[…]

Ich weise noch einmal auf den soziologischen Charakter des Marxschen Denkens hin; Marx lehnt es in der Tat ab, die Arbeiterklassen von der Kapitalbewegung her zu bestimmen, d.h. er hält es für unmöglich, von der Kapitalbewegung ausgehend automatisch die Arbeiterklasse analysieren zu können: die Arbeiterklasse, gleichgültig ob sie als Konfliktelement und folglich als kapitalistisches Element oder ob sie als antagonistisches und das heißt antikapitalistisches Element hervorgeht, muss unbedingt einer völlig gesonderten wissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. Ich bin deshalb der Ansicht, dass unter diesem Gesichtspunkt das Ende der Soziologie in der marxistischen Tradition auf eine Involution des marxistischen Denkens hindeutet. […]

Das bedeutet meiner Ansicht nach keineswegs, dass die Soziologie eine bürgerliche Wissenschaft ist, sondern es heißt vielmehr, dass wir die Soziologie anwenden und kritisieren können, ebenso wie Marx es mit der klassischen politischen Ökonomie getan hat, d.h. indem wir sie als eine begrenzte Wissenschaft betrachten (und aus der Art der Umfrage, die wir vorhaben, geht deutlich hervor, dass bereits alle Hypothesen darin enthalten sind, die über den Rahmen der gängigen Soziologie hinausgehen) … Es sei noch einmal betont, dass die gesellschaftliche Dichotomie, mit der wir konfrontiert sind, ein sehr hohes Niveau wissenschaftlicher Analyse erfordert, sowohl in Bezug auf das Kapital, als auch hinsichtlich des Konfliktund potentiell antagonistischen Elements, nämlich der Arbeiterklasse. […]

Die Methode der Umfrage ist für uns unter diesem Gesichtspunkt ein ständiger politischer Bezugspunkt, abgesehen davon, dass sie sich später in dieser oder jener spezifischen Umfrage konkretisieren soll; sie bedeutet nämlich, dass wir uns weigern, die Analyse des Entwicklungsstands der Arbeiterklasse von der Analyse der Entwicklung des Kapitals abzuleiten […] Die Methode der Umfrage müsste es also ermöglichen, jede mystische Konzeption der Arbeiterbewegung zu vermeiden und den Bewusstseinsstand der Arbeiterklasse stets wissenschaftlich zu ermitteln; damit müsste sie auch die Möglichkeit bieten, dieses Bewusstsein auf ein höheres Niveau zu heben. Unter diesem Gesichtspunkt besteht eine Kontinuität zwischen der soziologischen Beobachtung, die mit ernsthaften und rigorosen Kriterien durchgeführt wird, und der politischen Aktion: die soziologische Umfrage stellt eine Art von Vermittlung dar, ohne die man Gefahr läuft, sich eine entweder pessimistische oder optimistische, auf jeden Fall aber vollkommen willkürliche Vorstellung vom Niveau des Klassenbewusstseins zu machen, das die Arbeiterklasse erreicht hat. Es liegt auf der Hand, dass diese Überlegung die politischen Ziele der Umfrage beeinflusst, ja dass sie selbst das Hauptziel der Umfrage bildet. […]

Es ist offensichtlich, dass die sozialistische Anwendung der Soziologie neu überdacht werden muss, und zwar im Lichte der grundlegenden Hypothesen, von denen man ausgeht und die sich in einem Satz zusammenfassen lassen: die Konflikte können in Antagonismen umschlagen und damit aufhören, systemdienlich zu sein (wobei man sich vor Augen halten muss, dass die Konflikte systemerhaltend sind, da dieses System dank der Konflikte voranschreitet).

Eine wesentliche Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang unsere Forderung, einen Teil der Umfrage noch während einer besonders ausgeprägten Konfliktsituation durchzuführen und in dieser Situation das Verhältnis zwischen Konflikt und Antagonismus zu analysieren, d.h. zu prüfen, inwieweit sich das Wertsystem ändert, das der Arbeiter in normalen Zeiten äußert, welche Werte im Bewusstsein als Alternative neu geschaffen werden, welche dagegen in diese Momenten aufgegeben werden, und warum es Werte gibt, die der Arbeiter in normalen Zeiten besitzt und in Momenten der Klassenkonflikte aufgibt, oder umgekehrt.

Es müssen also insbesondere alle Phänomene untersucht werden, die die Solidarität der Arbeiterklasse betreffen, sowie das Verhältnis, das zwischen der Solidarität der Arbeiter und der Ablehnung des kapitalistischen Systems besteht: es gilt also zu bestimmen, inwieweit sich die Arbeiter in Konfliktmomenten bewusst sind, dass ihre Solidarität auch in antagonistische Gesellschaftsformen einmünden kann. Letzten Endes geht es darum zu prüfen, inwieweit sich die Arbeiter bewusst sind, angesichts der auf Ungleichheit gegründeten Gesellschaft eine Gesellschaft von Gleichen zu fordern, und inwieweit ihnen bewusst ist, dass dies für eine Gesellschaft eine allgemeine Bedeutung annehmen kann, als Forderung nach Gleichheit angesichts der kapitalistischen Ungleichheit.

Wenn wir die Bedeutung einer Umfrage in Konfliktsituationen betonen, so gehen wir offensichtlich von einer grundlegenden Annahme aus: nämlich dass es einer in sich antagonistischen Gesellschaft niemals gelingt, zumindest einen der Hauptfaktoren, aus denen sie sich zusammensetzt, nämlich die Arbeiterklasse, gleichzuschalten; es muss deshalb untersucht werden, inwieweit die Dynamik konkret erfasst werden kann, durch die die Arbeiterklasse tendenziell vom Konflikt zum Antagonismus übergeht und damit die Dichotomie, von der die kapitalistische Gesellschaft lebt, explosiv macht. Daher muss die Formulierung des Fragebogens, der in diesen Situationen verwendet werden soll, meiner Ansicht nach mit der größten Sorgfalt durchdacht werden.

[…] Die Ziele der Umfrage lassen sich folgendermaßen umreißen: wir knüpfen sehr große Erwartungen an die Umfrage, dass sie eine korrekte, wirksame und politisch fruchtbare Methode darstellt, um mit einzelnen Arbeitern und Gruppen von Arbeitern in Kontakt zu kommen; das ist ein sehr wichtiges Ziel: zwischen der Umfrage und dieser politischen Aufbauarbeit besteht nicht nur keine Diskrepanz und kein Widerspruch, sondern die Umfrage erscheint vielmehr als ein grundlegender Aspekt dieser politischen Arbeit. Außerdem stellt die theoretische Diskussion unter Genossen, mit den Arbeitern, usw., zu der uns die Umfrage nötigen wird, eine sehr gründliche politische Bildungsarbeit dar, und auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Umfrage ein ausgezeichnetes Mittel der politischen Arbeit. Daneben verfolgt sie noch andere politische Ziele: mir scheint nämlich, dass sie von entscheidender Bedeutung ist, um bestimmte – auch beträchtliche – Unklarheiten auszuräumen, die noch in der von den Quaderni Rossi ausgearbeiteten Theorie bestehen. Wie nämlich zahlreiche Genossen festgestellt haben, sind viele Elemente dieser theoretischen Ansätze lediglich als Antithese erarbeitet worden, entspringen also der Kritik der offiziellen Positionen oder zumindest der Kritik der Entwicklung des Denkens der Arbeiterbewegung, ohne dass die positiv begründet werden, d.h. ohne dass sie vom Klassenstandpunkt her empirisch begründet werden. Da es unmöglich ist, eine regelrechte politische Verifizierung vorzunehmen, bei der die Strenge der Untersuchung zwar auch von grundlegender Bedeutung wäre, die uns aber makroskopische Elemente und unwiderlegbares Beweismaterial an die Hand gäbe, ist eine so durchgeführte Untersuchung die in gewisser Hinsicht wichtigste Arbeit, die wir leisten können, da sie auch die Verbindung zwischen Theorie und Praxis gewährleistet, die uns heute aus objektiven Gründen verlorenzugehen scheint.

Dies ist ein Ziel, das ständig verfolgt werden müsste und das letzten Endes einen wesentlichen Aspekt unserer Arbeitsmethode darstellt.

Ein weiteres wichtiges Ziel, das wir uns setzen, besteht schließlich darin, unserer Arbeit eine europäische Dimension zu geben.

Die vergleichende Gegenüberstellung der Situation in den verschiedenen europäischen Ländern, die die Umfrage ermöglicht, müsste nicht nur uns, sondern auch den französischen und deutschen Genossen wichtige Anhaltspunkte liefern, um die Möglichkeit und die eventuellen Grundlagen einer Vereinigung der Kämpfe der Arbeiterklasse auf europäischer Ebene zu bestimmen.

(Quaderni Rossi, Nr. 5, 1965)