In den folgenden Jahren bis 1988/89 gewann die Organisation aufgrund ihrer undogmatischen Linie und konsequenten Konfliktpolitik stark an Bedeutung. Aus einem diffusen Sammelbecken wurde eine Massenbewegung, die sich 1988 anstellte, zur stärksten Kraft in der Linken zu werden. Nach dem gescheiterten Generalstreik im gleichen Jahr allerdings kam für AL die Krise. Die unterschiedlichen politischen Vorstellungen über Partei-, Bewegungs- oder Organisationscharakter brachen voll aus. In relativ kurzer Zeit, nämlich innerhalb von 2 Jahren zerfiel A Luchar, ohne daß allerdings ihre politische Arbeit gänzlich verloren gegangen wäre. Mitte 1991 löste sich die Organisation praktisch auf. Der wichtigste Sektor ALs, darunter auch Nelson Berrio verließ die Organisation um wieder in Basisprojekten zu arbeiten. Streitpunkt damals vor allem: die Auto­nomie A Luchars gegenüber anderen Organi­sationen (v.a. gegenüber der Guerilla)und die Beteiligung an den Institutionen.

Das mit einem Repräsentanten A Luchars geführte Interview in der Broschüre „Gramsci, Volksmacht und kontinentale Befreiung“ fand 1990 relativ viel Beachtung. Es wurde im AK abgedruckt und tauchte bei verschiedenen Diskussionen auf. A Luchar hatte bei einzelnen Personen auch in der BRD einen Ruf als undogmatische und radikale Organisation. Aus diesem Grund glauben wir, daß es nicht ganz uninteressant ist, den Zerfall ALs noch einmal genauer zu betrachten. Es ist offensichtlich, daß Nelson Berrio seine Analysen und Standpunkte manchmal nur andeuten kann. Viele Konflikte sind nicht dazu da, um öffentlich behandelt zu werden. Trotzdem bleibt er bei seinen Aussagen relativ klar.

¿ Nach 8 Jahren ist 1991/92 die politische Organisation A Luchar ver­schwunden. Du und andere machen heute andere politische Projekte, die Basis hat sich zum Teil zerstreut, zum Teil ist sie von anderen Organisationen, z.B. der Guerilla beeinflußt. Die Geschichte von A Luchar ist seltsam. Ab 1984 war A Luchar wegen seiner undogmatischen Linie für viele Linke eine Hoffnung, und zwar nicht nur in Kolumbien selbst, sondern auch in den lateinameri­kanischen Nachbarstaaten und sogar auf anderen Kontinenten. Das erklärt sich damit, daß A Luchar der Versuch war, eine nicht-traditionelle, politische Massenbewegung mit Organisationscharakteristika zu sein. Auf jeden Fall stand A Luchar ein ganzes Stück außerhalb der normalen Organisationskonzepte. Was waren - abgesehen vom schmutzigen Krieg - die Gründe für das Ende von A Luchar?

A: Ich glaube, daß ein wesentlicher Grund war, daß es AL nicht gelungen ist, eine eigene, konsolidierte Basis aufzu­bauen. Zum Teil war unsere Basis auch die Basis anderer Organisationen. Das bedeutet nun auch nicht, daß AL nur ein Führungszirkel gewesen wäre. Das war mit Sicherheit nicht der Fall, wir hatten gute Massenarbeit in verschiedenen Regionen. Aber in anderen Regionen war unsere Basis nicht vorrangig eine Basis von A Luchar...

Uns ist es nicht gelungen AL in eine politische Massenbewegung zu verwan­deln, in der ein radikaler, linker und von anderen Organisationen unterschied­licher Standpunkt zur Geltung kommt.

Wir sind eine Kraft auf nationaler Ebene gewesen und wir haben Sympathie genossen, weil unsere Vorstellungen über die Orthodoxie hinausreichten: unser Konzept der Volksmacht und der Autonomie gegenüber den politischen Parteiorganisationen, unsere interne Arbeit, was die Veränderungen des menschlichen Alltags betrifft, unser Humanismus; all diese Sachen haben es uns ermöglicht, daß MaoistInnen, TrotzkistInnen, Anhängerinnen von Camilo Torres, Marxistinnen allgemein und Christinnen zusammengekommen sind.

Als Einheitsprojekt waren wir meiner Meinung nach ziemlich erfolgreich. Was wir nicht bewältigt haben, war die Diskussion über die Autonomie der politischen Organisationen, d.h. daß Organisationen wie die sozialistische UP, A Luchar oder der Frente Popular eine eigene Basis, Linie und Finanzen besitzen müssen.

Das andere war das Problem, wie mit den Massen zu arbeiten ist. Ich glaube, daß es bis heute keine Praxis gibt, in der sich das Ziel aller Revolutionärinnen, - daß nämlich die Massen alles sind und die Organisationen dazu da, den Massen als Werkzeug zu dienen-, wirklich praktisch widerspiegelt. Das Verhältnis von Organisationen und Massen ist trotz aller theoretischer Überlegungen in der Praxis ungeklärt.

Meiner Ansicht nach muß eine Organisation anführen und anleiten können, sie muß orientieren und sie kann als Führung nicht aus Massen bestehen, sondern wird immer eine vergleichsweise kleinere Gruppe der Bevölkerung sein. Aber auf der anderen Seite muß die Organisation eben auch begreifen, daß sie dabei das zum Ausdruck bringen und artikulieren soll, was die Massen wollen.

¿ Na ja, aber die Forderungen der Bevölkerung sind ja oft nicht gerade fortschrittlich. Was z.B. ganz schnell von der Bevölkerung gewollt wird, sind nationale oder rassische Lösungen...

A: Natürlich das stimmt. Die For­derungen der Bevölkerung sind oft ganz einfach falsch. Aber genau daraus erklärt sich meiner Meinung nach die Notwen­digkeit politischer Organisationen. Ihre Intervention sorgt dafür, daß die Massen sich und ihre Forderungen in Frage stellen können. Die Organisationen können mögliche Wege aufzeigen, wie die Bevölkerung ihre Probleme lösen kann. Sie hinterfragt, arbeitet für die Hegemonie anderer, emanzipatorischer Gedanken. Dafür ist die Organisation da.

In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal prinzipiell darauf hinzuweisen, daß Revolutionen überhaupt nur dann etwas anderes als Machtübernahmen durch neue Eliten sein können, wenn sie von Massen gemacht werden. Organisationen können Organisierungsprozesse ankurbeln und unterstützen. Aber sie machen keine Revolutionen.

¿ Was bei A Luchar ziemlich interessant war, ist, daß die Organisation mit der Kritik am Apparatismus antrat, die Gefahr immer wieder erwähnt hat und ihn trotzdem reproduzierte.

A: Die Kritik des Apparatismus ist uns immer wichtig gewesen, das stimmt. Auf der 2. Konvention haben wir es sogar noch einmal explizit festgehalten, daß wir eine Organisation und keine Apparate schaffen wollen.

Dafür daß danach dennoch eine <gewisse Tendenz hin zum Apparatismus eintrat, gibt es Gründe. Einer ist beispielsweise, daß die Bevölkerung die Lösung ihrer konkreten sozialen und wirtschaftlichen Probleme sucht und deswegen an einer längerfristigen Beteiligung, an der Verantwortung in einer Organisation nicht sonderlich interessiert ist. D.h. ihr Engagement ist sozial oder wenn es politisch ist, dann meistens angekoppelt an ein Problem, nach dessen Verschwinden auch das Interesse an der politischen Verantwor­tung verschwindet. Das ist ein allgemeines Problem in der kolumbianischen Bevöl­kerung: sie ist politisch fast völlig apathisch.

Das andere Problem, das ich schon angedeutet habe, war, daß bestimmte Bereiche, in. denen AL arbeitete, auch von anderen Organisationen beeinflußt wurden. Es gab dabei keine klare Differenzierung welche Basis zu welcher Organisation gehört. Es kam also nie zu einer spezifischen AL-Basis.

Dazu kommt das Problem der Massenbewegung selbst. In den Jahren bis 1988, d.h bis zum Generalstreik am 27.0ktober gab es eine gewisse Hoch­konjunktur der Volksbewegungen. 1985 findet ein Treffen von Bauern, Arbeitern, Stadtteilbewohnern und Frauen statt, an dem 5000 Personen teilnehmen; sozusagen die öffentliche Geburt von AL. 1988 gibt es die Bauernmärsche, an denen Zehntausende teilnehmen, Es gibt Mobilisierungen in der Arbeiterschaft usw. Diese Bewegung bricht jedoch weg, und damit geraten auch wir in die Krise. Für den Zerfall der Bewegungen trägt AL natürlich eine große Mitverantwortung. Uns ist es nicht gelungen, die Bewegungen zu politisieren und zu festigen.

¿ Du drückst dich ein bißchen. Eine Companera, die auch in der Führung von AL war, hat vor einigen Wochen in einer Diskussion gemeint, daß vor allem die Bündnispolitik Euch in einen Apparat verwandelt hat. Sie meinte, daß ihr durch den Eintritt der Trotzkisten und durch die Bemühungen mit anderen linken Parteien eine Linksfront zu bilden, immer mehr geworden wärt wie Eure Bündnispartner. AL, das am Anfang als Mittelding zwischen Massenbewegung und Organi­sation gedacht war, wäre zur Partei geworden.

A: Ich glaube nicht, daß die Fehler in unserer Bündnispolitik viel mit der Frage Bewegung oder Partei zu tun hatten. Die Entwicklung von AL hat mehr mit den widersprüchlichen Konzeptionen bei uns selbst zu tun. Es gab gerade hinsichtlich der Bündnispolitik sehr unterschiedliche Vorstellungen. Einige befürworteten eine breite Bündnispolitik, die sich bis zur Basis der Liberalen und Konservativen erstrecken sollte, Dabei hat es sicherlich Fehler gegeben. Z.B. haben wir bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versam­mlung, an einer Liste teilgenommen, auf der auch ein pensionierter General mit einer ganz und gar nicht sympathischen Vorgeschichte kandidiert hat. Dieses Wahlbündnis haben wir mitgetragen, weil wir an der Allianz mit anderen linken Gruppierungen interessiert waren, die wiederum diesen General aufstellten, um bestimmte kritische Schichten der Mittelklasse anzusprechen.

Dagegen stand die Meinung einiger Genossinnen und Genossen, die vertreten haben, daß A Luchar nur mit revolu­tionären Sektoren zusammen Bündnisse bilden sollte.

Keine von den beiden Positionen hat dagegen etwas über den Charakter von A Luchar ausgesagt: ob nämlich AL Partei oder Bewegung sein solle. Es ist sogar so, daß die erste Position, die mehr mit breiten Bündnissen arbeiten wollte, näher am Bewegungskonzept dran war. Denn um so breiter du bist, um so mehr Bevölkerungsbeteiligung du hast, um so starker hast du einen Bewegungscharakter.

Dagegen könnte man behaupten, daß diejenigen, die ftir ein ausschließlich revolutionäres Bündnis eintraten, im Grunde genommen stärker Organisationsgebunden waren.

Also ich glaube nicht, daß man den Konflikt so erklären kann. Ich glaube nicht einmal, daß AL an seinem Parteicharakter zu grunde gegangen ist. Wenn AL eine Partei gewesen wäre, dann gäbe es die Organisation noch- stark geschwächt zwar, aber es gäbe sie noch.

¿ Du teilst also auch nicht die Ansicht, daß AL mit der Zeit immer mehr Büro und immer weniger Basisarbeit war?

A: AL war immer mehr Arbeit in den Regionen. Die Büroarbeit, die sogenannte Bürokratie war nie mehr als das, was jede Organisation unverzichtbar braucht. jede Organisation braucht Leute im Büro, die koordinieren, die politische Vorschläge ausarbeiten, Zeitungen machen usw. Zeitweise war der Kontakt zwischen Basis und Büro auch extrem groß. Es war z.B. lange Zeit so, daß von 13 Mitgliedern des Exekutivkomitees nur 3 oder 4 in Bogota waren. Auch in den sozialen Bewegungen waren zahlreiche Leute von uns wirklich tief drin. Wir hatten Leute in der Arbeiter-, Bauern- und Stadtteil­bewegung,. über die Arbeit verschiedener Companeras haben wir die Bedeutung der Frauenbewegung kennengelernt. Und was für Kolumbien ganz neu war, wir haben sogar die ersten Erfahrungen. mit der Ökologiefrage gesammelt. Das alles, weil wir eben nicht eine eingesperrte, isolierte Bürokratie waren.

¿ Und das Fehlen von Demokratie...? Z.B auf der Konvention von 1988 wurden die wesentlichen Fragen schon vorher vom Organisationskommitee ausgemau­schelt, wo die verschiedenen Kräfte, die hinter A Luchar standen, vertreten waren.

A: Die Frage der Demokratie hat meiner Meinung nach vor allem was mit Bildung zu tun. Ich glaube, daß wir vor allem in dieser Hinsicht gescheitert sind. In AL und noch viel weniger in den traditionellen Parteien und sozialen Organisationen gibt es heute Bildungskonzepte, die es den Leuten ermöglichen, eine eigene Meinung zu entwickeln

¿ ...Bildungsmängel auf Seiten der Führer oder der Basis?

A: Auf beiden Seiten. Was gerade demokratisch ist, hängt auch vom Gesichtspunkt ab. Wenn du in der Mehr­heit bist, wirst du eine Abstimmung unglaublich demokratisch finden. Aber Demokratie das ist im Grunde nicht die Zahl der gehobenen Hände und auch nicht immer das Recht der Mehrheit.

Was sich bei der Konvention ereignete, war folgendes. Die Führungen der politischen Gruppierungen, die wir AL bildeten, haben Vorschläge für die Konvention ausgearbeitet, die sich auf der Konvention ziemlich schnell, mit großer Mehrheit durchsetzten. Es war die Mehrheit, aber es war nicht demokratisch.

Wenn wir diese Vorgehensweise nicht wollen, dann bedeutet das, daß wir uns als Führer stärker zurückhalten müssen. Wir müssen zulassen, daß die Leute selbst ihre Demokratie machen, und nicht, daß wir für sie die Demokratie machen, die wir wollen.

Selbstkritik ist also angebracht, aber sie muß viel tiefschürfender sein als die Frage, ob du abgestimmt hast oder nicht, ob du manipuliert hast oder nicht. Das Problem nimmt vor allem außerhalb der politischen Organisationen nicht ab, sondern zu. Ich war z.B. lange Zeit Gewerkschafter. Auf Gewerkschaftsver­sammlungen konntest du 90 Stimmen bekommen, aber bewußt abgegebene Stimmen waren davon gerade einmal 5 oder 10. Für mich heißt, die Demokratie zu stärken, die nichtbewußten Stimmen zu qualifizieren, sie zu einer bewußt getroffenen Entscheidung zu bringen. Wir müssen dahin kommen, daß eben nicht aus Stimmungen, Freundschaften oder Vorteilen heraus, ein Vorschlag angenommen wird und ein anderer nicht.

Überzeugung; erwächst nur aus Bildung. Damit meine ich nicht nur die akade­mische Bildung, das Wissen im strengen Sinne. Bildung ist neben den wissen­schaftlichen Kenntnissen auch die menschliche Qualität, die Erfahrung im Umgang mit anderen Leuten und sozialen Prozessen.

¿ Nach AL seid ihr immer noch der Meinung, daß in Kolumbien eine poli­tische Organisation nötig ist. Ihr redet heute von einer neuen politischen Bewegung, dem „Nuevo Movimiento Politico“. Welche Charakteristika sollte diese Bewegung oder Organisation haben?

A: ja, wir glauben auch nach den Erfahrungen mit A Luchar, daß eine politische, demokratische und autonome Bewegung, die Vorschläge für das Land entwirft, notwendig ist. Ich glaube außerdem, daß die Charakteristika weitgehend die gleichen bleiben müßten wie bisher. Es müßte eine breite Bewegung sein, in der revolutionäre, marxistische und christliche Organisationen genauso Platz haben wie fortschrittliche Intel­lektuelle, Ökologiegruppen und Frauen­bewegungen. Und es müßte eine demo­kratische Bewegung sein, in der Mei­nungsunterschiede möglich sind, Einzelpersonen und Organisationen respektiert werden.

Mit autonom ist gemeint, daß sie unabhängig von der Regierung, anderen politischen Organisationen und den sozialen Bewegungen entscheiden kann und handelt. Das beinhaltet auch, sich eine eigene Massenbasis zu erarbeiten, und dabei institutionelle und außerin­stitutionelle Elemente miteinander zu verbinden. Sie muß wenn es sinnvoll ist, an Wahlen teilnehmen können, aber gleichzeitig mobilisieren und Straßenkämpfe führen. Im Grunde genommen würde die Neue Politische Bewegung also nur die bereits vorhandenen, positiven Elemente vorhergehender Gruppen zusammenfassen.

¿ Zielst du damit auf die Einigung noch bestehender linker Organisationen ab oder geht es Euch um einen Neuaufbau von der Basis und aus den Regionen heraus? Ist es also eine neue linke Bewegung oder eine Neuzusammen­setzung zunächst aus der übrig geblie­benen Linken?

A: Regionale, gemeindebezogene oder sektorale- z.B. Gewerkschaften- Basisbe­wegungen sind sicherlich etwas unverzichtbares. Über sie läuft die unmittelbare Mobilisierung, es geht um die Durch­setzung eines konkreten Ziels. Wenn diese Bewegungen allerdings keinen nationalen Bezugspunkt haben, dann bleiben sie konjunkturell. Wir haben schon eben darüber geredet. Eine Bewegung, die ihre Forderung nicht einbringt in eine gesamtgesellschaftliche, politische Ausein­andersetzung und sich damit auch verändert, kann nur punktbezogen bleiben. Sobald das konkrete Problem gelöst oder nicht mehr aktuell ist, verschwindet auch die Bewegung. Eine Gemeindebewegung, die den Bau einer Brücke fordert, löst sich in Nichts auf, wenn nicht ein politischer; landesweiter Bezugspunkt da ist.

Deswegen würde ich behaupten, daß es notwendig ist, beides gleichzeitig in Angriff zu nehmen: Basisbewegung und politische Führung. Man kann das nicht nacheinander aufbauen.- Das wäre wie wenn man zuerst die Füße macht, und sich danach -wenn die Beine ordentlich wachsen- Gedanken darüber macht, ob man irgendwann einmal den Kopf entwickelt. Das Problem der politischen Bewegung in Kolumbien ist ähnlich. Wir brauchen Basisbewegungen, aber wir brauchen auch Führungen.

¿ Na ja, aber die Köpfe könnten organisch aus den Massen und Basen selbst hervorgehen. So wie du es beschreibst, kommen sie von außen und werden draufgesetzt.

A: Die Führerinnen der politischen Bewegung sind aus den Massen selbst hervorgegangen. Die Leute, die in der Lage sind, eine landesweite Bewegung zu koordinieren und organisieren, gibt es längst in der regionalen Arbeit.

Von daher wäre es Unsinn, wenn wir jetzt 2 Jahre nur regional und an der Basis arbeiten, bis dann organisch das Landesweite entsteht

¿ Glaubst du wirklich, daß die Existenz von politischen Organisationen der Entwicklung sozialer Bewegungen nützt? Ich meine, daß die Erfahrung mit der Hegemoniesucht der politischen Organi­sationen und auf der anderen Seite mit der Angst der sozialen Bewegungen instrumentalisiert zu werden, aufzeigt, daß die Existenz der politischen Organisation die sozialen Bewegungen geradezu blockieren kann.

A: Wenn die politischen Organisationen zum Arbeitsziel haben, die sozialen Bewegungen mit einer gewissen Selbst­ändigkeit zu stimulieren und ihre Ent­wicklung zu unterstützen, dann glaube ich, haben die Organisationen auf jeden Fall einen Sinn.

Wenn sie dagegen ihre Rolle, Orien­tierungspunkt für die Bewegungen zu sein, zu überzeugen, die Leute durch Unterstützung und Beistand zu gewin­nen, nicht einnehmen, sondern ver­suchen, ihre Linie aufzuzwingen, dann wird es sicherlich das Konfliktverhältnis geben, von dem du sprichst.

Ganz allgemein allerdings halte ich die Existenz von politischen Organisationen für unverzichtbar. Ohne Organisationen wird eine soziale Bewegung nur sehr schwer dahin kommen, grundsätzlich die Verhältnisse umwälzen zu wollen, d.h. die Machtfrage zu stellen. Die Bewegungen an und für sich sind ein wesentlicher Teil der Gegenmacht, aber sie sind nicht alles. Die Verhältnisse zwischen Organisation und Bewegung können in den verschie­denen Ländern ganz stark variieren, und es ist mit Sicherheit niemals ein einfaches Verhältnis. Auf der anderen Seite aber ist das politische Bewußtsein, das zur Bildung von Organisationen führt und von der Lösung eines konkreten Problems zur gesamtgesellschaftlichen Fragestellung übergeht, für die revolutionäre Umwäl­zung unverzichtbar.

¿ Das klingt ein bißchen nach dem alten Transmissionsriemenkonzept des Marxismus-Leninismus. Da ist in der Organisation ja auch schon öfter drüber diskutiert worden. Ich finde das proble­matisch, weil es ein hierarchisches Bild des Intellektuellen, verkörpert in der Partei, reproduziert. Bewußtsein wird zu den Bewegungen gebracht und nur so schaffen diese den Sprung... Das ist avantgardistisch und trägt zur Überwin­dung der Unterwerfung nichts bei.

A: Der Avantgardismus ist sicherlich in der ganzen Welt so gut wie erledigt. Aber ich glaube nicht, daß wir jetzt ins Gegen­teil verfallen sollten: in die völlige Sozialisierung des Machtkampfs,- „die Macht wird nur noch von den unmittelbaren Bewegungen aus erkämpft werden“. Das klingt zwar ganz gut, aber es ist unrealistisch. Die sozialen Bewe­gungen sind ein wesentlicher Teil bei der gesellschaftlichen Umwälzung, aber sie alleine machen eben keine Revolution. Ein Beispiel: die kolumbianische Gewerkschaftszentrale CUT wird sich niemals in eine Machtalternative verwan­deln können. Sie wird immer soziale Interessen unterhalb der Machtfrage vertreten…

¿ Aber die brasilianische Gewerkschaft hat sich mit der PT in eine Machtalter­native verwandelt...

A: Die CUT ist in Brasilien nicht die Machtalternative, die Machtalternative ist die PT...

¿ Die aber aus der CUT hervorgeht...

A: Nein, das stimmt nicht. Die PT geht aus der Arbeiterbewegung hervor, aus der Bewegung, aus den Arbeitern, nicht aber aus dem Gewerkschaftsapparat.

Natürlich wird es weiterhin Beziehungen zwischen den Arbeiterinnen, ihrer Gewerkschaft und der Organisation oder Partei geben. Aber es sind unter­schiedliche Phänomene.

Beim bolivianischen Gewerkschafts­verband COB glaubte man z.B. nach dem Eintritt von anderen Volkssektoren- Bäuerinnen, Stadtteilbewohnerinnen usw.-, daß sich der Verband in eine Machtalternative verwandeln könne. Aber genau das ist nicht passiert. Ich glaube, daß nur die Kombination von Orga­nisation und sozialer Bewegung die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt in Frage stellen kann. Die politische Organisation geht natürlich aus den sozialen Bewegungen hervor, viele von uns politischen Dirigentes sind wir Arbeiterinnen, und ich betrachte mich auch immer noch als Arbeiter und nicht als Politiker. Trotzdem ist auch nicht anzuzweifeln, daß mein Horizont durch die Organisation und die Arbeit in ihr ein ganz anderer ist als der eines normal malochenden Arbeiters. Die Frage ist also nicht, daß die Militanten einer politischen Organisation nicht aus den Bewegungen kommen können. Der Unterschied ist, daß sich ihr Horizont durch ihre politische Militancia von der Einzelforderung weg auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse hin erweitert.

¿ Zuletzt ist viel von den Grenzen der nationalen Befreiung in Lateinamerika geredet worden. Wir haben schon früher darüber diskutiert und im Grunde genommen liegt es nach Nicaragua auf der Hand. Glaubst du, daß in absehbarer Zeit eine lateinamerikanische oder lateinamerikanistische Bewegung möglich ist?

A: Die Krise des Sozialismus in Osteuropa und der SU hat in Latein­amerika eine positive Auswirkung gehabt. Wir diskutieren heute wieder intensiv, wie denn der Marxismus in unseren Verhältnissen auszusehen hat. Es gibt einige, die behaupten, daß der Marxismus auf diesem Kontinent erst noch entdeckt werden muß.

Wir fangen erst an. Daß es sich dabei nicht mehr um Kopien handeln kann, wie sie praktisch alle lateinamerikanischen Linken gemacht haben, versteht sich von selbst.

Ausgehend von dem Treffen des „Foro de Sao Paolo“, wo sich marxistische, einige sozialdemokratische und demokratische Organisationen treffen, glauben wir, daß zumindest unter den marxistischen Gruppen eine lateinamerikanische Internationale möglich ist.

¿ Wär das eine Koordination, oder wirklich ein organischer Körper, eine echte Einheit, in Form einer internationalen Organisation?

A: Das wäre zunächst natürlich nur eine Koordination, die sich alle x-Monate trifft, um Ideen auszutauschen und Aufgaben abzustimmen. Das „Foro“ arbeitet im Augenblick auf dieser Ebene. Das Ziel dagegen ist natürlich eine viel solidere und kontinuierlichere Zusam­menarbeit, die gleichzeitig die Eigenheiten jedes Landes berücksichtigt. Es geht nämlich auf der anderen Seite auch nicht um eine Fusion aller linken Organisationen Lateinamerikas.

¿ Du hast die Gültigkeit des Marxismus erwähnt. In dem Zusammenhang gehört es auch schon zu meinen Standards zu fragen, was du von der Gültigkeit des Leninismus hälst?

A: Die Thesen von Marx und Lenin sind sehr eng miteinander verknüpft. Wir sind heute nicht mehr wie die Bibelleser des Kapitals vor einigen Jahren, die geglaubt haben, die beiden hätten niemals irren können. Aber in den grundlegenden Fragen glauben wir, daß diese beiden Denker nach wie vor zum elementaren Rüstzeug jeder revolutionären Bewegung gehören müssen.

Genau wie die Schriften vom Che, von Camilo Torres, Mariategui und vielen vielen anderen sind sie Grundlage für die Entwicklung eines revolutionären, marxistischen Denkens.

¿ Aber es gibt doch wesentliche Thesen gerade was das Entwicklungsmodell der Bolschewiki betrifft, die man als Revolutionärin eigentlich nicht vertreten kann. Z.B die Industrialisierung auf Kosten der Bauernschaft, die unter Stalin zu einem offenen Terror gegen die Landbevölkerung geführt hat. Meiner Ansicht kann ein solches Entwick­lungsmodell - egal wie schwierig die Lage der russischen Revolution in den Jahren nach 1917 war- nicht richtig sein.

A: Marx und Lenin mögen hinsichtlich der unterentwickelten Länder in vieler Hinsicht falsch gelegen sein. Z.B auch die Vorstellung Marx’ über den Führer der antikolonialen Bewegung in unseren Ländern,- Simon Bolivar, der für Marx einfach nur ein reaktionärer Bourgeois war und sonst gar nichts. Wir halten das für Blödsinn.

Was du über Lenin sagst, mag in vielen Aspekten stimmen, aber das disqualifiziert meiner Meinung nach noch kein Denken. Ob ein Denken als solches verworfen werden kann oder nicht, hängt nicht von den Irrtümern ab, die gesagt und geschrieben wurden, sondern davon, oh die ihm zugrunde liegende Methode eine Wirklichkeit erklärt und Lösungs­ansätze liefert oder nicht.

Bei Lenin z.B. finde ich die Schriften über die Demokratie sehr gut. Wenn wir Lenins Vorstellun­gen über die Demokratie in den revolutionären Organisationen verwirk­lichen würden, dann hätten wir nicht die anti-demokratischen Apparate, die wir heute kennen.

Bei Marx läßt sich ähnliches sagen. Er mag die Bedingungen unterentwickelter Länder zunächst nicht verstanden haben, aber zu seinem Lebensende hat er sehr viel zur Entwicklung des Kapitalismus in unterwickelten Staaten geschrieben, und war dabei, von seiner These abzurücken, daß Revolutionen nur entwickelten kapitalistischen Ländern möglich sind.

¿ Ein Satz, der vielleicht ein bißchen höhnisch klingt: „Die Parole der Zeit muß heißen, radikaler zu werden“. Was meinst du?...

A: Na ja, wenn man unter radikal versteht, revolutionäre Prinzipien zu besitzen, eine Sehnsucht, den Sozialismus aufzubauen, dann finde ich es richtig, daß wir die Radikalität bewahren müssen. Wir müssen darauf bestehen, daß die Gesellschaften nicht reformiert, sondern revolutioniert werden sollen, daß wir die Machtfrage zu stellen haben.

Wenn Radikalität allerdings heißt, jede Ordnung anzugreifen, die Realität nicht so zu sehen wie sie ist, sondern so wie man sie gerne hätte, dann würde das kaum einen Fortschritt bedeuten.

¿ Es ist ein interessantes Phänomen sowohl in den USA, als auch in Europa und Lateinamerika, daß während die Massen immer unzufriedener, rebellischer und spontan staatsfeindlicher werden, die Linken einen immer gemäßigteren Kurs vertritt. Wie erklärst du dir dieses Phänomen?

A: Es gibt eine ziemlich große Verwirrung heute in der Linken, und zwar weltweit. Das dürfte niemandem von uns entgangen sein, und diese Verwirrung drückt sich natürlich auch in der Aufweichung der politischen Linie aus. Ohne 100% klare Konzepte und Perspektiven sind zumindest die Vordenkerinnen der Linken, d.h. die Intellektuellen für eine Wende nach der Mitte ziemlich anfällig. Schließlich stehen ihnen in der bürgerlichen Gesellschaft eine ganze Menge Möglichkeiten offen. Wenn sie also sowieso am Zweifeln sind, dann wird dieser Zweifel, sehr schnell zum Anlaß für eine offene Wende zurück ins System.

Die revolutionäre Linke muß heute zweifellos ihre Praxisformen z.T. verändern und ihre politischen Vorschläge umgestalten, kurzum wir müssen uns an die Tatsache anpassen, daß wir am Ende des 20Jahrhunderts leben. Ansonsten würden wir wirklich das werden, was die bürgerliche Presse von uns behauptet, daß wir nämlich Dinosaurier sind, die dem Aussterben nicht mehr entgehen können. Aber das bedeutet für unsere Prinzipien nichts. Die bleiben gültig.

¿ Inwieweit hat der Zusammenbruch des Realsozialismus eigentlich hierbei eine Rolle gespielt?

A: In der Bevölkerung wurde das eigentlich kaum wahrgenommen, aber in der aktiven Linken hat es natürlich wie ich schon angedeutet habe, eine enorme Bedeutung gehabt. Positiv war es in der Hinsicht, daß Dogmen auf einmal angezweifelt werden müssen. Negativ dagegen war vor allem, daß es eine massive Kampagne der bürgerlichen Medien gab, die uns zu Fossilien erklärt hat. Und diese Kampagne plus das Gefühl der Unklarheit, der Suche führte bei vielen Linken dazu, alles anzuzweifeln: die Prinzipien revolutionärer Politik - wie z.B. daß die Machtfrage gestellt werden muß- die Ziele einer grundlegend unige­wälzten, menschlichen und sozial­istischen Gesellschaft, die eigene Geschichte, die Bedeutung poli­tischer Organisationen, die Richtigkeit von Systemopposition überhaupt.

Der lange Zeit falsche Umgang mit Zweifeln und Widersprüchen in den linken Organisationen hat dann dazu geführt, daß alle Organisa­tionen sich gespalten haben: aus der KP gingen verschiedene, sozial­demokratische gewandelte Gruppen heraus, das EPL zerbrach und es entstand ein Flügel, der den bewaffneten Kampf ablehnt, von der UCELN spaltete sich die Corriente ab usw.

Die Medienkampagne in der Bevölkerung dagegen hat weniger Bedeutung als man am Anfang glauben konnte. Es ist einfach offensichtlich geworden, daß die Krise des Sozialismus hier viel weniger spürbar ist als die chronische Krise des Kapitalismus.