In Argentinien benutzen Fußballspieler die Redensart poner el cuerpo (den Körper einsetzen), um einen intensiven Einsatz im Spiel zu bezeichnen. Die Wendung bezieht sich auf diejenigen, die sich nicht auf präzise Pässe oder geschicktes Dribbling verlassen, sondern ihren Mut und kämpferischen Geist dazu nutzen, gefährliche Gegner aufzuhalten oder durch die Verteidigungslinien zu brechen. Colectivo Situaciones, ein Kollektiv aus Buenos Aires, benutzt diese Redensart, um auf die Phänomenologie militanter Untersuchungen zu verweisen: eine Form des Denkens und des politischen Handelns, von und für das konkrete Leben, das den Körper dort einsetzt, wo Handlungsmacht (potencia) darum kämpft, Gegenmacht zu werden. Die Schule, durch die Colectivo Situaciones gegangen ist, war ein vielschichtiger und intensiver Prozess. Er basierte auf einer andauernden, kollektiven Reflexion des Erbes radikaler Kämpfe in Argentinien und Lateinamerika. Die wichtigste Quelle der Inspiration waren dabei die Ausdrucksformen der neuen eigenständigen und handlungsmächtigen Basis.

Hauptdarsteller im eigenen Leben

Colectivo Situaciones schlägt die Figur des ‚militanten Forschers‘ vor, um zu definieren, wie eine kritisch-solidarische Anknüpfung an historische Revolutionen und Kämpfe heute gedacht werden kann: als Engagement für die Überzeugung, dass die Geschichte von Menschen gemacht wird. Der militante Forscher macht sich dieses Konzept zu Eigen und stellt gleichzeitig klar, dass Geschichte nicht unmittelbar durch eine abstrakte ‚Menschheit‘ in all ihren Ausprägungen (die Massen, die Arbeiter, die Multitude) gemacht wird. Das Konzept nimmt vielmehr an, dass jedeR in der Situation, in der er oder sie lebt, verantwortlich ist. Unsere Zukunft, unsere Subjektivität und unsere Existenz werden durch konkrete Lebenslagen definiert, durch (Mit-)Leidenschaft und Wünsche für uns und andere.

Wenn Handlungsmacht das ist, was zwischen unserem Wunsch, etwas zu tun, und der eigentlichen Handlung liegt, kann Widerstand heute nicht mehr als das Formulieren der richtigen Theorie, des richtigen Aktionsplans, begriffen werden. Das Problem ist weder ein Mangel an aufrichtiger Überzeugung, dass die Welt verändert werden muss, noch geht es darum, die richtige Antwort auf die Frage „Was kann getan werden?“ zu haben. Militante Forscher versuchen, mit praktischen Taten zu antworten. Nicht durch das Einnehmen einer anti-intellektuellen Position, wie sie im Aktivismus manchmal in Form von Praxis statt Theorie vorhanden ist, sondern in Form einer Militanz, die Praxis und Theorie eng miteinander verbindet.

Politische Grenzen von akademischer Forschung und traditioneller Militanz

Der Ausdruck ‚Militante Untersuchung‘ und die entsprechende Praxis kamen in einer Situation auf, als diejenigen, denen die Gesellschaft die Rolle als Denker und Kreative zuschreibt, nicht mehr an der Emanzipation interessiert waren, während diejenigen, die immer noch praktische Politik im Sinne einer Emanzipation vom Kapitalismus machten, nicht mehr zu denken schienen. Erstere saßen in ihrer Existenz als hochprofessionelle, instrumentalisierte und bürokratisierte Gelehrte fest - Produkte und Produzenten von Institutionen, die sich zusehends von denjenigen abwandten, die sich in praktischen Kämpfen engagierten. Letztere predigten immer noch die gleichen Revolutionsmodelle und merkten dabei nicht, dass sie sich immer weiter von den stattfindenden Kämpfen isolierten.

Colectivo Situaciones zufolge trennen die institutionellen Mechanismen akademischer Forschung ForscherInnen vom Sinn ihrer Tätigkeit. Akademische Forschung bestätigt sich darüber, dass sie eine Situation von außen untersucht. Sie bedarf der Konstruktion eines von der untersuchten Situation und Handlung unabhängigen Standpunktes. Akademische ForscherInnen bauen um sich herum eine Maschine, die Wissen über Aktionen und AkteurInnen produziert. Dieser Mechanismus verarbeitet die Fragen, die das Studienobjekt aufwirft, indem er die in der Forschungssituation vorhandenen Ressourcen anwendet, um „dem Objekt Werte, Interessen, Zugehörigkeiten, Ursachen, Intentionen und unbewusste Motive beizumessen“ (Colectivo Situaciones). Es besteht für die ForscherInnen keine Notwendigkeit, sich selbst zu untersuchen.

Umgekehrt begreifen sich traditionelle AktivistInnen manchmal als Menschen mit höheren moralischen Werten. Das macht ihre Herangehensweise jedoch keineswegs weniger objektivierend als die der akademischen Forschung. Ihre Position ist immer schon von bestimmten Strategien strukturiert, die das Wissen von dem Ort ausschließen, von dem aus sie die ‚Subjekte‘ beurteilen. Weil die Beziehungen zu Gruppen, mit denen sie zusammenarbeiten, immer ‚taktisch‘ sind, gibt es niemals die Erfahrung einer Beziehung, in der beide Seiten sich öffnen, um nach und nach ihre Ähnlichkeiten zu entdecken.

Die Erforschung der Handlungsmacht

Eine Militante Untersuchung ist laut Colectivo Situaciones eine Forschung ohne Objekt. Es ist eine Praxis, die mehr darauf fokussiert, Fragen zu stellen als Antworten zu produzieren. Die Forschung konzentriert sich auf Elemente der neuen Gesellschaftlichkeit, die innerhalb der Bewegungen entsteht. Sie betrachtet die Phänomenologie der Mikromächte und molekularen Beziehungen, die sowohl die Forscher als auch die Bewegungen, in denen sie arbeiten, produzieren. Militante Forschung hat keine strategischen Zwecke oder Ziele, kein erwartetes Ergebnis jenseits des ‚hier und jetzt‘. Sie ist keine Forschung, die durch engagierte Individuen ausgeführt wird, sondern eine Haltung, in der Engagement und Forschung ununterscheidbar werden.

Das Verschwimmen der Grenzen spricht für den immanenten und qualitativen Charakter der Beziehung. Für den militanten Forscher ist Immanenz nicht damit vergleichbar, ‚Insider‘ der Gruppe zu werden, mit der er oder sie Forschung betreibt. Immanenz entfernt den militanten Forscher von der ‚Insider/Outsider‘-Frage, da sie die Mechanismen in Frage stellt, die Subjektivität, in Bezug auf schon kodierte Repräsentationen von innen und außen, produzieren. Immanenz braucht die ständige Konstruktion der Beziehung. Die Operation, die durch die Militanten Untersuchungen begonnen wurde, braucht eine ständige Bemühung aller Seiten, neue Werte und Bedeutungen zu produzieren, weil ihre Praxis mit den Werten und Bedeutungen, welche die subjektive Basis des Kapitalismus konstituieren, konkurriert. Diese Operation schließt die Schaffung eines bestimmten zeit-räumlichen Kontinuums ein, dessen Bedeutungshorizont autonom von Zeit und Raum des Staates und des Marktes ist. Von diesem zeit-räumlichen Kontinuum, das Militante ForscherInnen produzieren und bewohnen, lassen sich Verbindungslinien zu anderen Kämpfen und Untersuchungen ziehen, die ebenfalls auf eine neue Gesellschaftlichkeit und alternative Bilder des ‚guten Lebens‘ abzielen.

Kampf um den kreativen Geist

Aufgabe der Militanten Untersuchung ist es, Bewegungen in der Re-Interpretation ihrer Errungenschaften zu begleiten. Das ist keine mentale Übung, sondern eine Form, der täglichen Existenz anders zu begegnen, fähig zu sein, rigide interpretative Formeln herunterzubrechen und neue Sensibilitäten zu erwecken. In Kontinuität dessen, was über Jahre der intensiven Kommunikation und Assoziation mit der Basis an Handlungsmacht und Wissen erworben wurde, konzentriert sich Colectivo Situaciones heute darauf, mit seinen militanten Untersuchungen einen Zugang zum Wissen um jene Kämpfe aufzubauen, die geeignet sind, den kreativen Geist wieder herzustellen, der durch die Kämpfe in den Monaten vor und nach dem Aufstand im Dezember 2001 entfacht wurde.