«Proletarisches Leben bildet keinen Zusammenhang, sondern ist durch die Blockierung seiner wirklichen Zusammenhänge gekennzeichnet. Die Form des gesellschaftlichen Erfahrungshorizontes, die diesen Blockierungszusammenhang nicht aufhebt, sondern befestigt, ist die bürgerliche Öffentlichkeit.»1

Was Negt und Kluge in ihrer Theorie als – erst noch herzustellende – «proletarische Öffentlichkeit» bezeichnen, ist insofern der Gegensatz zur «bürgerlichen Öffentlichkeit,» als in der «proletarischen Öffentlichkeit» die «Blockierung» der «Zusammenhänge proletarischen Lebens» aufgehoben wird. Voraussetzen würde dies, dass, was sich in der Produktion abspielt, seine eigene Öffentlichkeit entwickelt. Denn Negt und Kluge stellen fest, dass der Betrieb – anders z.B. als die Liebesaffären von Filmstars oder die Einkommensverhältnisse von Spitzensportlern – im Normalfall ein Geheimbereich ist, geschützt «durch Werkschutz, öffentliche Gewalt und behauptete Rechtsinstitute.»2

Sie stellen weiter fest, dass auch die «Öffentlichkeit» selbst etwas im weitesten Sinn «produziertes» ist. Natürlich werden Internetseiten, Radio- und Fernsehprogramme, Zeitungen usw. nicht von ProletarierInnen im Betrieb hergestellt – und dass die beiden Autoren diesen Unterschied vermittels eines zuweilen recht verschwommenen Produktionsbegriffs immer wieder verwischen, kann und sollte man ihnen vorwerfen. Richtig ist trotzdem, dass auch die Medien und die durch sie konstituierte Öffentlichkeit das Produkt kapitalistisch organisierter Arbeitsvorgänge sind – und dass diese Arbeitsvorgänge, ähnlich wie die im Betrieb, nicht öffentlich sind. Für mich, den Verfasser dieses Beitrags, war jedenfalls das interessanteste Fazit aus der Lektüre des Buches von Negt und Kluge, dass die Herstellung von Öffentlichkeit selbst keine öffentliche ist.

Warum hat mich das so interessiert?

Weil ich zur Zeit der Lektüre des Buches für ein Monatsgehalt von 400 Euro als Praktikant in einer Berliner Online-Redaktion tätig war und mich beim Unterschreiben meines Arbeitsvertrags verpflichten musste, bestimmte Daten «weder während noch nach Beendigung der derzeitigen Tätigkeit unbefugt zu einem anderen als zu dem zur jeweiligen Aufgabenerfüllung gehörenden Zweck zu verarbeiten, bekannt zu geben, zugänglich zu machen oder auf andere Weise zu nutzen.» Und weil mir, der ich das Geld brauchte und keine andere Arbeit fand, der (nicht proletarische) Geheimbereich, in dem Nachrichten entstehen, neugierig machte. Ich freute mich also über Analysen, die das, was dort geschah, aufzuschlüsseln versprachen. Schließlich wollten auch viele GenossInnen erklärt bekommen, was denn eigentlich in diesem Geheimbereich geschieht. Denn um einen solchen handelt es sich wirklich, und zwar nicht nur wegen der Geheimhaltungsklausel im Einstellungsvertrag, sondern natürlich auch wegen der Lohnhöhe. Der Lohn ist ein Selektionsmechanismus, der in der Regel nur denen den Zugang zum Redaktionsbüro erlaubt, die es sich aufgrund ihrer Klassenlage leisten können, durchschnittlich etwa 80 Wochenstunden für ein Gehalt zu arbeiten, dass nicht viel mehr als die in Berlin monatlich anfallenden Miet-, Strom- und Transportkosten abdeckt.

Ich habe zu spät gemerkt, dass ich keine theoretisch ausgereifte Analyse der «Produktion von Öffentlichkeit in Online-Redaktionen» leisten und auch die Theorie von Negt und Kluge nicht einfach als Deutungsschema übernehmen kann. An Stelle der geschlossenen Analyse, die sich die arranca!-Redaktion gewünscht hat, biete ich hier als Kompromisslösung vier Auszüge aus einem frühen Rohtext des von mir zugesagten Artikels, die ich einige Wochen nach der Niederschrift noch für brauchbar halte, an. Der erste Abschnitt versucht auf etwas naive Weise, den Arbeitsplatz anhand des Manufakturbegriffs von Marx zu beschreiben. Ich habe die meisten Marx-Zitate gestrichen, da sie mir zum Verständnis dessen, was sich im Redaktionsbüro abspielt, überflüssig erscheinen. Der zweite Abschnitt besteht aus einigen Notizen zu den «Clicks», anhand derer der Marktwert einer Internetseite, wie sie in Online-Redaktionen produziert werden, festgelegt wird. Der dritte Abschnitt kommentiert unter Rückgriff auf Negt und Kluge das Phänomen der Internetforen. In dem vierten Abschnitt, der vielleicht der wichtigste ist, habe ich versucht zu erklären, wie sich in den Nachrichten bestimmte «politische Linien» reproduzieren – nämlich vermittels der Organisation der Arbeitsvorgänge selber, nicht durch einen regelmäßig erinnerten Beschluss.

Die Redaktion als Manufaktur

Die hierarchische Organisation der Online- Redaktion bleibt verdeckt durch die Form des «offenen Büros.» Der Ressortleiter stellt sich nicht als solcher vor. Es dauert in der Regel etwa eine Woche, bevor neue PraktikantInnen wissen, wer über ihre Einstellung und ihren Einsatz am Arbeitsplatz entschieden hat bzw. entscheidet.

Trotz der dort eingesetzten Technik lässt sich der Arbeitsplatz, wenn man sich denn schon auf solche Vergleiche einlassen will, weniger mit einer Fabrik als mit einer Manufaktur vergleichen. Es wird räumlich konzentriert in einem einzigen kleinen Raum gearbeitet. Das ist u.a. eine Frage der Zeiteffizienz. Zwischen 14 und 15 Uhr müssen die Pressemeldungen des Tages zu drei bis fünf Artikeln von jeweils 500-1000 Wörtern verarbeitet worden sein, damit sie ins Internet gestellt werden können. Bei Bedarf können kurzfristig zusätzliche Arbeitskräfte (Selbständige) ins Büro beordert werden.

Marx schreibt der für die Manufaktur charakteristischen kooperativen Arbeitsform «eine eigne Erregung der Lebensgeister» zu, welche zu einer Erhöhung der «individuellen Leistungsfähigkeit»3 führe. Tatsächlich herrscht im Büro häufig eine ausgelassene Stimmung. Sobald der Redaktionsschluss näher rückt, verstummen die Angestellten aber zunehmend, um sich auf ihre Bildschirme zu konzentrieren. Man hört nur noch das Klappern der Tastaturen. Die notwendige Kommunikation findet trotz der räumlichen Nähe zueinander nicht mehr verbal, sondern vermittels schriftlicher, über das Programm «Instant Messenger» verschickter Kurznachrichten statt.

Clicks: das Geld der Online-Redaktionen

Ein Medienwissenschaftler schreibt: «Das Geld, nach dem sich die Produzentenseite ebenso wie die Publikumsseite richtet, ohne jeweils die andere zu konsultieren, scheint jedoch Unterhaltung zu sein. Unterhaltung ist das die Tauschabstraktion in den Massenmärkten der Freizeit verkörpernde Medium.»4 Diese Aussage ist ungenau. Eine Internetseite hat genauso wie ein Printmedium einen exakt berechenbaren Marktwert. Anhand von ihm wird festgelegt, zu welchem Preis den Privatunternehmen, über die sich das Medium finanziert, (gedruckte oder digitale) Werbeflächen zur Verfügung gestellt werden können. Der Marktwert entscheidet sich nicht über eine abstrakte, als solche nicht messbare »Unterhaltung«, sondern im Fall von Printmedien über die Auflage, im Fall von Internetseiten über «Clicks.» Je öfter Internetbenutzer die verschiedenen Bestandteile einer Internetseite »anclicken«, umso höher ist der Marktwert dieser Internetseite.

«Clicks» erlauben eine genauere Einschätzung der LeserInnenschaft als die Auflagenzahl eines Printmediums. Der Ressortleiter kann beobachten, welche LeserInnen sich bis zur zweiten oder dritten Seite eines Artikels «durchclicken» und welche Art von Beitrag auf das größte Interesse stößt. Das erlaubt eine außergewöhnlich schnelle Reaktion auf Veränderungen im Publikumsverhalten. Die Anzahl der «Clicks» kann durch das Einbauen von abrufbaren «Fotostrecken» und durch die Unterteilung von Beiträgen in mehrere, jeweils durch einen weiteren «Click» abzurufende Abschnitte hochgetrieben werden.

Internetforen: der Schein der Partizipation

Internetseiten sind bekanntlich ein «interaktives» Medium. Die BenutzerInnen können sich per Email an die Redaktion wenden und in eigens eingerichteten «Diskussionsforen» (die von der Redaktion zensiert und moderiert werden) miteinander kommunizieren. Dadurch entsteht ein Schein von Partizipation. Insofern trifft auf die BenutzerInnen von Internetforen zu, was Negt und Kluge über das Publikum der bürgerlichen Öffentlichkeit schreiben: «Sie können sich untereinander nur wiedererkennen über diese Apparatur. Es entstehen Kollektive, doch ohne selbstregulierte zwischenmenschliche Beziehungen.» Was sich als (kritisierende oder ergänzende) Intervention darstellt, ist tatsächlich nur eine auch in ihren zufälligen Momenten bereits vororganisierte Rohstofflieferung. «Es wird, was sie sind, organisiert, aber abzüglich ihrer Selbsttätigkeit. Noch besser: der Schein dieser Selbsttätigkeit wird anschließend separat hinzugefügt.»5

Einbruch und Verarbeitung des Ereignisses

Die US-Armee beginnt einen neuen Großeinsatz im Irak. Am gleichen Tag verlautet aus Washington ungewohnt heftige Kritik an der iranischen Regierung. Ebenfalls am gleichen Tag erscheint ein Strategiepapier Washingtons, in dem die im letzten, neun Monate vor der Irakinvasion erschienenen Strategiepapier formulierte Erstschlagpolitik bekräftigt und darüber hinaus der Iran als gegenwärtiger Hauptgegner der USA bestimmt wird. Diese drei Ereignisse erreichen die Redaktion thematisch vorsortiert in Form einzelner Pressemitteilungen. Sie werden in drei separaten Artikeln abgehandelt. Ein Praktikant stellt in einem Artikel zu einem der drei Ereignisse einen Bezug zu den übrigen beiden Ereignissen her. Die Stelle wird gestrichen.

Das geht nicht auf Böswilligkeit zurück, sondern hat technische, mit dem Format der Internsetseite verbundene Gründe. Auch einer vollkommen irreführenden Berichterstattung über die im März 2006 in Frankreich stattgefundenen Besetzungen von Gymnasien und Hochschulen liegt keine vorformulierte politische Linie zugrunde. Mangelnde Vertrautheit mit der Situation der Betroffenen führt zum unkritischen Nachbeten der von der Regierung ausgegebenen Erklärungen. Der landesweite Charakter der Besetzungen bleibt unterbelichtet, weil die Online-Redaktion nur über einen einzigen Korrespondenten verfügt, der in Paris sitzt. Dieser spricht zwar mit den Betroffenen vor Ort, wählt seine Gesprächspartner aber aufgrund seiner klassenspezifischen Vorurteile aus. Ist die Zeit besonders knapp, werden einfach KollegInnen aus anderen, ortsansässigen Redaktionen zitiert.

Schlussbemerkung

Ich glaube, eine weitere Beschäftigung mit dem Phänomen «Online-Redaktion» könnte aus mindestens drei Gründen interessant sein. Erstens haben alle, die Lohnarbeit leisten, ein Interesse daran, besser zu verstehen, welche Techniken an unterschiedlichen Arbeitsplätzen zur Organisation des Arbeitsprozesses und zur Kontrolle der Angestellten bzw. ArbeiterInnen eingesetzt werden. Zweitens verspricht die Auseinandersetzung mit diesem bestimmten Arbeitsplatz (der Online- Redaktion) eine präzisere Einschätzung der Art und Weise, wie die in der Öffentlichkeit zirkulierenden politischen Deutungsmuster unter den Bedingungen von Lohnarbeit hergestellt werden. Das ist, wenn man so will, die Frage, wie so etwas wie «politische Subjektivität» hergestellt wird. Drittens schließlich liegt mir persönlich etwas daran, dass in linken Zeitschriftenprojekten, Verlagen usw. wieder mehr darüber diskutiert wird, inwiefern es sinnvoll oder überhaupt möglich ist, unter den heute gegebenen Verhältnissen Arbeitsformen zu entwickeln, die sich nicht nur oberflächlich, sondern auch strukturell von den hier skizzierten unterscheiden. Ich würde mir wünschen, dass diese Aufzeichnungen einen Beitrag zu einer solchen Diskussion leisten.