wie Goethes Faust um die Übersetzung des Satzes ringt, der in der Formulierung «Am Anfang war das Wort» zitiert zu werden pflegt. Dass Johannes an den griechischen Logos gedacht haben könnte, liegt nun wirklich nicht nahe. Nahe liegt es viel eher, das Wort, das am Anfang stand und das Gott selber war, mit dem zu identifizieren, was der Apostel Paulus als «das Wort vom Kreuz», bezeichnet.
Das Wort vom Kreuz ist die Lehre, dass «der Gerechte leiden muss», Christus eben seiner Gerechtigkeit wegen von den Römern gekreuzigt worden sei und dennoch als geistiges Haupt seiner Kirche den endgültigen Sieg erringe. Der Gerechte muss leiden, weil ihm stets eine Gewalt entgegensteht, die stärker ist als er. Ihm bleibt nur die Wahl, seine Gerechtigkeit zu verstecken, sich nicht zu engagieren oder den Sieg Späterer um den Preis eigenen Scheiterns vorzubereiten. Nun sieht man: Diese Lehre vom Logos ist eine Lehre von der erlittenen Gewalt. Gäbe es die Gewalt nicht, die damals römische Gewalt, wäre Christus nicht gekreuzigt worden. Und nun stellt sich die Frage: Was tut der Papst, wenn er diese zentrale Gewaltseite der Religion, die er repräsentieren soll, so einfach unter den Tisch fallen lässt - und sich neben die westliche Vernunft Bushs und Blairs stellt, um dem Islam vorzuwerfen, er lehre den gewaltsamen Djihad?
Der Vorwurf wurde von islamischen Gelehrten zurückgewiesen, er ist tatsächlich unhaltbar. Der Djihad ist nicht per se der «heilige Krieg», als der er übersetzt zu werden pflegt. Er ist vielmehr der Streit um den Glauben, wie er auch im Neuen Testament gelehrt und dort sogar mit einer Metaphorik des Krieges artikuliert wird: «Ziehen wir an die Waffen des Lichts.» Real kriegslustig haben sich bekanntlich die Anhänger beider Religionen in den vergangenen anderthalbtausend Jahren gezeigt. Doch dies, was den Islam betrifft, auf den Begriff des Djihad und damit auf die Religion als solche zurückzuführen, ist eben nicht zulässig. Zwar berufen sich heute islamistische Militante auf ihn. Umgekehrt haben aber US-amerikanische Präsidenten von «Kreuzzügen» für die Freiheit gesprochen. Ist diese Bezugnahme auf das Wort vom Kreuz nicht mindestens ebenso pervers? Man sieht schon: Der Papst konnte den Unterschied der Religionen nicht gut so beschreiben, als führten Muslime Waffen, während Christen solche nur erlitten. Er hielt vom immanenten Gewaltbezug des Christentums gleich ganz den Mund.
Zwei Arten von Vernunft
Dass er dann aber ersatzweise von «der Vernunft» sprach – im Kontext einer Entgegensetzung von Christentum und islamischer Welt –, kann auch nur pervers genannt werden. Warum sagt er nicht, dass das Neue Testament zwei Arten der Vernunft gegeneinander setzt? «Es ist ja geschrieben: Zugrunde richten will ich die Weisheit der Weisen», erinnert Paulus. «Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zum Aberwitz gemacht? Denn nachdem die Welt – angesichts der Weisheit Gottes – durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte, gefiel es Gott: durch den Aberwitz der Verkündigung die Glaubenden zu retten.» Die Weisheit und Vernunft Gottes, die in der Perspektive der Weltvernunft als Aberwitz erscheint, ist eben das «Wort vom Kreuz». Paulus spricht gerade in diesem Zusammenhang von ihm. Kein «Anführer dieser Weltzeit» habe Gottes Vernunft erkannt: «Denn hätten sie erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.» Ersichtlich fallen die beiden Vernunftarten mit zwei Haltungen zur Gewalt zusammen. Die Vernunft der «Anführer» hat zum Kreuzigen geführt. Nicht nur Christus wurde gekreuzigt, sondern viele Tausende Sklaven im gesamten Römischen Reich. Die Vernunft «Gottes» steht gegen die «Anführer». Sie steht auf der Sklavenseite. Paulus sagt das ausdrücklich: «Doch das Aberwitzige der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen. Und das Schwache hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen.» Auf welcher Seite steht aber die Vernunft des Papstes?
Da muss mit der Kirche etwas geschehen sein, wofür 9/11 der Auslöser war. Es hat schon politikwissenschaftliche Untersuchungen gegeben, die zeigten, dass die christdemokratischen Parteien bereits in den letzten Jahrzehnten einer Transformation erlegen sind. Aus gar nicht ganz anderen Gründen. So sehr man sich nämlich über sie geärgert hatte: Dass sie neoliberal werden würden, war ihnen nicht in die Wiege gelegt. Der Rheinische Kapitalismus hatte der katholischen Soziallehre noch entsprochen. Der Neoliberalismus stellte einen klaren Bruch mit ihr dar. Der weltweite neoliberale Siegeszug unter dem Namen Globalisierung und die Gewalt der westlichen «humanitären Intervention» sind beide gleich unwiderstehlich, die meisten christdemokratischen Parteien haben sich mit dem Aggressor identifiziert und sind selber neoliberal geworden. «Diese ideologische Veränderung», schreibt David Hanley, ein Politologe, «spiegelt die Auffassung wider, dass der Marktliberalismus eine ideologische Hegemonie erlangt hat und nicht wie in der Vergangenheit direkt in Frage gestellt werden kann.» Andere christdemokratische Parteien sind geblieben, was sie waren; in einem Fall (Italien) zerbrach die Partei, und Teile fanden sich auf der Seite der politischen Linken wieder.
Eine analoge Überwältigung scheint nun auch die Kirche erreicht zu haben. Sie macht dieselbe Erfahrung wie jede andere Institution auch: Man hatte mehr Spielraum im Schatten des Konflikts zweier Supermächte. Seit es nur noch eine gibt, erfordert es übermenschliche Kraft, dem Sog der Anpassung etwas entgegenzusetzen. (Von der Kraft von unten reden wir hier nicht. Für sie gelten andere Gesetze.) Der 11. September und die Inszenierung seiner Folgen sind nur ein besonders deutlicher Schnitt gewesen, der es jedermann erleichtert hat, sich der neuen Lage bewusst zu werden. Der deutsche Papst konnte sich dem Sog nicht entziehen. Wie manche christdemokratische Partei in den Neoliberalismus, ist er in die Islamverleumdung umgekippt. Der Vorgang muss vielleicht noch nicht als unumkehrbar eingeschätzt werden. Erst einmal ist er geschehen. Zu einer stärkeren faktischen Autorisierung der «humanitären Intervention» hätte es nicht kommen können.