Das Jahrzehnt des Scheiterns

Für die politische Linke Westeuropas war die unmittelbare Nachkriegszeit eine Zeit der großen Hoffnungen und ebenso großen Enttäuschungen. In einer Reihe von Staaten beteiligten sich die kommunistischen Parteien, die sich im Befreiungskampf gegen die deutsche Wehrmacht einen guten Ruf erobert hatten, an den Regierungen. Es gab kein Land, in dem der ‚Aufbau der Produktion’ von den KP‘en nicht gegen die vorhandenen Rätebewegungen, Streiks und Aufstände ausgespielt worden wäre. In den westlichen Besatzungszonen und der jungen Bundesrepublik hatte die KPD vor ihrem Verbot das ihre dazu beigetragen, die lokalen Arbeitskämpfe in den symbolischen Generalstreik von 1948 und die spätere Etablierung einer ‚sozialen Marktwirtschaft’ zu überführen. Im Osten kam es kurze Zeit später zu Massenprotesten gegen die Enteignung der Arbeiter_innenklasse durch das Management des Sozialismus: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn. Mitte der 1950er Jahre, noch bevor der ‚real existierende Sozialismus’ dazu ansetzte, den „Westen einzuholen und zu überholen“, waren die Versuche, einen Sozialismus jenseits des Fabrikregimes zu denken, mehr als einmal gescheitert. Das jugoslawische Modell blieb eine relativ isolierte Alternative, seine restringierte Selbstverwaltung ertrank schließlich in der Konkurrenz der Betriebe und jugoslawischen Regionen um Devisen.

Gleichzeitig begann die Suche nach den Resten dieser Alternative auf einem lokalen Niveau. Der Blick zurück auf den Blauen Montag1, die Interviews mit Arbeitenden in der gigantischen und scheinbar immer weiter wachsenden fordistischen Automobilindustrie, schließlich auch eine gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die von ‚exemplarischem Lernen’ sprach, all dies beförderte die Entdeckung des Eigensinns, die Einsicht in den Umstand, dass sich inmitten der vollkommenen Herrschaft fordistischer Rationalität ein neues historisches Subjekt zu konstituieren schien. Wichtige Elemente dieser neuen Subjektivität waren die Ironie als befreiende Erkenntnis, die Negation als Flucht aus der Fabrik und die Produktivität als Suche nach Alternativen jenseits der Lohnarbeit. Es war ein Kampf, der sich in Europa über drei Jahrzehnte hinzog, ein Kampf der Maulwürfe, mit unzähligen lokalen Eruptionen, deren Höhepunkte die Arbeitskämpfe in Westeuropa der späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren. Auf allen drei Ebenen stellte das konkrete Arbeiter_innenverhalten einen Bruch mit der Normalität dar, auf die die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien Westeuropas sich hatten festlegen lassen.

Ironie, Verweigerung und Produktivität

Ihre Kader schilderten die Fabrik als Moloch, der alle denkbaren Formen des Widerstands und der Organisierung beseitige. Als Beweis zitierten sie den Verlust des Einflusses der traditionellen Gewerkschaften in den großen Fabriken, der sich bei FIAT in Turin Mitte der 1950er Jahre genauso ereignete wie in den neuen Autofabriken in der Bundesrepublik und sogar auf den Werften und in den Metallbetrieben Skandinaviens. Eine wesentliche Entdeckung der ‚militanten’ Untersuchungen der frühen 1960er Jahren war, dass die Arbeitenden sich ihre Freiräume trotzdem durch ‚untraditionelle’ Methoden eroberten, die die offizielle Arbeiterbewegung für ‚unterentwickelt‘ und längst für erledigt hielt. Nanni Balestrini hat diesen Formen ein Denkmal gesetzt, als er Anfang der 1970er Jahre die Arbeit am ‚500er Band’ bei FIAT beschrieb:

„Vor allem von den Jungen gingen viele sofort wieder, nachdem sie gesehen hatten, was für eine Scheißarbeit das war. Wer so blöd ist, kann ja hier bleiben, und dann gingen sie wieder. Dann gab es welche, die ständig krankfeierten. Na ja, und weil infolgedessen weniger Arbeiter da waren, als am Band gebraucht wurden, musste jeder von uns viel mehr Handgriffe ausführen. Sie mussten einen Haufen Personal bezahlen, das ihnen nichts nutzte, weil es praktisch nicht da war. Deshalb wurde ich auch ziemlich sauer und verletzte mich am Finger. Ich quetschte mir den Fingernagel, ohne mir groß weh zu tun. Aber ich rieb mir etwas schwarzes Schmieröl, etwas schwarzes Fett über den Finger, damit es schwarz aussah, wie geronnenes Blut.“

Resultat der Aktion war, dass der Ich-Erzähler von Wir wollen alles zwölf Tage auf Kosten der FIAT freigestellt wird. Die Erzählung lebt tatsächlich von der Pointe, dass der Kampf, der in der modernsten italienischen Fabrik begonnen hatte, nicht allein ein Kampf um die Zeit war, sondern auch ein diskreter Kampf, der mit allen Mitteln der Fälschung und Erschleichung geführt wurde. Er war eine Komödie, die die Angriffe auf die körperliche Integrität, die ein zentrales Moment des Fabriksystems war, imitierte, mit Schmieröl statt mit echtem Blut. Besser noch schien es, gar nicht erst hinzugehen:

„Wir standen auf dem Bahnsteig. Es war ein herrlicher Tag. Da hat einer gefragt: ‚Gehen wir heute zur Arbeit oder gehen wir nicht?’ Wir haben dann eine Münze geworfen, wenn Zahl, gehen wir zur Arbeit, wenn Kopf, bleiben wir zu hause. Es kam dann Zahl und wir haben gesagt: ‚Wir gehen trotzdem nicht hin’.“

Diese Szene, die sich Mitte der 1950er Jahre auf dem Weg zur Arbeit bei VW in Wolfsburg abgespielt haben soll, zeigt, dass der Protest gegen die Fließbandarbeit wesentlich außerhalb der Arbeit stattfand, in der ‚Freizeit’, jenseits der Fabrik. Die Arbeitgeber beklagten die ‚Unkameradschaftlichkeit’, die Regierung das ‚Bummelantentum’, die Gewerkschaften sahen die ‚Disziplinlosigkeiten’ der jungen Arbeitenden als ihr größtes Organisierungsproblem. Die Protagonisten der historischen Militanten Untersuchung sahen hingegen das Potenzial solcher Handlungen, die die Ineffektivität der neuen Arbeitsformen und die Bürokratie, in der sie verwaltet wurden, bloßstellten. In der FIAT-Untersuchung von 1960/61, eine der Arbeiten, die als Modell für eine Militante Untersuchung gelten, hieß es:

„Die Organisation der Produktion bei FIAT (ist) weit weniger ‚rational’ als man annehmen könnte und - als Folge davon - sind die FIAT-Arbeiter weit weniger integriert als es nach außen hin erscheint. [...] Das mythische Bild einer rational organisierten Fabrik zerfällt.“

Beim Wiederlesen fällt auf, dass die FIAT-Untersuchung nicht in erster Linie die Frage nach der Ironie oder der Verweigerung, sondern die Frage nach der Produktivität bewegt. Die Autoren der Studie schlossen unter anderem an betriebswirtschaftliche Überlegungen an, die Mayo und andere zur frühen Krise des Taylorismus in den USA der 1930er Jahre angestellt hatten und in denen Wege gesucht wurden, wie der ‚mangelnden Motivation‘ und dem ‚tendenziell‘ destruktiven Charakter der Arbeitskräfte entgegengewirkt werden könne. Hinzu kam ein nach eigener Auskunft ‚naiver Marxismus‘. Und schließlich wurde die FIAT-Untersuchung in enger Kooperation mit der CGIL - dem kommunistischen Gewerkschaftsverband – durchgeführt. Die Organisierungsfrage, die hier zuerst gestellt wurde, ging davon aus, dass die Krise der modernen Fabrik zugleich eine Krise der traditionellen Gewerkschaften hervorbringe.

In der Bundesrepublik entwickelten sich im Grunde ganz ähnliche Ansätze, im SDS, in der Bildungsarbeit der damals relativ linken IG Chemie und der IG Metall. Günther Wallraff, der eines dieser Projekte schriftstellerisch begleitete, schrieb Mitte der 1960er Jahre:

„Man hat mir von einem Arbeiter erzählt, der sich auf seine Art gegen das Band zu wehren wusste. Er soll am vorderen Bandabschnitt eingesetzt worden sein. Um eine einzige Zigarette zu rauchen, beging er Sabotage am Band. Statt einen Presslufthammer an die immer gleiche vorgesehene Stelle der Karosserie zu halten, bohrte er kurz in das Band hinein, und alles stand augenblicklich still: Tausende Mark Ausfall für das Werk, für ihn drei bis fünf Minuten Pause.“

Die frühe Militante Untersuchung betonte die Ineffektivität, ja die Unmöglichkeit einer totalen Kontrolle über die Arbeitskraft. Fragen nach der Möglichkeit der Selbstorganisation und der Selbstermächtigung schlossen sich an. Wenn man so will, dann war der Keim für die Reform des Fabrikregimes in diesen Texten bereits angelegt. Gleichzeitig trugen sie aber auch dazu bei, die Kritik an diesem Regime sichtbar und gesellschaftsfähig zu machen. Die Militante Untersuchung war sowohl Frühwarnsystem als auch Parteinahme für den Protest. Als es 1962 in Turin zu einem ersten Riot junger, migrantischer Massenarbeiter kam, entschied sich zumindest ein Teil der Forscher für die Parteinahme - und gegen die weitere Zusammenarbeit mit der CGIL.

Die ‚Militante Untersuchung’ und die ‚autonome Arbeit’

Das Verdienst des historischen Operaismus2 ist nicht, die ‚Autonomie in der Arbeit’ entdeckt zu haben. Lange vor der FIAT-Untersuchung war sie bereits von der Industriesoziologie beschrieben worden und bis heute wird sie von ihr ‚operationalisiert’. Die Pointe war nicht die ‚Militante Untersuchung’ als solche, sondern ihre Verknüpfung mit einer Theorie der Revolution, die die Subjektivität der sozialen Kämpfe, ihren Eigensinn, die Notwendigkeit der Ermächtigung und Selbstverwaltung hervorhob. Aus Sicht von Operaisten wie Panzieri, Tronti und Negri schafft die Revolte der Arbeitenden das Kapital, nicht nur im ökonomischen Sinne, wie im tendenziellen Fall der Profitrate ausgedrückt, sondern auch in der konkreten Verweigerung gegen die Zumutungen der Arbeit. Aber welchen Ort hat dieser Protest? Martin Dieckmann antwortete vor einigen Jahren mit der Feststellung, dass „die Arbeiter_innen außerhalb des Kapitals zwar als Klasse, aber als Einzelne, während sie als gesellschaftliche Klasse nur im Inneren des Kapitals, als angewandte Arbeitskraft, fungieren.“ Arbeitskämpfe sind in diesem Sinne, wenn man so will, eine ‚Rebellion der angewandten Arbeitskraft’, die strukturell und räumlich getrennt von der Arbeiter_innenklasse existiert, die im Raum des öffentlichen politischen Handelns präsent ist. Die Restrukturierung der Fabrik, die bis heute anhält, schließt die Poren des Widerstandes, die innerhalb dieser Position nicht nur denkbar waren, sondern auch praktisch wurden. Dabei spielten die Gewerkschaften eine entscheidende Rolle.

Die offenen organisierten Streiks der späten 1960er Jahre, ob in Paris, Turin, Kiruna, Dortmund oder London, waren zugleich Kämpfe, die zwischen der Position der Verweigerung und der Position der Produktivität ausgetragen wurden. Autonomie und Selbstorganisation waren Stichworte, die sowohl im Sinne der Reform des Fabrikregimes als auch im Sinne der Revolte dagegen zum Sprechen gebracht wurden. Dabei ist es kein Zufall, dass eines der wenigen großen Beispiele des Arbeitskampfes in Frankreich im Mai 1968, in dem die Frage der Selbstverwaltung die Forderung nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen auskonkurrierte, ein Kampf der hoch Qualifizierten war, die die ‚gute Arbeit’ forderten. Im Anschluss an solche Kämpfe wurden die Gewerkschaften zum Träger eines historischen Kompromisses, der Autonomie und Selbstorganisation zu funktionalen, hochwertigen Bestandteilen der kapitalistischen Produktion machen wollte, ein Arrangement, das in erstaunlicher Geschwindigkeit die alten Rationalisierungsabteilungen und REFA-Debatten ablöste, die vor allem in Nordeuropa im Konsens mit den Unternehmern auf dem Höhepunkt der ‚Goldenen Zeiten’ eingerichtet worden waren. Dass die Gewerkschaften in Westeuropa um 1975 eine Stärke erreichten, die historisch nur mit der in der revolutionären Situation nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg verglichen werden kann, war untrennbar mit der Adaption der Forderungen aus den Arbeitskämpfen verbunden.

Ein wichtiges Moment war die Instrumentalisierung und Operationalisierung der Subjektivität, die in den westeuropäischen Ländern vermittels von Programmen wie der ‚Humanisierung der Arbeit’, den ‚neuen Unternehmenskulturen’ der 1980er Jahre, der Umstellung der Automobilproduktion von der Linearität der Bandarbeit auf selbst steuernde Gruppen, schließlich in Formen wie der ‚indirekten Steuerung’ betrieben wurde. Dass die Kritik der politischen Ökonomie mit dem Operaismus ein Subjekt bekam, dass das historische Verhältnis zwischen einer unproduktiv gewordenen Arbeiterbewegung und der politischen Organisierung auf den Kopf gestellt wurde, schreibt sich in diese Geschichte ein: Die Antwort war, die Lohnarbeit selbst zu entgrenzen, auch die informellen und kommunikativen Anteile des Arbeitsprozesses sichtbar und verwertbar zu machen. Die Renaissance des Operaismus, die in der radikalen Linken seit einigen Jahren vorhält, ist vor allem vor diesem Hintergrund bedeutend.

Die Militanten Untersuchungen der Zukunft

Heute ist es kaum noch denkbar, den Zyklus von Ironie, Verweigerung und Produktivmachung zu erneuern, ohne den Konflikt zu betonen, der ihm innewohnt. Vor dieses Problem ist die radikale Linke gestellt insofern sie, wie Dieckmann schrieb, seit einiger Zeit „eine Entdeckungsreise in den neuen Kontinent“ der Lohnarbeit unternimmt. Die Produktivmachung von Kommunikation und Körpern, die Entgrenzung der Arbeitszeit, die Prekarisierung der sozialen Absicherung, all dies stellt ganz unmittelbar die Frage nach Handlungs- und Widerstandsmöglichkeiten. Was wäre an einer ‚Autonomie in der Arbeit’ unter den aktuellen Bedingungen erstrebenswert? Wie werden unter diesen Bedingungen soziale Rechte und Grenzen der Ausbeutung definiert? Heute kann ‚Militante Untersuchung’ sich nicht mehr auf die Entdeckung des lokalen Eigensinns beschränken, darauf warten, dass der rebellische Maulwurf irgendwann die gesellschaftliche Oberfläche erreicht. Viel stärker als im historischen Operaismus müssen heute die bereits in aller Offenheit stattfindenden Konflikte in ihrem Zusammenhang begriffen werden. Dabei können die Ansatzpunkte, die die feministische Kritik am Operaismus der frühen 1970er Jahre fokussiert hat, wieder ins Gespräch gebracht werden: die Kritik an der Produktion und Reproduktion öffentlicher Güter, der Kampf um urbane Räume, die bedeutende Rolle migrantischer Kämpfe. Es gilt, die Scharniere sichtbar zu machen, die zwischen den ‚diskreten’ und den öffentlichen Räumen existieren, in denen sich die Selbstorganisation der Lohnarbeit heute abspielt.

Bei einer militanten Untersuchung wird die Arbeitsteilung zwischen Untersuchenden und Untersuchten nicht nur umgedreht, sondern in der Tendenz aufgehoben. Selbstverständlich hat auch die distanzierte Beobachtung der ‚umkämpften Arbeit’ eine große Bedeutung. Arbeiten über die Kämpfe im Dienstleistungssektor, Untersuchungen über Streiks bei Gate Gourmet oder Opel, über urbane soziale Kämpfe, Freiräume, öffentliche Güter, die Geschichte der Selbstverwaltung und der Alternativbewegung, die Kämpfe der Migration, die Neuzusammensetzung der Klasse in China, Indien oder Südafrika sind vielleicht bedeutender als wir selbst meist denken. Mein Eindruck ist, dass derartige Untersuchungen - ob sie nun innerhalb, am Rande oder außerhalb des Wissenschaftsbetriebes angesiedelt sind - in den vergangenen Jahren an Umfang und Qualität gewonnen haben.

Eine offene Frage bleibt jedoch, wie diese zersplitterte Sammlung von Texten und Themen zu einer umfassenden, kollektiven Arbeit werden können, die mehr beschreiben als nur Episoden des Klassenkampfes. Eine Debatte über den roten Faden all dieser Untersuchungen, eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhältnis zum so genannten Gegenstand, eine Erörterung der systemfeindlichen Potentiale der Kämpfe, der eigenen Ressourcen und der möglichen Alternativen wären ein Fortschritt. Die vorliegende Ausgabe der arranca! kann vielleicht einen kleinen Beitrag dazu leisten.