Bei den Rebellionen verloren mehr als 30 Beamte ihr Leben, was den Ereignissen weltweit Aufmerksamkeit verschaffte. Die darauf folgenden Racheaktionen von Polizei und Todesschwadronen, bei der ca. 170 Menschen ermordet wurden und die Hilfeschreie aus den Favelas über Massenhinrichtungen auch an unbeteiligten BewohnerInnen wurden hingegen weit weniger beachtet.
Im Folgenden veröffentlichen wir ein gekürztes Interview aus dem Journal ADUFF vom 06.07.2006 mit Mauricio Campos. Er gehört dem »unabhängigen Netzwerk der Kommunen und sozialen Bewegungen gegen Gewalt« in Rio de Janeiro an. Dieser Zusammenschluss vereint MenschenrechtsaktivistInnen, BewohnerInnen aus Favelas und armen Stadtteilen, Überlebende und Familienangehörige von Opfern der Polizei- und Militärgewalt. Das Netzwerk richtet sich gegen die ökonomischen, sozialen und kulturellen Ursachen, die zur Gewalt in den marginalisierten Kommunen Brasiliens führen.
¿Das Ausmaß der Gewalt in Brasilien hat zu einer Debatte über die angebliche Straflosigkeit der Gewalttäter geführt. Wer wird hier nicht bestraft?
Ich habe mit dem Bestrafungsdiskurs grundsätzliche Probleme. Die Ideologie des Strafrechts orientiert sich eher an Rache denn an Gerechtigkeit. Ich will nicht sagen, dass die Debatte um angebliche Straflosigkeit nicht hin und wieder auch die Ursachen berührt, die zum Problem der Kriminalität führen. Aber abgesehen davon ist der herrschende Diskurs tendenziös.
Wenn wir uns die Realität in den Gefängnissen und das Verhalten der Polizei ansehen, können wir daraus nur den Schluss ziehen, dass Arme, die kriminell werden, hier in Brasilien übermäßig bestraft werden. Betrachten wir das »legale« Strafsystem, sehen wir, dass die Anzahl der Gefangenen sehr schnell wächst. Sämtliche Haftanstalten sind überfüllt und in den meisten Prozessen treten Unregelmäßigkeiten auf. Die meisten Angeklagten sitzen ohne Verurteilung ein.
Das Großunternehmen »Knast« prahlt zwar damit, dass der eine oder andere große Verbrecher eine alternative Strafe, wie den halboffenen Vollzug, erhält. Aber das ist nicht repräsentativ für die große Mehrheit der Fälle. Denn die meisten Gefangenen haben keine Anwälte und können sich juristische Unterstützung nicht leisten. Außerdem existiert immer noch das »illegale« Strafsystem. Prügel, Folter und Massenhinrichtungen sind Praktiken der Polizei und der Todesschwadronen, die mehr und mehr ausgeübt werden. Von »Straflosigkeit« zu sprechen ist unter diesen Vorzeichen zynisch, besonders für Verdächtige, die arm oder schwarz sind und in einer Favela wohnen.
Auf der anderen Seite ist es kein Geheimnis, dass reiche Kriminelle oder Beamte, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, nicht mit derartigen Strafen rechnen müssen. Zieht man die Fälle der letzten Jahre mit dem größten Ausmaß an Korruption und Betrug von Unternehmen in Betracht, und versucht herauszufinden, wie viele der darin Verwickelten wirklich verurteilt und eingesperrt wurden, lässt sich sehr einfach erkennen, wer durch »Straflosigkeit« in Brasilien begünstigt wird.
¿Der Gouverneur von São Paulo, Claudio Lembo, fiel nach dem Gefängnisaufstand und dem darauf folgenden Massaker durch die Sicherheitskräfte vor allem durch seine indifferente Haltung auf, kannst du das erklären?
Ich kann nicht behaupten, dass er während der Erschießungen durch die Polizei indifferent war. Er war total zynisch. Er leugnete die Massenhinrichtungen – und tut das bis heute. Er behauptet, dass die Polizei absolut im »gesetzlichen Rahmen« gehandelt habe, und dies trotz aller Beweise, die die Staatsanwaltschaft und Menschenrechtsorganisationen vorgelegt haben. (...)
¿Einige gesellschaftliche Gruppen konstruieren nach wie vor eine Verbindung von »organisierter Kriminalität« und »linken revolutionären Bewegungen«. Warum ist das so?
Die Mehrheit dieser Gruppen tut dies aus klarem politischem Kalkül. Es sind RepräsentantInnen einer Strategie, mit der soziale Kämpfe kriminalisiert werden sollen. (...) Abgesehen davon gibt es in Brasilien noch eine andere Quelle für diese Verwirrung: Es hält sich der hartnäckige Mythos, dass das Comando Vermelho (CV – Rotes Kommando), und damit auch andere kriminelle Fraktionen, durch den Einfluss politischer Gefangener auf gewöhnliche Kriminelle während der Militärdiktatur auf der Gefängnisinsel Ilha Grande entstanden sind. Die wahre Geschichte unterscheidet sich allerdings sehr stark von dieser Version. Konflikte zwischen den politischen und unpolitischen Gefangenen waren sehr viel normaler als Kooperation. (...) Letztlich ist es aber wohl so, dass die meisten Organisierungsversuche erst einmal als linksterroristisch abgetan werden.
¿War das beim PCC auch so?
Das PCC entstand als eine Gefängnisorganisation und übertraf das CV in Punkto Relevanz sicherlich. PCC fing als eine Organisation der Strafgefangenen in São Paulo an. Die Initiative ging von »gebildeten« Gefangenen aus, aber der Zusammenhang zu politischen Gefangenen wurde nicht so deutlich konstruiert wie beim CV. (...) Schneller noch als das CV in Rio verwandelte sich das PCC in die Kopie eines Wirtschaftsunternehmens »niederer Kriminalität«. PCC war ursprünglich im Einzelhandel des Drogengeschäfts tätig, aber es hat weiterhin seine wichtigste Basis und Kommandoebene in den Gefängnissen. Folglich handelt es sich beim PCC gleichzeitig um ein kapitalistisches Unternehmen und um eine militärische Organisation. Die Besonderheit ist, dass es eben auch eine Art soziale Bewegung zur Verteidigung der Rechte der Gefangenen ist. Dennoch hat es alle prinzipiellen Charakteristiken einer Firma und eines militarisierten Körpers.
Das PCC verfügt über eine klare Hierarchie, Normen für Gehorsamkeit, Strafpraxis, soziale Arbeitsteilung, private Aneignung des Gewinnes, administrative Zentralisierung und nicht zuletzt Ausbeutung der Arbeiter (Drogentransporteure, Verkaufsleiter, Soldaten etc.). Obwohl ihre ‚Direktion‘ und ihre ‚Basis‘ immer noch auf gewisse Weise den gleichen Raum miteinander teilen, die Gefängnisse oder Favelas, tendieren sie dazu, sich immer weiter auszudifferenzieren.
¿Gibt es Differenzen zwischen der Basis und ihrer Direktion?
Die Spitze des PCC hat Geld, Vollzeitanwälte und Beziehungen zur »offiziellen« Gesellschaft. Sie haben Kontakte zu »legalen« Unternehmern, Politikern und Verantwortlichen bei der Polizei. Für sich und diese Kontaktmänner veranstalten sie teure Parties. Das ist schon lange so. Die große Mehrheit der Basis des PCC verdient hingegen sehr wenig. Die meisten Mitglieder erhalten keine juristische Begleitung, sie haben keine Rückendeckung und nicht genügend Geld, um beispielsweise Polizisten oder Zuchthausangestellte zu bestechen. Diese Ungleichheit wächst weiter. Die »Spitze« hält die Loyalität der »Basis« in erster Linie dadurch aufrecht, dass sie den Kampf für bessere Bedingungen in den Gefängnissen miteinander teilen. Dieser Kampf ist legitim, obgleich die Methoden es nicht sind.
Abgesehen davon wiegt der permanente Krieg der Einen gegen die Anderen schwer. Es ist eine militarisierte Form kapitalistischer Konkurrenz, was die vertikale Strukturierung innerhalb der Organisation des PCC verstärkt.
¿Wie schreibt sich das PCC in den Rahmen der Gewalt in Brasilien ein?
Das PCC würde, genau wie das CV und andere Organisationen, nicht existieren, gäbe es nicht die von den Eliten gewählte gewalttätige Politik in Brasilien, um Kriminalität und soziale Gewalt zu bekämpfen. Es ist ein Kampf gegen selbst gemachtes Leid. Denn das Auftauchen dieser Gruppierungen ist undenkbar ohne das hier existierende unmenschliche Gefängnissystem. Auf der anderen Seite kommt die ökonomische Macht des PCC vor allem aus dem Handel mit illegalen Drogen, der, zumindest seit den 1970er Jahren, zu einem grundlegenden Ventil des weltweiten Kapitalismus geworden ist. Die kapitalistischen Überflüsse werden so »recycelt«.
PCC ist also ein Ergebnis der ökonomischen und politischen Situation. Wer es als einen konstitutiven Faktor für die existierende gesellschaftliche Gewalt ansieht, liegt falsch. Die soziale Gewalt in Brasilien, vor allem die Polizeigewalt und die Gefängniskerker entstanden sehr viel früher als Fraktionen wie PPC und CV. Wie gesagt, diese Gruppierungen sind das Ergebnis der historischen Entscheidung einer herrschenden Klasse, die versucht, sich auf gewalttätige Art ihre Privilegien zu sichern. Diese Klasse entstand aus den Strukturen des Kolonialismus, der Versklavung und des Rassismus. Und sie ist nicht gewillt, ihren Einfluss einzuschränken. Das Ansinnen der Eliten, die sozialen Ungleichheiten mit Gewalt aufrecht zu erhalten, erreicht seine Grenzen, oder besser gesagt, es ist eine Sackgasse. Die Gewalt explodiert richtig gehend. Wer eine Lösung dieser Situation von eben diesen Eliten erwartet, wird enttäuscht werden.
¿Wie schätzt du die Zusammenarbeit der Menschenrechtsorganisationen in solchen Situationen ein?
Genau genommen ist die Mehrheit der Menschenrechtsorganisationen in ihrem Handeln zu beschränkt, weil sie die sozialen Konflikte nicht miteinbeziehen. Die Kämpfe zwischen den Klassen, die ökonomischen und politischen Interessen, die hinter der systematischen Verletzung der Menschenrechte durch den Staat oder durch Einzelinteressen stehen, werden nicht immer ausreichend beachtet. Das ist allerdings keine den Organisationen auferlegte Beschränkung. Es ist eher eine der eigenen Kultur und des Konzepts der Menschenrechte, die in ihren Grundsätzen nach dem Ende des 2. Weltkrieges geformt wurden. Die konzeptionelle Stärkung der Rechte unter allgemeiner Berücksichtigung unterschiedlicher Gesellschaften, Kulturen und Religionen war etwas Wichtiges in der Geschichte der Menschheit. Aber sie blieb vielfach eine Konvention auf dem Papier, die die existierenden Konflikte und Widersprüche nicht auflöste. Anders gesagt: Die Konflikte lassen sich anhand der eigenen ‚Absichtserklärungen‘ reflektieren. Mir scheint es zum Beispiel offensichtlich, dass das Recht auf Leben und soziale Sicherheit zu dem Recht auf Privateigentum im Widerspruch steht.
¿Wie schlagen sich diese Widersprüche in der Realität nieder?
Wenn sich soziale Gruppen organisieren und für ihre Rechte kämpfen, führt das zur Verletzung anderer Rechte. Ein Beispiel dafür sind die Landlosen. Sie besetzen das Land eines Großgrundbesitzers und verstoßen damit gegen das Recht auf Privateigentum. Auch wenn Kommunen protestieren und dabei Strassen blockieren oder Gebäude besetzen, verstößt das gegen nationale Gesetze. Das ist eben ein anderer Ansatz, es geht in solchen Situationen nicht um abstrakte Menschenrechte. Deswegen ist der Kampf für diese Rechte nicht weniger legitim und notwendig. Ich will damit auch nicht sagen, dass die Menschenrechtsorganisationen im Widerspruch zu sozialen Kämpfen stehen, oder Feinde der sozialen Bewegungen sind. Im Gegenteil: In Ländern wie Brasilien sind sich soziale Bewegungen und Menschenrechtsaktivisten oft recht nah, denn meistens kämpfen sie auf der gleichen Seite gegen den Staat und die ökonomische Macht. Beide erfahren häufig auf gleiche Weise, welche Folgen und Konsequenzen ihre Kämpfe haben können. Sie werden bedroht, verhaftet oder hingerichtet.
¿Ist denn für die Zukunft eine strategische und inhaltliche »Allianz« zwischen sozialen Bewegungen und Menschenrechtsgruppen denkbar?
Genau wie jeder Organisierungsversuch ist diese Allianz keine leichte Aufgabe – weder thematisch noch auf der praktischen Ebene der Umsetzung. Es ist nie unproblematisch, gemeinsame Wege des Protestes zu finden. Ich glaube aber, dass diese Verbindung kohärent und fruchtbar gemacht werden könnte, indem einem speziellen‚erklärten Recht‘ mehr Wichtigkeit beigemessen wird: Ich rede vom Recht auf Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Das Recht, sich zu erheben und zu kämpfen ist, wie ich meine, der Ausgangspunkt für alle übrigen Menschenrechte. In einer »Hierarchie der Rechte« – wenn man denn davon sprechen möchte – würde dieses Recht über allen anderen stehen.