Valtin wütet auf seinem Gabelstapler wie ein Stier. Er haut immer rein in die Arbeit. Steht keine Sekunde still. [...] Wenn er drei Ladungen zugleich erledigen soll, heißt, wenn drei Maschinen mit Material bedient werden müssen, spürt man so richtig, wie er reinhaut; der helle Schweiß steht ihm dann auf der Stirn – und der sagt: mich kriegen sie nicht klein, mich nicht; ich bleib beim Opel.
Im Jahre 1926 macht der junge Mao Tse-Tung mit unkonventionellen Ansichten von sich reden: Die Bauern des 400-Millionen-Einwohner- Landes, die gerade in mehreren Provinzen mit gewalttätigen Aufständen gegen die halbfeudalen Verhältnisse rebellierten, seien als Verbündete der Kommunisten im Kampf gegen die Bourgeoisie anzusehen. In der KP China begegnet man solchen Äußerungen mit großer Skepsis. Also setzt sich Mao aufs Land ab – zur Untersuchung der Lage. Er befasst sich mit den bäuerlichen Revolten in der Provinz Hunan und erklärt kurz darauf: „Es dauert nur noch eine sehr kurze Zeit, und in allen Provinzen Mittel-, Südund Nordchinas werden sich Hunderte Millionen von Bauern erheben. [...] Sie werden alle revolutionären Parteien, alle revolutionären Genossen überprüfen, um sie entweder zu akzeptieren oder abzulehnen. Soll man sich an ihre Spitze stellen, um sie zu führen? Soll man hinter ihnen hertrotten, um sie wild gestikulierend zu kritisieren? Oder soll man ihnen in den Weg treten, um gegen sie zu kämpfen? Es steht jedem Chinesen frei, einen dieser drei Wege zu wählen, aber der Lauf der Ereignisse wird dich zwingen, rasch deine Wahl zu treffen.“ (Mao Tse-Tung: Untersuchungsbericht)
Untersuchung klingt nach Arztbesuch und Mao klingt nach Schreckensherrschaft oder Mao-Bibel. Das war 1970 anders. In den Jahren nach 1968 war der Bedarf an Orientierung groß. Der Realsozialismus hatte sich durch die Niederschlagung des Prager Frühlings gerade aufs Neue diskreditiert; weder die KP Frankreich noch die Italiens standen 1968 auf der Seite der rebellierenden Jugend ihrer Länder. Es war die Zeit der friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und Kommunismus. Nicht so in Fernost. In China hatten seit Beginn der Kulturrevolution ‚die Massen’das Wort. Sie waren angehalten, alle Autoritäten – auch die Partei – in Zweifel zu ziehen und die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal umzukrempeln. Das war zumindest das, was von der Kulturrevolution im Westen ankam. Und es kam bei den antiautoritären Aktivisten der zerfallenden Studentenbewegung hervorragend an. Die Kulturrevolution im Reich der Mitte schien das Gegengift gegen den Bürokratismus des Sowjetsystems, dessen Industrialisierungspolitik den Menschen auf eine bloße ökonomische Kennziffer reduzierte. In den Jahren unmittelbar nach 1968 war Mao links der DKP nahezu konsensfähig. Das galt auch für die Gruppen der jungen spontaneistischen Strömung1. Von einer dieser Gruppen soll hier die Rede sein: vom Revolutionären Kampf (RK) aus Frankfurt.
Um 19:30, nach der Pause fing es stark an zu regnen. Wir konnten nicht mehr mit den Hauben durch den Regen fahren: Rostgefahr; sie mussten beim Verlassen der Halle mit Planen abgedeckt werden. Dafür wurden durch unseren Meister „zwei Männer“ ans Tor gestellt, die die Aufgabe hatten, unsere Dollies und die anderer Fahrer, die in den Regen müssen, mit den Planen abzudecken. Die Planen sind schwer; trocken einen viertel Zentner, nass einen dreiviertel Zentner. Die Männer, frischeste Gastarbeiter, hatten kein Interesse schnell zu arbeiten. An was andres hatte der Meister nicht gedacht: dass im K 98 die Planen auch von den Dollies abgezogen werden mussten.
Der RK sah im Begriff der Untersuchung den Schlüssel zum Verständnis des chinesischen Erfolgsmodells. Die maosche Klassenanalyse, die gründliche Untersuchung und dann die Beteiligung an den Kämpfen im Land, habe es der chinesischen KP ermöglicht, ihre politische Strategie an die gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen und so die zum Erfolg führenden Schritte zu tun.
Das sollte sich übertragen lassen. In der Bundesrepublik hatte es gerade eine Welle spontaner Streiks gegeben, in denen vor allem Metallarbeiter ganz unbürokratisch erhebliche Lohnerhöhungen durchgesetzt hatten: die Septemberstreiks von 1969. Diese ‚Arbeiterspontaneität‘ war ungewöhnlich und neu im Heimatland der Sozialpartnerschaft. Waren die Streiks Vorboten für einen Aufschwung der Klassenkämpfe in Westdeutschland? Um diese Frage zu beantworten, gelte es, so der RK, die Zusammensetzung der Klasse in der Bundesrepublik zu analysieren und herauszufinden, wie sich unter den gegebenen Bedingungen Klassenbewusstsein entwickle, wer die kämpferischen Subjekte im Betrieb seien und wie man sie organisieren könne. Dafür müsse man sich selbst in die Fabriken begeben, dort arbeiten und an den Kämpfen der Proletarier teilnehmen.
Nach dem Prinzip von Lamia, nie den Meister fragen, habe ich zu zwei von den Arbeitern im Zelt, die gerade eine Atempause machten, gesagt, sie mögen mir helfen, durch Handbewegungen habe ich meinen Wunsch erläutert. Sie haben frech grinsend geantwortet: ‚Nix Verstehn!’ [...] Ich habe angefangen zu kochen. Es wäre nur die Möglichkeit geblieben, zum Meister zu gehen. Ich habe das unterlassen. Einfach sitzen bleiben auf meinem Schlepper, das ging nicht. Es wird von einem Fahrer erwartet, dass er sich zu helfen weiß. Ich habe die Planen selbst abgezogen, zusammengelegt, auf den Schlepper gepackt. Ich war schweißnass. Zitternd am ganzen Körper bin ich zurück in die trockene, heiße Halle gekommen. Geracis kam nicht durch. Am Hallenausgang, wo die Planen draufgelegt werden, war inzwischen natürlich eine Verstopfung.
Natürlich hätte man sich eine solche Untersuchung auch ohne den Hinweis auf Mao ausdenken können. Die maoistischen Bezüge waren als Seitenhieb in Richtung der zahlreichen entstehenden ‚marxistisch- leninistischen‘ Parteien und Bünde gedacht. Den „ML-Genossen“ warfen die RKler „einen pseudo-maoistischen Populismus“ vor. Da sie die „Verdinglichungen im Bewusstsein der Arbeiter“ nicht wahrnähmen, könnten sie die Gründe für die reformistische Einbindung des Proletariats in den westlichen Gesellschaften nicht begreifen. Die MLer sähen hier nur ein Organisationsproblem, das durch den Aufbau einer revolutionären Partei zu lösen sei.
In der Untersuchung sollten dagegen die Widersprüche im Arbeitsprozess aufgespürt werden, an denen sich irgendwann die Kämpfe im Betrieb entzünden würden. Die Arbeitskämpfe wurden zum objektiven, vom Arbeiterbewusstsein unabhängigen, ‚autonomen’ Motor der Geschichte erklärt, da und insofern sich ihre Logik gegen die Logik der kapitalistischen Produktion richtete2. Die ‚autonomen Bedürfnisse’ der Arbeiter (nach mehr Geld, weniger Arbeit, mehr Freizeit) wiesen also in ihrer Tendenz schon über die Grenzen der bestehenden Gesellschaft hinaus. Man musste sie nur anheizen.
Dann, mitten in einer Verstopfung am Hallenausgang, ging Geracis, als seine Dollies endlich abgedeckt waren, das Benzin aus. Gewöhnlich wird der Schlepper von der Frühschicht aufgefüllt; das Benzin reicht dann je nachdem 16 bis 20 Stunden. Aber Geracis hätte auf jeden Fall mal nachsehen müssen. Als die Fahrer andrer Abteilungen mitkriegten, warum es nicht weiter geht, waren plötzlich nicht mehr der Regen, nicht mehr die Arbeit – die sowieso nicht – sondern nur noch Geracis schuld. ‚Du Arschloch, dann geh halt runter von der Maschine!’ Und so ging es. Natürlich half keiner. Wieso auch, dadurch konnten sie ja auf ihren Hubwagen und Schleppern sitzen bleiben, gleichzeitig eine Pause machen und Dampf ablassen.
Natürlich brauchte es dennoch Organisation, langfristig. Aber diese könne man den Arbeitern nicht von außen bringen. In den betrieblichen Kämpfen, so die Hoffnung, würden sich diejenigen Arbeiter zu erkennen geben, mit denen man sich gemeinsam an den Aufbau „revolutionärer Kerne“ machen könne. Waren diese entstanden und wiesen sie eine gewisse Stabilität auf, wollten die „sozialistischen Intellektuellen“ des RK den Betrieb wieder verlassen. Man verstand sich gewissermaßen als Starthilfekabel für die revolutionäre Selbstorganisation der Arbeiter.
Zwei Annahmen boten Orientierung in der unbekannten Welt der Großindustrie. Erstens: Die zunehmende Automatisierung lasse den alten Facharbeiter langsam verschwinden. An seine Stelle trete der unqualifizierte Massenarbeiter, ein dem Produkt total entfremdetes Anhängsel der Maschine, dessen Hass auf die Arbeit durch die stumpfsinnige und monotone Tätigkeit am Band geschürt werde. Zweitens: Die Arbeiterklasse in den westlichen Industrienationen sei längst multinational zusammengesetzt – und durch den Arbeitsprozess gespalten. Die besonders schweren und monotonen Tätigkeiten seien einer betrieblichen Unterschicht vorbehalten: den Gastarbeitern, aber auch vielen Frauen und jungen Arbeitern. Demgegenüber seien die Vor- und Facharbeiterpositionen vor allem mit männlichen deutschen Arbeitern besetzt. Dieses Arrangement führe zu unterschiedlichen Interessenlagen im Betrieb und sei als Widerspruch innerhalb des Produktionsprozesses zentrale Bedingung (und Schranke) für die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Vom unqualifizierten Massenarbeiter versprach man sich am ehesten rebellische Taten im Betrieb.
Um zehn Uhr hatte ich mich wieder so weit, dass ich es auslaufen ließ. [...] Habe mich in aller Ruhe in meinem leer angekuppelten Schlepper im K 98 ausgestreckt und eine Zigarette geraucht. Zur Ruhe musste ich natürlich erst langsam kommen. Dann fuhr ich ganz, ganz langsam zurück, beschaute mir noch mal die 49er Straße, die inzwischen von vollen Dollies völlig verstopft war; man wäre gar nicht mehr durchgekommen. Ich habe abgehängt und bin mit dem Schlepper allein gemütlich, aber fertig einmal um die Halle rumgekurvt, habe mir das Chaos noch mal vom andern Ende der Straße her angeschaut, bin dann um 22.25 pünktlich an unserem Maschinenplatz eingetroffen. Dort habe ich meinen Schlepper langsam und exakt aufgestellt für die Nacht.
Die Frankfurter Gruppe beschloss, die Untersuchung im Opelwerk Rüsselsheim zu beginnen. Im Oktober 1970 nahm das erste Dutzend Aktivisten die Arbeit „beim Opel“ auf: zwei Frauen und an die zehn Männer. Diese „Innenkader“ sollten ein Jahr bei Opel bleiben. Sie mussten in RKWohngemeinschaften wohnen, als soziales Gegengewicht gegen die isolierende Struktur der Fabrikarbeit, und wurden außerdem von mehreren „Außenkadern“ betreut. Diese trafen sich mit den Innenkadern (zunächst täglich), protokollierten deren Berichte aus dem Werk und gaben ihnen neue Untersuchungsfragen mit auf den Weg. Außerdem wählten sie Schulungstexte aus, die den politischen Blick der Innenkader auf die betrieblichen Abläufe schärfen sollten. Diese Maßnahme war auch als Gegenmittel gegen die befürchtete ‚Verbetrieblichung’ im Denken der Innenkader vorgesehen. Einmal in der Woche traf sich die ganze Gruppe, um die Entwicklung der Arbeit und die nächsten Schritte zu diskutieren. Danach wurde gefeiert.
Der Kontakt mit der Welt der industriellen Produzenten war ein Abenteuer, dessen Glanz sich schnell abnutzte. Frühes Aufstehen und Wechselschicht förderten einen nüchternen Blick auf die Lage und politischen Möglichkeiten der Arbeiterklasse. Die Gleichgültigkeit der Arbeiter gegenüber der Ausbeutung wurde bald als Überlebensstrategie analysiert, um bei Opel durchzuhalten, die Auswirkungen des Arbeitsprozesses auf Gemütslage und geistige Verfassung der revolutionären Hoffnungsträger in gründlichen Protokollen festgehalten. Der Alltag im Werk hatte so gar nichts gemein mit den aufregenden Erlebnissen, die wenige Jahre zuvor die Politisierung der Betriebskader begleitet hatten. Solche Probleme hatte man zwar bei der Planung des Unternehmens einkalkuliert, aber offensichtlich unterschätzt. Der Widerspruch zwischen einem Leben nach dem Rhythmus des Fließbands und dem Leben nach dem Rhythmus der Sponti-Szene ließ die Innenkader schnell die eigenen Belastungsgrenzen erkennen. Hinzu kamen Hänseleien, mit denen die Alteingesessenen bei Opel manchen der offensichtlich milieufremden Neulinge bedachten. So hatte man sich das nicht vorgestellt. Die Moral der Gruppe sank.
Zuhause habe ich geduscht und bin gleich ins Bett gefallen; habe im Bett noch französischen Camembert gegessen und zwei Gläser Wein getrunken und zwei Zigaretten geraucht. Dann bin ich eingeschlafen. Morgens um acht bin ich mit bösen Träumen über die Arbeit aufgewacht.
Bald war klar, dass das bloße protokollarische Festhalten der deprimierenden Lage der Klasse nicht ausreichte. Etwas Abwechslung musste her, allein schon, um die Stimmung der Innenkader zu heben. Die Gruppe begann die Flugblattagitation vor dem Werk. Sie sollte den Arbeitern die Möglichkeit verändernden Handelns aufzeigen und deutlich machen: Es gibt eine Kraft, die Aktionen unterstützen würde. Die Flugblätter thematisierten die durch die Untersuchung bekannten Konflikte in einzelnen Abteilungen („Die Klimaanlage in Abteilung Soundso ist defekt!“) und forderten Verbesserungen. Das sorgte, so berichten Beteiligte, für einigen Wirbel im Werk. Das hermetische System Fabrik wurde auf einmal porös. Informationen von drinnen drangen nach draußen und umgekehrt – und die Arbeiter diskutierten. Das war aber erstmal auch alles.
Es sollte sich in der Tarifrunde 1971 ändern. Die unter den italienischen Opel- Arbeitern aktive Lotta Continua (eine der größeren Gruppen der operaistischen Linken Italiens) hatte im Frühjahr die Forderung nach einer Mark mehr für alle aufgebracht. Die Forderung wurde im Werk schnell populär. Der RK sah die Zeit zum Handeln gekommen und sprang auf den Zug auf. Auf einer Betriebsversammlung sollte die Forderung propagiert und zum Warnstreik aufgerufen werden. Kurz nach Beginn der Versammlung verschafften sich 2000 italienische Arbeiter unter Rufen nach einer Mark mehr für alle Zugang zur Versammlung (die Betriebsversammlungen bei Opel fanden, wie in den meisten Unternehmen, nach Sprachen getrennt statt). Es kam es zum Handgemenge mit dem Betriebsrat, der einen Auftritt der Italiener unbedingt unterbinden wollte. Eine Aktivistin des RK ergriff das Wort und rief zum Streik auf, doch die anschließende Diskussion endete im Tumult. Weder dem RK noch Lotta Continua gelang es, die Stimmung in einen Streik umzumünzen und die Mehrheit der deutschen Beschäftigten mitzuziehen. Am nächsten Tag wurden die beteiligten RKler entlassen, die erste Welle der Betriebsintervention war damit beendet.
Nach diesem Knall setzte der RK seine Arbeit beim Opel fort; ihre Grenzen traten aber immer deutlicher zutage. Zwar gelang es noch immer, Zustimmung zu den Parolen des RK zu erzeugen, nur eröffneten die abstrakt ‚richtigen‘ Forderungen den Arbeitern keine Handlungsperspektive. In einer Rückschau schreibt die Gruppe einige Jahre später: „Warum sollten die Arbeiter aufgrund einiger Flugblätter plötzlich anfangen, ihre Angst, den Betriebsrat und die Gewerkschaften zu vergessen, ‚sich selbst zu organisieren’, sich ‚nicht mehr uneins zu sein’ und den ‚Kampf gegen die kapitalistische Produktionsweise’ zu eröffnen?“
Und noch etwas stellte sich heraus: Die jugendlichen Arbeiter und Lehrlinge, bei denen der RK am meisten Zuspruch fand, wollten sich gar nicht als Opel-Arbeiter organisieren. Sehr viel mehr konnten sie sich begeistern für den aufregenden Lebensstil der Spontis, für ihre Wohngemeinschaften, Feste und wechselnden Partnerschaften. Durch den Kontakt mit den Frankfurter Aktivisten wurde aus dem Traum plötzliche eine greifbare Möglichkeit. Wo sich die Gelegenheit bot, schlugen die jugendlichen Arbeiter gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie entfl ohen der Enge des elterlichen Zuhause und der Monotonie der Fabrik. Sie zogen nach Frankfurt in eine der vielen Szene-Wohnungen und begannen zu jobben oder schalteten sich in die aufkommenden Hausbesetzungen ein.
Während die RKler im Betrieb kaum einen Schritt vorankamen und die ersehnten Fabrikrevolten ausblieben, entwickelten sich in Frankfurt militante Häuserkämpfe, bei denen auch mancher RK-Außenkader kräftig mitmischte. Die Betriebsarbeit wurde mehr und mehr zur lästigen Pflichtübung, während draußen die revolutionäre Kür lockte. Die Konsequenz war bald gezogen. Offenbar zog das rebellische Subjekt im Spätkapitalismus es vor, seine Kämpfe nicht innerhalb, sondern außerhalb der Fabrik auszufechten. Welchen Sinn hatte es dann noch, bei Opel auf ein Fünkchen zu warten, auf das man pusten konnte? 973 erklärte der RK, die Jugendzentrumsbewegung, Hausbesetzungen und Schülerstreiks seien die modernen Klassenbewegungen des jugendlichen Proletariats. Sie spiegelten das Bedürfnis wider, gegen den Stumpfsinn in Arbeit, Ausbildung und Freizeit aufzubegehren und das eigene Leben selbst zu organisieren. In diesen Bewegungen fanden die RKler das rebellische Subjekt und die Akte praktischer Verweigerung, die sie bei Opel so schmerzlich vermisst hatten. Auch wenn die Betriebsarbeit fortgesetzt wurde – die Häuserkämpfe in Frankfurt und Rüsselsheim liefen ihr nach und nach den Rang ab.
Die ständige Überflutung mit Dingen und Abläufen im Betrieb, die einen gleichsam erschlagen und die den ganzen eingefahrenen Begriffsapparat (Verdinglichung, Ideologie, Bewusstsein etc.) sprengen, hat natürlich Auswirkungen auf die Diskussion und das Verhalten Reimuts im Zellkern. In den Protokollen und Zellkerndiskussionen – besonders in denen, die sich direkt an die Arbeit im Betrieb anschließen – kommt immer wieder eine spezifi sche Form der ‚Rache’ durch, indem Reimut seine Außenkader nur in drastischer Weise konfrontiert mit den Erscheinungsformen des Kapitalverhältnisses und deren Wirkungsweise auf die Kollegen und auf Reimut selbst. Rache hieße da etwa, die Protokolle stets mit einem Beigeschmack von Resignation zu verfassen, aber immer mit einer Art ‚Nabitte- schön‘-Effekt: „ich schreib ja nur so, wie es wirklich ist“ und „ich bin ja schließlich auch in den Betrieb gegangen“ (will sagen: ich setze doch nicht die Tradition der antiautoritären Revolte fort), „und wir, die wir meinen, aus der Studentenbewegung die politisch richtigen Konsequenzen gezogen zu haben [...] und meinen, es müsse nun immer so weiter laufen mit dem Aufbau von Betriebszellen, Klassenkämpfe, Revolution und so fort, wir werden schon sehen...“
Mit Untersuchung hat all das mehr zu tun, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Während viele der maoistischen Gruppen auch in der Fabrik zunächst munter für Partei und Klassenkampf draufl os agitierten, lenkte der Ansatz des RK den Blick seiner Aktivisten auf die „autonomen Bedürfnisse“ der Arbeiter, aber zugleich auf die Momente der betrieblichen Wirklichkeit, die der Entwicklung einer kämpferischen Subjektivität entgegenstanden. Individuelle Handlungen, mit denen die Arbeiter das kapitalistische Kommando in der Fabrik unterliefen – Diebstahl, Parodien des Meisters, langsames Arbeiten, Krankfeiern ... – deutete der RK als Verweigerungs- und Widersetzungsstrategien. Sie sollten der Ausgangspunkt für die Zuspitzung der Widersprüche im Betrieb werden. Nur: Die meisten dieser Strategien wiesen aus der Fabrik hinaus. Es war für den RK also nur folgerichtig, nicht am einmal beschlossenen Konzept blind festzuhalten, sondern den Kämpfen gegen die Disziplin der Arbeitsgesellschaft wieder nach draußen zu folgen. Gar nicht so anders hatte es Mao beinahe 50 Jahre zuvor mit den Kämpfen der chinesischen Bauern gehalten.
Der Große Steuermann wäre – möglicherweise, man weiß es ja nicht – stolz gewesen.