Die sich abwechselnden Regierungen von Ecevit (sozialistisch) und Demirel (VP) in Koalition mit den Grauen Wölfen (und dessen Vorsitzender Alparsan Türkes) und Erbakan (religiöse Fundamentalisten) bringen das Land in eine immer verheerendere wirtschaftliche Krise. Innerhalb der Bevölkerung entsteht eine Polarisierung in rechts und links. In den 70er Jahren erreicht der faschistische Terror gegenüber der Linken und der breiten Schicht von SymphatisantInnen seinen Höhepunkt; Kriegsrecht, Ausgangssperren, Menschenjagden sind an der Tagesordnung. Yasar K. verläßt die Türkei noch vor dem Militärputsch am 12. 9.1980 und kehrt 1992, 12 Jahre nachdem er die Türkei verlassen mußte, das erste Mal wieder in seine Heimat zurück. Dieses Interview ist durch einen persönlichen Kontakt entstanden, Yasar K. spricht in erster Linie für sich. Mit diesem Interview vertreten wir nicht den Anspruch, objektiv und vollständig wiederzugeben, wie die Situation in der Türkei konkret war und wie sie sich heute darstellt; vielmehr ist dies ein Versuch, die gemachten Erfahrungen und deren Verarbeitung anschaubar zu machen.
arranca!: ¿ Die 70er Jahre in der Türkei waren geprägt von Klassenkämpfen; eine für unsere Verhältnisse nur schwer vorstellbare Anzahl von Menschen hat sich an Aktionen der Linken beteiligt. Du warst damals zwischen 16 bis 20 Jahren alt und in der Linken aktiv. Wie hast du diese Zeit erlebt?
Yasar: Die Zeit von 1974 bis 1980 war nicht so sehr eine Zeit des Klassenkampfes, sondern vielmehr des Kampfes gegen die faschistische Bewegung, die Verteidigung gegen Angriffe der Faschisten.
Die damaligen Massenproteste richteten sich nicht in erster Linie gegen die Bourgeoisie, sondern gegen türkische Faschisten wie die MHP(nationalistische Bewegungspartei), die Grauen Wölfe und die Konterguerilla, die zu der Zeit aktiv gegen die Linke vorgegangen sind.
Ideen des Klassenkampfes oder des Antiimperialismus’ existierten zwar in den Köpfen und Zeitungen der Linken, sind jedoch nie realisiert worden.
Wir waren aktive Antifaschistinnen und haben von ’74 bis ’80 nicht gemerkt, daß die türkische Bourgeoisie die Faschisten vorgeschickt hat um sich vor der linken Bewegung zu schützen; die Rechnung ging auf, denn die Linke steckte ihre gesamte Kraft in die Verteidigung gegen die Faschisten und schaffte es darüberhinaus nicht, der Bewegung Inhalte zu geben obwohl ein sehr großes Potential vorhanden war. Zum 1. Mai 1977 waren in Istanbul 500.000 bis 1 Million Menschen auf der Straße. Bei dieser Demonstration kam es zu einem Massaker; 33 Menschen wurden ermordet.
Der Einfluß der Linken in der Bevölkerung war sehr groß, durch den Mut, den viele Linke besaßen, gab es viele SympathisantInnen. Wir waren in vielen Bereichen aktiv vertreten, in Grundschulen, Gymnasien und Universitäten, und haben dort eine Bewegung aufgebaut.
Dieser Einfluß ging z.T.so weit, daß es eigene linke Städte und Stadtteile gab; aber auf der anderen Seite bildeten sich auch rechte Stadtteile heraus.
In dieser Zeit entwickelte sich ebenfalls die Kurdenbewegung.
Ihre Probleme und darausfolgend ihr Ziel waren jedoch andere. Ehr Kampf richtete sich nicht gegen türkische Faschisten, sondern gegen den türkischen Staat.
¿ Welche Position nahm die türkische Linke bezüglich der Kurden ein?
Yasar: Wir haben darüber diskutiert, ob sie einen eigenen Staat gründen sollten, ob Türken und Kurden zusammen in einem Staat leben können und ob Kurdistan Teil der Türkei ist. Bezüglich dieser Frage z.B. merken wir heute, daß wir damals Kemalisten1 waren. Denn wir haben selbst als Linke die Grenzen, wie sie nach dem ersten Weltkrieg gezogen wurden, anerkannt und nahmen damit eine sehr nationalistische Position ein. Wir waren anfangs weder Marxisten noch Leninisten, sondern haben – und zwar nicht nur was die Kurdenfrage anbelangt – Positionen von Kemal Atatürk vertreten und unsere Ideen von dort ausgehend entwickelt.
Den Widerspruch, daß der türkische Staat bzw. die türkische Bourgeoisie sich zwar einerseits vom Imperialismus, also von den Briten, den Franzosen befreite, andererseits jedoch damals 10 – 15 Millionen Kurden gefangennahm und bis heute in seinen Grenzen behält, haben wir nicht gesehen.
Es gab nur sehr wenige Gruppierungen, die sich tatsächlich ernsthafter mit der Situation der KurdInnen auseinandergesetzt haben.
Auch gegenüber der Islamischen Bewegung haben wir unsere Augen verschlossen, und sie – wieder sehr kemalistisch – unterschätzt und ignoriert.
¿ Du glaubst also, es war ein Fehler, sich nur auf den antifaschistischen Kampf beschränkt und dabei die Entwicklung von eigenen Perspektiven vernachlässigt zu haben?
Yasar: Der antifaschistische Kampf als solcher war natürlich kein Fehler, bleibt es jedoch das Einzige, womit sich eine Linke beschäftigt, dann ist es ein Fehler. Wenn wir es geschafft hätten, die antifaschistische Bewegung zu einer antiimperialistischen, antikapitalistischen Bewegung weiterzuentwickeln, dann hätten wir die Ideen, die in unseren Köpfen waren mit der Menge von Menschen umsetzen können und die Linke in der Türkei wäre heute nicht in dieser Situation.
Unser größter Fehler aber war es, den Kemalismus nicht hinterfragt zu haben, weder als Element unserer eigenen Politik, noch in seiner gesellschaftlichen Bedeutung.
¿ Im August 1980, also noch vor dem Putsch am 12. September 1980, entschließt du dich, die Türkei zu verlassen, du flüchtest mit anderen Genossen vorerst in den Libanon...
Yasar: Es wurden in der Türkei täglich an die 30 Menschen umgebracht.
Wir haben mit anderen Genossen gesehen, daß es so nicht weitergehen kann und beschlossen, bestimmte Leute ins Ausland zu bringen, damit sie sich dort auszubilden und weiterdiskutieren, um danach wieder zurückzukehren.
Wir sind dann über Syrien in den Libanon geflüchtet.
Dort haben wir begonnen zu diskutieren. Der Blick von außerhalb hat es uns ermöglicht, ein besseres Bild von dem zu bekommen, was sich in der Türkei abspielte.
Wir erkannten, daß die Zeit bis zu unserer Flucht zur Vorbereitung der Junta gedient hatte. Die Bourgeoisie schuf eine Situation, die letztendlich die Machtübernahme der Junta am 12. September 1980 rechtfertigen sollte.
Auch hatten wir zum ersten Mal die Möglichkeit, Fehler, die wir gemacht haben, zu benennen: Wir haben zwar kleine Faschisten und deren Sympathisanten abgeschossen, aber nicht die, die an der Spitze diese Bewegung steuerten, ‚obgleich wir sehr wohl die Möglichkeiten dazu gehabt hätten.
Nach der Machtübernahme der Junta sind viele Menschen in den Libanon geflüchtet und schilderten uns die Situation; die Repression war nach dem 12.September nochmal härter, es wurden Menschen auf offener Straße gejagt, verhaftet und umgebracht, linke Zusammenhänge wurden dadurch völlig zerschlagen. Unser Vorhaben in die Türkei zurückzugehen und dort zu intervenieren war unmöglich geworden. Durch die ständigen Niederlagen und Verluste war der Mut bei vielen Menschen nicht mehr vorhanden.
Nach einem Jahr scheiterte die Diskussion zwischen den verschiedenen Organisationen im Ausland darüber, was wie zu machen sei.
Wir alle wissen, daß die PKK ab 1984 die einzigen waren, die in Kurdistan alleine Aktionen gegen die türkische Armee unternahmen, denn die türkische Linke gab es in der Türkei so nicht mehr.
¿. Aus welchen Gründen ist die Diskussion und damit ein Versuch, die Junta zu bekämpfen, gescheitert?
Yasar: Heute können wir feststellen, daß vieles, was die Gruppierungen im Ausland versprochen hatten zu tun, nicht wirklich umgesetzt wurde, also nichts als große Worte waren.
Eigentlich war geplant, daß 1983 Leute in die Türkei hätten zurückkehren sollen; sattdessen drehte sich die Diskussion immer noch darum, ob mit den Kurden zusammengearbeitet werden sollte oder nicht. Aber ich glaube, das war nicht nur durch die türkische Linke bedingt, sondern auch durch die Konterguerilla.
Ende 1983 entschied sich dann ein wichtiger Vertreter von Dev Yol, nach Europa zu gehen und von dort aus weiterzumachen. Dev Yol (Revolutionärer Weg) war anfangs eine Jugendorganisation, später die größte Organisation der unabhängigen revolutionären Linken, und ihr Rückzug hatte verheerende Auswirkungen für den gesamten Diskussionszusammenhang. Es kam zu Streitereien zwischen den verschiedenen Gruppierungen, und viele haben aus diesen Erfahrungen dann ihre Konsequenzen gezogen und das Projekt, in die Türkei zurückzukehren, auf Eis gelegt.
¿ Im März 1982 gehst du nach Deutschland; was habt ihr für Erwartungen oder Hoffnungen damit verbunden?
Yasar: Zuerst einmal muß man bedenken, daß wir selbst die zwei Jahre im Libanon in permanentem Kriegszustand gelebt haben, mit dem Unterschied allerdings, daß wir passiv dasaßen und nichts machen konnten; das zehrte an den Nerven. Hinzu kam die Art der Kriegsführung. Du hast den Feind nicht gesehen; entweder die Menschen wurden von Hubschraubern aus abgeschossen, von Flugzeugen Bomben abgeworfen oder es wurde von offener See aus angegriffen. Du mußtest zusehen, wie Kinder umgebracht werden.
Wir haben mitbekommen, daß es in Deutschland eine Bewegung gegen die Junta in der Türkei gibt, wir hörten von Demonstrationen und hatten die Hoffnung, von Deutschland aus mehr machen zu können, zumal wir im Libanon einfach schon zu lange Gast waren. Die Leute dort haben uns dann geholfen, nach Deutschland zu kommen.
Wir hatten sehr positive Vorstellungen von der deutschen Linken, von der Friedensbewegung, von den Gewerkschaften, linken Parteien; das alles war für unsere Verhältnisse sehr fortschrittlich. Auch von der Sozialdemokratie hörten wir, daß sie sich gegen die Junta aussprachen, und glaubten, daß, wenn wir es schafften, alle diese Bewegungen zusammenzubringen, es für die Junta nicht mehr länger möglich gewesen wäre, an der Macht zu bleiben.
¿ Wie sah dann die Realität in Berlin aus? Ihr habt zuerst Kontakt zu türkischen Linken aufgenommen...,
Yasar: Ja, um unsere bisherigen Diskussionen mit den eigenen Leuten hier weiterzuführen, suchten wir zuerst diesen Kontakt. Mit den Kräften, die es hier gab, haben wir dann versucht, gemeinsame Sachen zu organisieren, doch das war problematisch: Die Gruppierungen hier haben generell getrennt voneinander agiert. Im Laufe der Zeit sind dann auch Gruppen wie Dev Yol hier auseinandergebrochen.
Waren wir anfangs noch davon ausgegangen, daß es hier eine gemeinsame linke Bewegung gegen die Geschehnisse in der Türkei gab, stellte sich bald heraus, daß nur wenige türkische Linke Aktionen organisierten, an denen sich andere Gruppierungen dann allenfalls beteiligten.
Und auch bei der deutschen „Linken“ wurde bald offensichtlich, daß sie nicht das waren, was wir uns in der Türkei vorgestellt hatten. Es gab z.B. Kontakte zu den Grünen und Gewerkschaften, die die türkische Linke unterstützt haben. Diese bewegten sich jedoch nur in einem gemäßigten, demokratischen Rahmen, sobald es um militantere Positionen ging, wurden, versagten sie uns ihre Unterstützung, und wir standen alleine da.
Diese Ansätze von politischer Arbeit boten keine großen Perspektiven. Ein weiterer Versuch einiger türkischer Linken, mit der militanten Linken der Häuserbewegung ins Gespräch zu kommen, schlug fehl, denn zum einen waren die kulturellen Unterschiede sehr groß und zum anderen existierte keine Bereitschaft, sich gegenseitig in seiner Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Die türkischen Linken fanden die Art der Hausbesetzerinnen zu leben, sich anzuziehen usw. abstoßend.
1983 habe ich mich vom Großteil dieser türkischen Linken zurückgezogen und versucht, mit einigen von ihnen ein Forum zu schaffen, um mit der deutschen linksradikalen Szene Kontakt zu bekommen. Allerdings habe ich mir den Anfang lange nicht so schwer vorgestellt! Wir bekamen einen gemeinsamen Laden zur Verfügung gestellt bekommen, um uns überhaupt erst einmal kennenzulernen; doch sie hatten ihre Vorurteile, und ich meine, sie haben mich nicht verstanden und ich sie nicht. So scheiterte Ende 1983 auch dieser Versuch.
¿ Woran glaubst du, hat es gelegen, daß eine gegenseitige Akzeptanz nicht vorhanden war?
Yasar: Die deutsche Hausbesetzerinnen- Linke hat sich damals nicht mit Fragen, die Gastarbeiterinnen – wie sie früher hießen, heute nenne ich sie Immigrantinnen – betreffen, beschäftigt. Sie haben keine Politik mit oder für Immigrantinnen gemacht. Für sie war der Kontakt mit Ausländerinnen etwas Neues und die Idee, daß Immigrantinnen und Deutsche zusammen gemeinsame Interessen durchsetzen —was unser Ansatz ab 1983 war— gab es so erst einmal nicht, auf diesen Schritt waren sie auch nicht vorbereitet.
Wir wiederum haben uns .zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie und an welcher Stelle eine Zusammenarbeit mit deutschen Linken möglich sein konnte. Dazu kommt, daß du, wenn du aus einem Land, wie der Türkei nach Deutschland kommst, sozusagen einen Kulturschock erlebst, den du erst einmal verarbeiten mußt. Kulturschock sage ich deshalb, weil die türkische Kultur im Vergleich zur Deutschen sehr viel moralischer ist. Daraus folgen zwei völlig verschiedene Lebenseinstellungen. Am deutlichsten wurde das für mich in Bezug auf die Mann-Frau-Beziehung: Sexuelle Befreiung, offene Beziehungen, hat es in der Form in der Türkei natürlich nie gegeben. Die türkische Moral baut auf völlig veralteten Normen auf, Schwule und Lesben z.B. waren für mich Kranke, bis ich sie kennenlernte und merkte, daß sie völlig normale Menschen waren; ich war es überhaupt nicht gewöhnt, mich so frei, wie Deutsche es tun, zu bewegen, frei zu denken und einen eigenen Willen zu entwickeln. Innerhalb der deutschen Gesellschaft mußt du dich vor niemandem rechtfertigen, du kannst also so ziemlich alles machen, was dir gefällt.
Das mag ulkig klingen, aber ich habe alleine drei Monate gebraucht, bis ich alleine U-Bahn fahren konnte...
¿ In den folgenden Jahren bemüht ihr euch, ein anderes Spektrum von Menschen zu erreichen...
Yasar: Ja, wir haben angefangen, uns mit den Jugendlichen, die auf der Straße waren und mit der türkischen Linken erst einmal nichts zu tun hatten, auseinanderzusetzen, zusammen mit einigen deutschen Linken.
Viele Jugendliche waren alleine, wollten aber sinnvolle Sachen machen, so daß sie in Kontakt mit uns kamen. Diese daraus entstandene antifaschistische Gruppe hat sich zusammen mit Deutschen gegen deutsche Faschisten zur Wehr gesetzt. Die Gruppe hat aber nur sechs, sieben Monate existiert, denn einige haben sich herausgezogen, da ihnen die Aktionen zu militant waren. Ich denke, es ist nur schwer möglich, eine militante und eine nicht-militante Ebene in einer Gruppe zu vereinen, und wir haben sicher auch Fehler gemacht, was das anbelangt. Doch ist es nicht so, daß diese Leute nicht mehr politisch interessiert oder aktiv sind, sie machen weiterhin ihre Art von politischer Arbeit und das ist wichtig.
¿ Kommen wir zurück zur Türkei. Im Sommer 1992 bist du das erste Mal seit 12 Jahren wieder hingefahren. Das war begleitet von einer Reihe von Ängsten, z.B., verhaftet zu werden...
Aber auch mit dem Gefühl – so stelle ich es mir vor – nicht zu wissen, was auf einen zukommt, was sich verändert hat und nicht mehr so ist, wie es in der Vergangenheit und in deinen Vorstellungen einmal war. Wie hast du diese Reise für dich erlebt?
Yasar: Natürlich habe ich auch von anderen mitgekriegt, wie die Situation in der Türkei heute ist, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man dann selber dorthin zurückgeht, denn vieles wollte man vielleicht nicht wahrhaben.
Ich habe meine Genossinnen und meine Familie vermisst, die ich seitdem nicht mehr gesehen habe – zumal ich die Türkei eigentlich in dem Glauben verlassen habe, bald zurückzukehren und nicht nach Europa emigrieren zu müssen.
Ich habe die Stadt, in der ich groß geworden bin, vermisst und das Leben dort; die politische Atmosphäre und das Gefühl, total aktiv zu sein und viel zu machen, was das Leben trotz allem sehr schön gemacht hat. Dieses Gefühl verstärkt sich – habe ich gemerkt – nochmals dadurch, daß mir durch die große Distanz, die ich zur Türkei hatte, eigentlich marginale Dinge ins Bewußtsein rückten und ungeheuer wichtig wurden, z.B. solche Kleinigkeiten wie das Teetrinken und Teilen mit Genossinnen, und das prägt die Erinnerung sehr. An all das denkst du, wenn du zurückherst, doch die Realität holt dich schnell ein.
Ich habe diese Reise 2 Jahre vorbereitet und es existierten in der Tat die Ängste, verhaftet,. gefoltert oder ermordet zu werden, und dies hat mich sicherlich auch davon abgehalten, früher in die Türkei zu fahren. Auf der anderen Seite wurde die Notwendigkeit, doch hinzufahren auch immer größer.
¿ Wie hast du die Genossinnen, die du in der Türkei zurückgelassen hast, vorgefunden?
Yasar: Ich hatte geglaubt, sie seien noch wie früher, hatte geglaubt, sie hätten sich nicht verändert. Aber die Realität sieht so aus, daß sie den Ideen, die wir damals im Kopf hatten, den Rücken gekehrt haben. Viele ihrer Äußerungen sind rassistisch. Sie sind sehr resigniert.
Zum Beispiel habe ich mit einem Genossen, mit dem ich damals viel zu tun hatte, und der in seinem Bereich wichtige Funktionen innehatte, in einem Cafe gesessen, und es tanzten dort ein paar Jugendliche. Daraufhin sagte er: „Die erleben ihre Jugend; wir haben unsere nicht erlebt.“ Aber ich bin der Meinung, wir haben sehr wohl eine Jugend erlebt und bestimmt eine sehr viel sinnvollere, als diese herum– wackelnden Jugendlichen, die sich um gesellschaftliche Probleme schätzungsweise noch keinen Kopf gemacht haben.
Wir waren uns unserer Sache bewußt, wir sind mit einem Lächeln zu den Demos oder Aktionen gegangen, und es war keiner der Meinung, wir verlieren unsere Jugend, und das, was wir machen sei Scheiße. Auch er hat nicht gesagt, alles war Scheiße, aber er glaubte, er habe seine Jugend verschwendet.
Ein anderer, dem ich damals sehr vertraut habe, ist sehr unsolidarisch geworden, er denkt nur noch an sich; um Leute, die aus dem Knast gekommen sind, wurde sich nicht gekümmert.
Viele sind in völliges Prestigedenken verfallen, wollen konsumieren, obgleich sie es sich gar nicht leisten können...
¿ Geht diese Resignation denn so weit, daß sich die Menschen als Linke negieren?
Yasar: Nein, viele sagen immer noch von sich, sie seien Linke, aber ihr Verhalten und ihre Äußerungen sind es oft nicht mehr. Über politische Themen
wird nicht mehr diskutiert, die Leute stehen morgens auf, gehen ins Cafe, spielen Tavla und gehen abends wieder nach Hause; sie haben sich in einem einigermaßen sicheren Leben eingerichtet.
Und wenn du mit ihnen über neue Möglichkeiten, wieder etwas aufzubauen redest, sagen sie dir, du kommst jetzt- mit neuen Ideen, wir kämpfen zehn Jahre und zehn Jahre später haben wir den Kampf wieder verloren.
Viele haben keine Hoffnung mehr, daß die Linke irgendwelche Änderungen in der Gesellschaft erringen kann
¿ Was für ein Gefühl ist das für dich persönlich; sie haben die Jahre nach dem Putsch erlebt, du nicht, und sie haben sich derart verändert…
Yasar: Die ersten drei Jahre der Junta waren sicher hart, sie haben Ängste durchgestanden, viele Genossinnen sind verhaftet worden, wieder freigekommen, wieder verhaftet
In dieser schwierigen Zeit haben sie nicht an die Zukunft gedacht, sondern die gegenwärtige Zeit gelebt, und das kann schnell zur Gewohnheit werden. Aber mit der Zeit haben viele nur noch gejammert, nicht daß man sie alleine gelassen hat, aber sie haben die Hoffnung in die Organisationen verloren, und vor allem ihren eigenen Glauben. Sie führten seitdem keine politischen Diskussionen mehr geführt. Heute lesen sie irgendwelche türkische Zeitungen, und über das, was irgendein Staatsmann erzählt, wird geredet, nur in einer linken Sprache; eigene Ideen oder Ansätze haben sie nicht mehr.
Über die Kurdenbewegung z.B. ist die Meinung total negativ. Sie gehen sogar so weit, daß sie die Kurdenbewegung dafür verantwortlich machen, daß sich der türkische Staat so lange halten konnte, und die Unterdrückung der linken Szene wegen der Kurdenbewegung anhält.
Ich erinnere mich sehr gut, daß wir da früher schon einmal etwas weiter waren...
Durch 12 Jahre Manipulation durch die Medien haben viele ihre linke Identität verloren.
¿ Aus was für Leuten setzt sich dann die heutige Linke in der Türkei zusammen
Yasar: Es sind Leute, die entweder im Knast oder im Ausland waren und zurückgekehrt sind.
Aber ich habe auch Jugendliche getroffen, die wirklich gut drauf waren.
Sie handeln noch nicht unbedingt bewußt, sondern eher aus dem Gefühl heraus, daß ihnen die Situation, so wie sie ist, nicht paßt.
Sie stellen sich gegen diesen gesellschaftlichen Rassismus gegen Aleviten2, Zigeuner, Kurden und versuchen, mit diesen Gruppen zusammen etwas zu machen, in der Idee ähnlich wie Jugendbanden eine Bewegung gegen faschistische Jugendbanden aufzubauen.
Sie haben mit der Linken keinen Kontakt, aber das liegt nicht unbedingt an ihnen. Im Gegenteil, sie sind sehr interessiert und du merkst, daß sie zwar Respekt haben vor dem, was die Linke damals gemacht hat, aber sehr genau wissen, daß sie das so nicht erleben wollen.
Auf der anderen Seite kümmert sich die Linke nicht darum, Kontakt zu den Jugendlichen zu bekommen; sie unternehmen nichts, ihre Anziehungskraft zu erhöhen. Z.B. was die Sprache der Linken betrifft: Diskussionen, Geschriebenes ist nur verständlich, wenn du schon länger in linken Diskussionen steckst, der Rest wird ausgegrenzt.
Allgemein ist die Öffentlichkeitsarbeit der Linken falsch.
¿ Inwiefern ist sie falsch?
Yasar: Es gibt in der Türkei bewaffnete Gruppen, die Attentate etc. verüben. Aus deren Umfeld existieren ein paar legale Gruppen, doch ihre einzige Arbeit besteht darin, die Aktionen der bewaffneten Gruppen hochzujubeln, egal, ob sie sinnvoll waren oder nicht, ohne daß diese Aktionen irgendwie begründet und somit verständlich für die Bevölkerung werden und Sympathien bringen würden.
Der legale Bereich beschränkt sich also nur auf die Legitimierung der illegalen Aktionen.
Das hat zur Folge, daß die Leute, die politisch eher links sind, Angst haben, irgendetwas mit diesen Leuten zu tun zu haben.
¿ Wie müßte eine sinnvolle Öffentlichkeitsarbeit denn deiner Meinung nach aussehen?
Yasar: Es muß versucht werden, wieder das Vertrauen der Menschen in eine Linke aufzubauen; dieses Vertrauen war schließlich einmal da, und es war ¿ anders als hier in der BRD ¿ eine Masse von Menschen.
Das muß auf zwei Ebenen laufen:
Zum einen könnte man durch die Gründung von Vereinen, z.B. für Menschenrechte oder durch Sportvereine eine Möglichkeit schaffen, daß sich dort z.B. die Jugendlichen an die linke Szene annähern und Vertrauen gewinnen können, und hierdurch die 12 Jahre lang durch die Medien aufgebauten Vorurteile gegenüber der Linken, daß sie die Menschen ausnutzen, funktionalisieren würde, abbauen können. Die Linke wurde zum Sündenbock für alles gemacht und das muß sich ändern.
Zum anderen muß dies auch über andere Arten von illegalen Aktionen laufen, mit denen du die Sympathie der Menschen gewinnst; ansonsten kannst du Vereine gründen wie du willst, du wirst sie nicht vollkriegen.
Es ist zum Beispiel sinnlos, irgendeinen Polizeibeamten, der auf dem Weg nach Hause ist, vielleicht erst ein paar Jahre im Amt ist und noch keinen Linken ermordet hat ¿ es wahrscheinlich noch tun wird, o.k. ¿ , erschießt. Es wird keiner sagen, toll, das war eine gute Aktion.
Oder du bombardierst irgendeine Polizeikaserne, ein paar Beamte gehen drauf ¿ Unbekannte. Solange die Bevölkerung den Staat akzeptiert, wirst du mit solchen Aktionen keinerlei Erfolg haben. Wenn du aber öffentlich machst, daß jemand nachweislich in Knästen gefoltert hat, dies also eine Zeitlang in der Presse erscheint und ihn daraufhin liquidierst, wird es sehr viel verständlicher sein und du setzt Signale, nämlich, daß dies jedem passieren kann, der das Gleiche getan hat oder noch tun wird.
Sei es, daß du Mülltransporte in die Türkei, die dort im Schwarzen Meer landen, bekannt machst und danach den Verantwortlichen umbringst, dafür wirst du Sympathien kriegen; oder du greifst einen Arbeitgeber an, der in seinem
Betrieb 500 Arbeiterinnen entläßt: auch dafür bekommst du Unterstützung, denn das alles sind Dinge, die die Menschen betreffen und die sie nachvollziehen können.
Das dauert ein, zwei Jahre, du mußt auf der Straße vertreten sein, aber es ist zu schaffen.
Nur ist es heute so, daß selbst, wenn in Kurdistan etwas passiert, in Istanbul oder Ankara Kurden eine Demo machen, die türkische Linke diese aber unterstützt, obwohl sie als Linke die Verantwortung gegenüber der kurdischen Bewegung in ihrem Kampf gegen den türkischen Staat hat, aber dieser Verantwortung ist sie sich nicht bewußt.
Die Linke hat aus den Niederlagen der 80er Jahre nichts gelernt, diese Zeit ist nicht verarbeitet worden, das ist erschreckend, die Aktionen sind die gleichen wie vor 12 Jahren
¿ Wie hat sich die heutige Linke im Vergleich zu früher in gesellschaftlichen und kulturellen Fragen verändert?
Yasar: Sie ist heute extrem moralisch, so moralisch wie die türkische Gesellschaft. Für diese Gesellschaft ist es nicht akzeptabel, daß ein Mann und eine Frau auf der Straße Hand in Hand laufen, geschweige denn, sich auf der Straße küssen ¿ die Linke akzeptiert das ebensowenig.
¿ Aber in den 80er Jahren war das doch anders, denn die Frauenbewegung der 70er Jahre in Europa hatte auch Auswirkungen auf die türkische Linke.
Yasar: Ja, in der Zeit war es tatsächlich anders, da gab es solche Freiheiten; zwar waren nicht alle politischen Organisationen so, bei vielen gab es das auch nicht. Deine GenossInnen waren für dich Brüder oder Schwestern und mit denen durftest du natürlich keine sexuellen Beziehungen haben, aber im Großen und Ganzen war es akzeptiert. Das Problem in Bezug auf die Frauenbewegung in Europa war aber, daß vieles einfach übernommen wurde. Das hieß also, daß Entwicklungen, die von europäischen Normen ausgingen, auf die türkische Gesellschaft, die völlig andere Normen hat, übertragen wurden. Aber die Voraussetzungen sowohl für Frauen, als auch für Männer sind aufgrund der türkischen Gesellschaft zwangsläufig andere, und das ist ein Grund, warum vieles nicht greifen konnte. Nimm z.B. die Forderung, daß Frauen gleichberechtigt im industriellen Sektor arbeiten dürfen:
Die Türkei war lange nicht so durchkapitalisiert, wie europäische Länder, zu 70% arbeiteten die Frauen im landwirtschaftlichen Sektor.
Allgemein war es nicht die Regel, daß Frauen überhaupt Lohnarbeit verrichteten.
Die Rollenaufteilung ist sehr viel strikter, aber die mußt du erst einmal aufbrechen und zwar auf beiden Seiten.
Viele Frauen in der Türkei waren immer zu Hause und am öffentlichen Leben, wie Cafés, Kino, Disko, oder einfach nur alleine auf der Straße zu sein, nicht beteiligt, und diese Situation stellte sich ihnen als Ausgangspunkt. Ein Großteil der Arbeit, die Frauen verrichten, ist Hausarbeit. Es muß also erst einmal durchgesetzt werden, daß z.B. nicht mehr nur die Frauen die Hausarbeit machen, sondern auch Männer und das heißt, du knackst zwei feststehende Bilder: Das der Frau, die sich selbst erst in Frage stellen und vertreten muß, daß der Mann zum Hausmann wird —in der Türkei ist es eines der übelsten Schimpfwörter für einen Mann, ihn Hausmann zu nennen, denn das heißt, er ist kein richtiger Mann— und das des Mannes, der seine alte, sehr viel patriarchalere Rolle in Frage stellen muß, was er aber nicht tut.
Wenn nun aber die Normen der europäischen Frauenbewegung übernommen werden, wie es gemacht wurde, ohne erst einmal die Grundvoraussetzungen dafür durchgesetzt zu haben, kommt es zu einer zweifelhaften Doppelmoral.
Die Frauen nehmen am gesellschaftlichen Leben teil, aber zu Hause sind es nach wie vor sie ¿ und zwar sehr viel extremer als in Europa ¿, die den Haushalt schmeißen.
Der 8. März ist zwar bis zu den Männern durchgedrungen, aber das sah dann so aus, daß am 8. März die Männer über die Frauenfrage diskutiert haben und die Frauen nichts zu sagen hatten. Die Frauenbewegung hat zwar ein Bewußtsein geschaffen, daß es wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen, aber es ist falsch, etwas zu übernehmen; damit sich etwas durchsetzt, müssen die Ausgangsbedingungen genannt werden und von da aus muß sich etwas entwickeln, und da muß in der türkischen Gesellschaft sehr viel weiter unten angesetzt werden, als in Europa.
¿ Wie siehst du die Frage der Emanzipation bei türkischen Mädchen und Frauen und die Rolle der türkischen Jungen und Männer der verschiedenen Generationen hier in der BRD?
Yasar: Es ist erschreckend, viele Männer oder Jungen, die ich heute auf der Straße sehe, sind noch schlimmer, als die Männer in der Türkei, sie sind nicht nur typische Männer, sondern Machos. Auf der Straße spielen sie den freien Mann und zu Hause herrscht die islamische Moral.
Die Frauen kämpfen hier viel authentischer, weil Schritte heraus aus ihrer Kultur für Frauen, obgleich es immer noch Wege zurück gibt, sehr viel mehr Konsequenzen haben, als für Männer.
Ein Mann lebt eine zeitlang, wie es ihm gefällt, er erlebt hier alles und er darf es auch, mit der Freiheit, Freundinnen zu haben, die er aber nicht gleich heiraten muß. Er hat jederzeit und einfacher die Möglichkeit, eine Jungfrau aus der Türkei zu heiraten und eine heilige Familie zu gründen.
Frauen stehen sehr viel mehr in einem Kulturkonflikt, denn wenn sie ein Leben, wie deutsche Frauen führen, bedeutet das größere Brüche mit ihrer eigenen Kultur. Sie stehen dazwischen, sie werden nicht mehr von der türkischen Kultur akzeptiert, sind aber in deutsche Lebensformen ebenfalls nicht integriert. Solche Schritte erfordern sehr viel Mut und ihnen gebührt eine Menge Respekt.