Der Guatemalteke Rodríguez ist einer der ungezählten Menschen aus Mexiko und Zentralamerika, die illegal in die USA migrieren, dort jahrelang mit gefälschten oder erfundenen Sozialversicherungsnummern »legal« arbeiten und Millionenbeträge in die US-amerikanischen Steuersysteme, in die Renten und Krankenkassen zahlen. Heute lebt Rodríguez wieder in Guatemala. Von dem Geld, das er in einem Hotel im texanischen Houston verdiente, kaufte er sich einen Kleinbus und fährt Touristen vom Flughafen in Guatemala-City in ihre Hotels. Davon lebt er gut.
Für Rodríguez und Millionen andere nicht dokumentierte Latinos/as in den USA – die so genannten indocumentados/as – hat die Frage der Legalität eine gänzlich andere Bedeutung als für Menschen ohne formalen Status in der Bundesrepublik. In Deutschland werden die so genannten Illegalen polizeilich verfolgt und kriminalisiert. Sie sind vom öffentlichen Leben und sozialen Dienstleistungen ausgeschlossen. Dem gegenüber leben und arbeiten viele indocumentados/as seit Jahrzehnten de facto legal in den USA: Sie verfügen nicht nur über eine Sozialversicherungsnummer, zahlen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, sondern sie besitzen auch eine Fahrerlaubnis, ein Auto, ein Haus, ihre Kinder gehen in US-amerikanische Schulen, sie engagieren sich in den öffentlichen Räumen ihrer Communities und Nachbarschaften etc..
Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens »Latinobarometer« zufolge, fühlen sich mehr als 70 Prozent der rund 35 Millionen Latinos/as oder Hispanics in den USA – ungeachtet ihres formalen Status – als US-AmerikanerInnen. Ermöglicht wurde diese Selbst-Auffassung als de facto- Bürger/in durch die bislang vergleichsweise tolerante US-amerikanische Einwanderungsgesetzgebung, die Menschen ohne gültige Papiere nicht polizeilich oder strafrechtlich verfolgte. Der illegale Aufenthalt von MigrantInnen gilt lediglich als eine Ordnungswidrigkeit. Deportationen wurden im Grunde nur vorgenommen, wenn MigrantInnen straffällig geworden waren.
Diese Anmerkungen sollen nicht die oft schlechten und ungeschützten Arbeitsbedingungen nicht-dokumentierter MigrantInnen in den USA beschönigen, nicht die vielen Toten an der Grenze zwischen den USA und Mexiko vergessen machen und nicht den Rassismus des weißen englischsprachigen Amerika gegen die Hispanics leugnen. An dieser Stelle soll auch nicht ausführlich auf die Freihandelsverträge wie NAFTA und das geplante zentralamerikanisch-dominikanische Abkommen mit den USA (CAFTA) eingegangen werden, die der Kontext der explodierenden Migration aus Mittelamerika in die USA sind. Es sei nur kurz daran erinnert, dass im Zentrum dieser Abkommen die Öffnung der nationalen Märkte und der Abbau von Importhürden für US-Produkte stehen. Diese Projekte sind aber auch begleitet von einem neuen Protektionismus der nordamerikanischen Länder, der die Mobilität von Arbeitskraft und bestimmter Güter aus den mittelamerikanischen Ländern restringiert und damit die sozioökomische und politische Ausgrenzung eines signifikanten Teils der Bevölkerung dieser Länder bedeutet.
Diese Anmerkungen sollen stattdessen den Beitrag von David Bacon zu den migrantischen Protesten gegen die geplante, höchst restriktive Reform des US-amerikanischen Einwanderungsgesetzes kontextualisieren. Die arbeitsfixierte Argumentation von Bacon, die das Recht auf Legalisierung mit dem gesellschaftlichen Beitrag begründet, den die nicht dokumentierten MigrantInnen durch ihre Arbeit, den erwirtschafteten Mehrwert und ihre Zahlungen in die US-amerikanischen Steuer- und Sozialkassen geleistet haben, sowie die für uns unterschwellige Diktion einer »zu regulierenden Migration«, führten in der Redaktion zu kontroversen Debatten. Schließlich hat unserer Meinung nach jede/r das Recht auf Mobilität und ein Leben in Würde, möglichst sogar ohne den Zwang, dafür arbeiten zu müssen. Wir haben uns entschieden, den Text dennoch abzudrucken. Denn er zeigt zum einen, dass die im Rahmen der Gesetzesreform geplante Kriminalisierung von Menschen ohne gültige Ausweis- und Aufenthaltspapiere tatsächlich einen historischen Bruch des US-amerikanischen Selbstverständnisses als Melting Pot und Einwanderungsgesellschaft bedeuten würde.
Zum anderen spiegelt die Argumentation von Bacon auch die politische Zielrichtung der migrantischen Proteste und das migrantische Selbstverständnis, insbesondere der Latinos/ as als US-AmerikanerInnen wider: Ihr Motto »Wir sind hier, wir bleiben. Wir sind Amerika« macht dieses Selbstverständnis sehr deutlich. Es zeigt ebenso deutlich den Unterschied zu den Forderungen von Menschenrechtsorganisationen, die sich für illegalisierte Menschen in Deutschland einsetzen: Dabei geht es um elementare Menschenrechte, den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, und um das »nackte Leben«, darum, die teils tödliche Gewalt in den Abschiebeknästen und während der Deportationen anzuklagen. Sowohl die »harte« Variante HR 4437 als auch der »weichere« Entwurf S 2611 für eine Novelle der Migrationsgesetzgebung wäre ein Schritt in die Richtung des deutschen Modells der völligen Kriminalisierung des/der nicht-dokumentierten MigrantIn. Doch dagegen formiert sich in den USA unübersehbar – und das ist der dritte Grund für den Abdruck – eine soziale Bewegung von MigrantInnen, die nicht nur auf kurze Zeit beschränkt bleibt, sondern, wie selbst konservative Medien konstatieren, derzeit zu einer der größten Bürgerrechtsbewegungen seit Martin Luther King anwächst.