arranca!: ¿In Deutschland gibt es das Klischee, dass ihr den besten Sozialstaat Europas habt. Was steckt dahinter? In welchem Zusammenhang steht das zu den Kämpfen, die ihr zur Zeit gegen die Workfare-Politik eurer Regierung führt, Sozialleistungen mit Arbeitspflicht zu verknüpfen?

Johan: Das Klischee gibt es auch in Schweden. Wir hören von unseren Politikern oft, dass wir dankbar sein müssten, weil wir angeblich den besten Sozialstaat der Welt, die besten Schulen usw. hätten. Tatsächlich findet seit etwa zwölf Jahren ein Umbau des Sozialstaats statt.

Mathias: Der Umbau des Sozialstaats hat sich in zwei Phasen vollzogen. Die erste Phase war die neoliberale Phase in den frühen 1990er Jahren, als die Rechte zum ersten Mal seit langem an die Regierung kam und ein Großteil des öffentlichen Sektors privatisiert wurde. Das war die Phase der Deregulierung. Als dann 1994 die Sozialdemokraten wieder regierten, gab es einen gewissen Widerstand gegen die Privatisierungen. Gleichzeitig fand ein Wechsel von welfare zu workfare1 statt. Es wurde viel Geld in workfare Maßnahmen investiert. Jetzt müssen alle, die Sozialleistungen beantragen, nachweisen, dass sie auf Arbeitssuche sind.

Jonatan: Um Arbeitslosengeld zu erhalten, musst du zuvor einen Vollzeitjob gehabt haben. Das ist ein Problem für junge Erwerbslose.

Johan: Die aktuell regierende sozialdemokratische Regierung hat so genannte »Plusjobs« eingeführt. Sie entsprechen in etwa den 1-Euro- Jobs in Deutschland. Langzeiterwerbslose werden gezwungen, diese auf etwa drei Monate angelegten Jobs anzunehmen. Sie sind so konzipiert, dass sie keine Konkurrenz zur Privatwirtschaft bilden. Die Leute sammeln Müll ein, arbeiten im Park usw. Wer einen Plusjob annimmt, fällt aus der teils vom Staat, teils von den Gewerkschaften unterhaltenen Erwerbslosenkasse heraus und die Menschen sind damit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.

Unser Ansatz ist, dass wir es nicht als unsere Aufgabe sehen, das Problem der Erwerbslosigkeit zu lösen. Die Erwerbslosigkeit ist ein Problem des Kapitals. Wir wollen Geld. Wir müssen nicht die Probleme des Kapitals lösen.

¿Dass ihr euch Themen wie Workfare-Politiken zuwendet, ist neu. Früher habt ihr euch vor allem auf antifaschistische Arbeit konzentriert.

Mathias: In den 1990er Jahren waren wir in der Defensive. Es gab eine Welle neoliberaler Reformen, es entwickelten sich starke und gewalttätige faschistische Bewegungen und es gab eine Bewegung zur Illegalisierung von Abtreibungen. Wir mussten gegen die Faschisten antreten, gegen die parlamentarische Rechte, gegen die Abtreibungsgegner. Hinzu kam, dass sich nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Realsozialismus viele Leute in Teilbereichskämpfe zurück zogen. Es war eine Art, die 1990er Jahre zu überleben. Wir beschlossen, unsere Kräfte dort einzusetzen, wo wir in dem Moment am meisten erreichen konnten. Es gab keine Analyse der Gesamtsituation. Wir lasen nicht Marx, viele von uns hatten eher einen anarchistischen Hintergrund. Wir diskutierten damals das Triple-Oppression-Papier aus Deutschland, das sehr wichtig für die Bewegungen in Schweden war.2

Als dann die globalisierungskritischen Bewegungen entstanden, haben wir umgedacht. Wir begriffen, dass die Faschisten Zulauf bekamen, weil sie Antworten auf soziale Probleme boten. Es war uns wichtig, ebenfalls Antworten auf diese Probleme bieten zu können. Wir organisierten im Rahmen des EU-Gipfels in Göteborg Kampagnen gegen Privatisierungen. Das war die Zeit zwischen 1997 und den Kämpfen in Göteborg 2001. Viele von uns begannen auch, sich mehr mit Theorie auseinanderzusetzen. Michael Hardt und Toni Negri hatten gerade Empire veröffentlicht. Wir knüpften Kontakte zur globalisierungskritischen Bewegung in Italien. Wir reisten 2001 ins soziale Zentrum Leoncavallo und trafen uns mit italienischen GenossInnen in Prag, Göteborg und Genua. Wir informierten uns über Gebührenstreiks und Arbeitsverweigerung, lernten, auf Kämpfe am Arbeitsplatz zu achten und militante Untersuchungen durchzuführen.

¿Welche praktischen Erfahrungen habt ihr mit diesen Ansätzen gemacht?

Mathias: Der Begriff der militanten Untersuchungen war für uns zunächst sehr abstrakt, fast wie ein Slogan: »Informiere dich über die Kämpfe, die in deinem Umfeld stattfinden!« Wir wussten nicht, wie wir das umsetzen sollten. Das einfachste Mittel ist die Selbstuntersuchung. Damit haben wir begonnen. Dann regten wir Leute an, ihre Erfahrungen am Arbeitsplatz aufzuschreiben. Sie sollten eine Art Tagebuch führen und anhand ihrer Aufzeichnungen dann einen Bericht verfassen zu Fragen wie: »Welche Mikrokonflikte finden am Arbeitsplatz statt? Wie leitet der Chef den Betrieb? Wie ist der Arbeitsprozess organisiert?« Wir erhielten eine Menge solcher Berichte und veröffentlichten sie in unseren Zeitschriften.

Jonatan: Das Problem war, dass die Berichte immer erst verfasst wurden, wenn die Kämpfe bereits vorbei waren.

Mathias: Das stimmt. Die Leute haben ein halbes Jahr gearbeitet, dann haben sie gekündigt und ihren Bericht geschrieben. Trotzdem war es wichtig, die Berichte zu lesen und zu entdecken, dass Leute am Arbeitsplatz ähnliche Erfahrungen machen.

Johan: Wir versuchen jetzt, die Untersuchungen über unsere Gruppen hinaus zu erweitern und zu einer größeren Kampagne auszubauen. Dabei kommt uns die Infrastruktur der anarchistischen Gewerkschaft zur Hilfe. Letzten Sommer haben wir eine Saisonarbeiterkampagne organisiert, die sehr erfolgreich war. Saisonarbeiter und –arbeiterinnen aus ganz Schweden wandten sich an uns, um sich über ihre Rechte zu informieren. Wir baten sie, uns Informationen über ihre Löhne zu geben, wodurch wir eine »Top 10« der schlimmsten schwedischen Unternehmen erstellen konnten, die auf große Aufmerksamkeit gestoßen ist.

Mathias: Wir begreifen die militante Untersuchung nicht als eine Einzelmethode, sondern als eine Art Werkzeugkasten, der verschiedene Methoden verbindet. In den vergangenen zwei Jahren haben wir unterschiedliche Untersuchungsformen entwickelt. Ein Fragebogen kann uns helfen, Klarheit über unsere eigenen Konflikte am Arbeitsplatz zu schaffen, aber er kann auch als Diskussionsgrundlage dienen oder in Interviews eingesetzt werden. Wir haben auch runde Tische zu verschiedenen Arbeitssektoren organisiert. Daraus ist eine Zeitschrift für Krankenhausangestellte entstanden. Jede Ausgabe widmet sich einem bestimmten Thema, z.B. den Zahlungsmodi oder den Kontrollmechanismen am Arbeitsplatz. Die Beiträge basieren auf Fragebögen, die wir an Beschäftigte in Krankenhäusern verschicken.

¿Ihr habt auch in Jobcentern Untersuchungen durchgeführt.

Mathias: Das ist eine relativ neue Kampagne. Sie wurde von einer Göteborger Gruppe entwickelt, die eine Internetseite mit Tipps für den Umgang mit Jobcentern betreibt. Sie begannen, wöchentlich und manchmal täglich vor den Jobcentern Flugblätter zu verteilen. Das war sehr effektiv und eines der Jobcenter wurde sogar geschlossen. Aber jetzt sind sechs solche Jobcenter hier in Malmö und deshalb haben wir eine ähnliche Kampagne organisiert. Wir verteilen Flugblätter und befragen die Leute zu ihren Erfahrungen. Es ist wichtig, die Antworten öffentlich zu machen, denn bis jetzt hört man nur, dass die Jobcenter ein Riesenerfolg sind. Keiner spricht darüber, wie die Leute dort behandelt werden. Wir nennen sie den Kindergarten für Erwachsene. Die Leute sitzen da einfach den ganzen Tag herum. Es ist einfach nur eine Disziplinartechnik. Wir versuchen mit dieser Kampagne nicht nur, auf bestimmte Sachverhalte aufmerksam zu machen, sondern bemühen uns auch, Kontakte zu den Betroffenen herzustellen.

¿Ist es schwierig, die Leute dazu zu bringen, über ihre Erfahrungen zu sprechen?

Jonatan: Ja. Oft wollen die Leute nicht über ihre Situation als Erwerbslose sprechen. Sie verbringen sehr viel Zeit im Jobcenter und haben dann keine Lust, sich auch noch in ihrer freien Zeit damit zu befassen.

¿Reden wir über die Kampagne, die ihr während der kommenden Wahlen im September organisieren wollt. Sie ist dem gewidmet, was ihr »unsichtbare Kämpfe« nennt. Was versteht ihr darunter?

Johan: Wir wollten nicht mehr nur die übliche Agitationsarbeit leisten, also nur darauf aufmerksam machen, dass die im Wahlkampf angesprochenen Probleme aus der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft resultieren. Das wirkliche Problem mit den Wahlen besteht darin, dass den Leuten vorgegaukelt wird, in was für einer demokratischen und offenen Gesellschaft sie leben. Die Wahlen sollen ein Beispiel dafür sein, wie gut die Gesellschaft angeblich funktioniert. Wir wollen darauf hinweisen, wie viele Ko n f l i k t e und Kämpfe in dieser Gesellschaft stattfinden und sie sichtbar machen. In vielen unserer Diskussionen ging es darum, wie Geschichte konstruiert wird, wie Bilder eingesetzt werden, um bestimmte Interpretationen durchzusetzen. Wir wollen diese Konstruktionen aufbrechen. Dazu müssen wir nicht neue Kämpfe herbeiführen, sondern nur die Kämpfe, die bereits stattfinden, öffentlich machen.

Mathias: Das Problem der Sichtbarkeit bzw. der Unsichtbarkeit hat zwei Ebenen. Auf der einen Ebene gibt es den täglichen Kampf, den jeder und jede führen muss, wenn er oder sie zur Arbeit oder ins Jobcenter geht, wenn sie sparen müssen fürs Studium usw. Auf dieser Ebene geht es darum, diese Mikrokonflikte öffentlich zu machen und zwischen ihnen Kommunikation herzustellen, so dass ein Lernprozess einsetzen kann.

Die zweite Ebene ist die unserer verschiedenen politischen Projekte. Seit fünf oder sechs Jahren entwickeln wir auf lokaler Ebene, in unseren verschiedenen Städten solche Projekte. Das Problem ist, dass diese Projekte und Kampagnen in keinem Zusammenhang zueinander stehen; die Leute haben nicht viel miteinander geredet. In einer Stadt gibt es die Schwarzfahrerkasse, in einer anderen die Kampagne gegen Jobcenter. Es gibt Kampagnen im öffentlichen Sektor, zur Erwerbslosigkeit, zum Bildungssystem. Wir haben uns gesagt, dass wir zur Zeit vielleicht keine gemeinsame Identität haben, aber dass wir dennoch eine schaffen müssen – eine offene, unbestimmte Identität, die es uns erlaubt, unsere verschiedenen Praxisformen zueinander in Beziehung zu setzen.

Wir haben den Begriff der »unsichtbaren Partei« geprägt, um eine solche offene Identität zu schaffen. Wenn die GenossInnen jetzt eine Demonstration organisieren, sagen sie, sie seien Teil der unsichtbaren Partei. Wenn wir vor dem Jobcenter Flugblätter verteilen, sagen wir das auch. Wir machen immer noch dieselben Sachen wie vor fünf oder sechs Jahren, aber wir verwenden dabei diese neue Identität. Plötzlich erhalten wir Post aus dem Norden von Schweden, von Leuten, die uns von ihren Kampagnen berichten und sagen, sie seien auch Teil dieses Prozesses. Das hatte eine doppelte Wirkung: Zum einen haben wir begonnen, uns untereinander auszutauschen. Zum anderen gibt es jetzt auch eine Legende oder ein Gerücht bezüglich dieser unsichtbaren Partei. Die Leute sagen: »Da entsteht eine neue Bewegung.« Die Medien sind sehr neugierig geworden.

Johan: Als wir begannen, diese Kampagne zu organisieren, haben wir uns gesagt, dass es sehr viel Arbeit sein würde, die Leute zu mobilisieren. Auf einem Plenum der anarchistischen Gewerkschaft bemühten wir uns, die Mitglieder der Gewerkschaft zur Teilnahme an der Kampagne zu bewegen. Es hat dann nur eine der insgesamt 25 anwesenden Gruppen dagegen gestimmt. In dem Moment haben wir uns gesagt: »Vielleicht schaffen wir das doch«. Dann gab es eine unvorhergesehene Entwicklung. Einer von uns ist im Fernsehen erschienen, bei einer Reality Show, die sich mit dem Wahlkampf befasste. Er trat als Mitglied unserer Bewegung auf und gewann völlig unvorhergesehen 100.000 Kronen.

Mathias: Bei dieser Sendung ging es darum, junge Leute für Politik zu interessieren. Es gab verschiedene Teilnehmer: einen Rechten, einen aus der Ökologie-Bewegung, einen aus der Queer-Bewegung. Sie wollten das ganze politische Spektrum abdecken. Die Sendung war wie eine Wahlkampagne aufgebaut.

Johan: Und unser Genosse hat gewonnen. Er hat natürlich gleich gesagt, dass er das Geld in unsere Kampagnen stecken würde. Da gab es ein wenig Aufruhr, aber der hat sich mittlerweile gelegt. Dann kam der März, als die Hochschulbesetzungen in Frankreich sehr viel Aufmerksamkeit in den Medien bekamen. In Frankreich wurde gegen genau die Dinge protestiert, gegen die wir auch hier in Schweden mobil i s i e r e n wollen. Wir haben einen Aktionstag gegen eine kleine rechte Partei organisiert, die einen dem französischen Ersteinstellungsvertrag sehr ähnlichen Gesetzesvorschlag entwickelt hat. Am Aktionstag gab es Demonstrationen und kleine Riots. Es war ein guter Moment, um zu zeigen, dass es auch hier in Schweden einen radikalen Widerstand gibt. Die Leute haben sofort verstanden, worum es ging. Mittlerweile hat es im ganzen Land etwa 60 oder 70 Anschläge auf die Büros der Partei gegeben. Wir wissen nicht, wer für diese Anschläge verantwortlich ist.

Mathias: Niemand hat die Entwicklung im Griff. Die Presse und der Nachrichtendienst beobachten uns sehr genau. Die Leute glauben, wir seien viel organisierter, als wir sind. Sie sagen: »Die autonome Linke ist wieder zum Leben erwacht – sie sind überall!« Wir sind genauso überrascht wie alle anderen. Auf einmal gibt es einen Austausch zwischen den verschiedenen Projekten und Kampagnen im Land.

Johan: Die Gruppen, die in der unsichtbaren Partei arbeiten, sind relativ klein. Aufmerksamkeit haben wir schon sehr viel bekommen. Jetzt, wo wir auch Geld haben, konzentrieren wir uns vor allem auf die materiellen Aspekte der Kampagne. Wir haben Propagandamaterial hergestellt, das stark auf den Ergebnissen unserer Untersuchungen aufbaut. Wir haben beispielsweise große Aufkleber mit unserer Internetadresse und mit einer Art Fragebogen produziert. Die Fragen lauten zum Beispiel: »Wer bestimmt den Arbeitsrhythmus an deinem Arbeitsplatz?« oder: »Was tust du, um den Arbeitsrhythmus zu verlangsamen?«

Mathias: Wir wollen einen Raum schaffen, in dem aktuelle Konflikte artikuliert werden können. Wir wollen, dass die Leute miteinander reden. Die unsichtbare Partei formuliert keine Forderungen oder Strategien. Was wir tun können, ist Fragen aufwerfen, auf die die Leute dann ihre eigenen Antworten finden können. Wir können Kämpfe sichtbar machen, aber die Leute müssen ihre Kämpfe selbst führen. Die unsichtbare Partei ist auch nicht die Summe der verschiedenen Kämpfe, die zurzeit in Schweden stattfinden. Wir sehen sie als Möglichkeit, Kämpfe kollektiv zu führen und öffentlich zu machen. Die unsichtbare Partei ist eine Art Multiplikator. Sie führt die Kämpfe zusammen. Im Moment versuchen wir vor allem, eine stärkere Verbindung zwischen sozialen Bewegungen und Kämpfen am Arbeitsplatz herzustellen. Letztes Jahr gab es beispielsweise einen Konflikt beim Stockholmer U-Bahn- Betrieb. Der Ortsvorsitzende der sozialdemokratischen Gewerkschaft wurde gefeuert. Uns als VertreterInnen der sozialen Bewegungen in Schweden war es sehr wichtig zu zeigen, dass seine Situation uns alle betrifft. Schließlich benutzen wir die U-Bahn jeden Tag. Wir sind Teil desselben Konflikts, auch wenn wir einen anderen Ansatz haben. Wir haben die Büroräume des Betriebs besetzt und kollektives Schwarzfahren organisiert, um die Leute dann aufzufordern, das Geld, das sie normalerweise für ihre Fahrkarte gezahlt hätten, in die Streikkassen der TransportarbeiterInnen zu zahlen. Es gab einen illegalen Streik. Wir konnten den Konflikt erfolgreich ausweiten. Der Vorsitzende des U-Bahn-Betriebs verglich das mit einem Fußballspiel, das als ein Wettkampf zwischen den zwei Teams anfängt, bei dem aber plötzlich das Publikum das Spielfeld stürmt und mitspielt. Er hat genau verstanden, worum es geht.