Im Nachkriegsitalien der 1950er Jahre verfolgten die traditionellen Institutionen der Arbeiter*innenbewegung eine zunächst erfolgreiche Strategie des «italienische Wegs zum Sozialismus», die eine «progressive» Demokratie gegen Revanchismus und Monarchie durchsetzen konnte. Sie fokussierte einen wirtschaftlichen Wiederaufbau, der auf quantitatives Wachstum und Industrialisierung setzte. Dadurch entfernten sie sich von den konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter*innenschaft. Die Krise des Marxismus in Italien erschien wesentlich als eine Krise der Repräsentation der Arbeiter*innen durch ihre politischen Institutionen. In dieser Situation fanden junge Aktivist*innen ihren Weg in die Fabriken, um Klassenanalyse und Klassenkampf zu verbinden. Für sie bildete die Untersuchung das «erste Instrument» politischer Arbeit.
Fiat spielte für die Entwicklung und Anwendung der Militanten Untersuchung eine bedeutende Rolle. Marco Revelli beschrieb sie in seinem Buch «Fiat und die Arbeiter(innen)» als «Behemoth aus Metall», dessen Größe und Ausdehnung als zugleich faszinierend und abschreckend erscheint: «Fast 3 Millionen Quadratkilometer, zur Hälfte überdacht, Eingangstore, verteilt über einen Umfang von mehr als zehn Kilometern, eine Bevölkerung von 30 bis 60 000 Menschen, je nach Tageszeit, mit einem Straßennetz von 22 und einem Eisenbahnnetz von 40 Kilometern. Acht Lokomotiven, täglich 130 abfahrende und eben soviel ankommende Waggons. Fast 40 Kilometer Fließbänder, 223 Kilometer Hochbänder, 13 Kilometer unterirdische Tunnel, 13 000 Werkzeugmaschinen. Ein Telefonnetz in der Größenordnung einer Stadt wie Ivrea, mit 10 000 Anschlüssen und 667 Kilometer Kabel; eigene Stromproduktionskapazitäten zum Abdecken von 50 Prozent des Energiebedarfs – das entspricht einer Million Glühbirnen oder dem Gesamtstromverbrauch einer Stadt wie Triest. Eine jährlich verfeuerte Brennstoffmenge, mit der man 22 000 Wohnungen heizen könnte. Das ist Mirafiori: die größte Fabrik der Welt».
Im Inneren dieses Behemoths begann Anfang der 1950er Jahre ein intensiver Prozess der Neuorganisation des Unternehmens. Zwar stieg auch die Anzahl der Beschäftigten, jedoch bei weitem nicht im gleichen Maße wie die Produktions- und Umsatzkurven. Bei Fiat vollzog sich durch Rationalisierung und Automation der Übergang in eine neue, «neokapitalistische»1 Phase der Massenproduktion und -konsumtion. Fiat galt als paradigmatisches Beispiel für die Transformationsprozesse innerhalb der «großen Industrie». Die unternehmerischen Entscheidungen, die bei Fiat getroffen und durchgesetzt wurden, aufgrund der Wirtschaftskraft und seiner Einbindung in den internationalen Markt, als «determinierend für die italienische Politik» bezeichnet.
Und schließlich galt Fiat als Ort der «Massenavantgarden», der bewussten kommunistischen Arbeiter*innenschaft. Die Parteizellen der Pci spielte bei Fiat in den 1940er und 1950er Jahren eine derart große Rolle, dass von einer «Vergewerkschaftung der Partei» gesprochen wurde. Im Juli 1948, nachdem der christdemokratische Block aus den landesweiten Wahlen als Sieger hervorgegangen war, wird die Nachricht von einem Attentat auf den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Palmiro Toglitatti bekannt. Als direkte Reaktion besetzen die Fiat-Arbeiter*innen ihre Betriebe und setzen Führungskräfte fest. Fiat stand in vorderster Linie der Protestbewegung, die ganz Italien zu erfassen begann. In Turin trat daraufhin die Partisan*innen organisation wieder in Erscheinung und stellte sich gegen die Linie der Führung der Arbeiter*innenbewegung. Sie wartete auf die Gelegenheit zum Aufstand, doch diese trat nicht ein. Zwei Tage später schafften es die Gewerkschaft und Partei, die Arbeiter*innen zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen.
Anfang der 1950er Jahre kam es dann zu vereinzelten Streiks in Form spontaner Kämpfe, die die Fabrik meist nicht als Ganzes erfassten. Diese spontanen, autonomen Kämpfe standen oft in direkter Konfrontation zu den Institutionen der Arbeiter*innenbewegung und ihrer nationalen Linie des wirtschaftlichen Aufschwungs und des italienischen Weges zum Sozialismus . Die 1955 stattfindenden Wahlen zur commissione interna (vergleichbar mit Betriebsratswahlen) wurden zu einer historischen Niederlage der kommunistischen Gewerkschaft Fiom, die ihre absolute Mehrheit verlor und auf 36 Prozent einbrach. Ab Mitte der 1950er Jahre schien das Zeitalter der Massenavantgarden endgültig der Vergangenheit anzugehören. Fiat galt als befriedet. Im Frühjahr 1962 schließlich begann der Streik um die Erneuerung der Arbeitsverträge der Metallarbeiter*innen. Bereits im Februar 1962 hatte die Turiner Fiom versucht, einen Streik für Gesamt-Fiat auszurufen. Der Versuch missglückte. In den ersten Streiktagen nahmen die Fiat-Arbeiter*innen an diesen Kämpfen nicht teil. Anfang Juli unterschrieb die katholische Gewerkschaft Uil ein separates Abkommen mit der Fiat-Leitung, woraufhin die Uil-Zentrale an der Piazza Statuto in Turin durch Fiat-Arbeiter*innen besetzt wurde. Es folgten drei Tage schwerer Zusammenstöße mit der Polizei. Am Ende dieser Eskalation stand die Mobilisierung von 60 000 Fiat-Arbeiter*innen.
Alquati und die «Neuen Kräfte»
Eineinhalb Jahre vor den Ereignissen auf der Piazza Statuto, zwischen Ende 1960 und Anfang 1961, hatte Romano Alquati, Mitbegründer der Quaderni Rossi (QR)2, etwa zwanzig Tage lang vor allem sozialistische und kommunistische Fiom-Mitglieder der commissione interna interviewt. Er wollte so Arbeitsvorschläge und -hypothesen gewinnen, die dem Fernziel dienen sollten, der klassenkämpferischen Energie und der Konfliktfähigkeit vergangener Tage nachzuspüren und sie wieder herzustellen.
Dieser erste provisorische Untersuchungsansatz steht einem sehr weit gefassten Zielhorizont gegenüber: Der «Umwandlung der objektiven Kräfte in subjektive, politisch bewusste Kräfte in einer Perspektive der Überwindung des bestehenden Systems» (Alquati 1974). Die Schwierigkeiten dem Anspruch der Mit-Untersuchung in der Praxis gerecht zu werden, sah Alquati durchaus: «Die Mituntersuchung [war] entweder eine erst in der Zukunft realisierbare Forderung oder sie war eine mystifizierte und recht kurze Beziehung zwischen irgendwelchen Forschern und einzelnen Arbeitern!» (Alquati 1985). Alquatis Arbeit hat den Sprung von der punktuellen Arbeiter*innenuntersuchung zur Mit-Untersuchung nie geschafft.
Trotz ihres provisorischen Charakters waren Alquatis Ergebnisse von großer Bedeutung für die sich entwickelnde operaistische Strömung. Er stellte die Hypothese neuer Kräfte bei Fiat auf, die offen für den Klassenkampf seien, sich aber nicht mehr in gleicher Weise wie die frühere Facharbeiterschaft mit ihrer Tätigkeit identifizierten. Sie seien nicht mehr in der gleichen Weise in und durch die klassische Arbeiterbewegung sozialisiert und lehnten diese teilweise ab. Sie artikulierten sich auch politisch auf deutlich andere Weise. Später sollte auf dieser Grundlage von der «anderen» Arbeiter*innenbewegung gesprochen werden. Alquatis Ziel war es, eine Beziehung zu diesen neuen Avantgarden aufzubauen, blieb dabei aber auf halbem Weg stecken. Annäherungen an neue Modelle blieben noch einer traditionellen Parteiperspektive verhaftet.
Das Konzept der Klassenzusammensetzung
Das zweite wesentliche Ergebnis von Alquatis Untersuchung war das Konzept der Klassenzusammensetzung. Dieser operaistische Begriff war von zentraler Bedeutung für die Erneuerung des Marxismus in Italien und darüber hinaus. Ziel des Konzepts ist die Analyse der historisch-konkreten Ausformung der Arbeiter*innenklasse. Dabei sind zwei Komponenten zu unterscheiden: Erstens wird die arbeitsteilige Aufspaltung, Ausdifferenzierung und Parzellierung der kollektiven lebendigen Arbeit, die durch die kapitalistisch-technologische Entwicklung bestimmt wird auf den Begriff der technologischen Klassenzusammensetzung gebracht; zweitens wird die Realität der Arbeitskämpfe, also der subjektive Faktor der Klasse, ihre Kampfbereitschaft und das erreichte Niveau der Klassenkämpfe, unter dem Begriff der «politischen» Zusammensetzung der Arbeiterklasse gefasst.
Der Begriff der Neuzusammensetzung der Klasse basiert auf der Artikulation dieser beiden Momente: Die Einführung einer neuen Technologie kann es erforderlich machen (oder zumindest als effizient erscheinen lassen) den Produktionsprozess zu restrukturieren (Prozessinnovation). Dieser Neubestimmung des Prozesses entspricht dann eine Neuverteilung der lebendigen Arbeit auf seine Einzelteile. Dies macht andere, veränderte Qualifikationen der Arbeitskraft erforderlich, wodurch bisheriges Wissen im und vom Produktionsprozess entwertet wird.
Die Hypothese der Integration
In Anknüpfung und zugleich in einer Gegenbewegung zu Alquatis Ansatz ist die Untersuchung zu verstehen, die von den ebenfalls in den QR organisierten Autor*innen Dino De Palma, Vittorio Rieser und Edda Salvadori bei Fiat 1960/61 durchgeführt wurde. Anstoß für ihre Untersuchung war das Aufflammen landesweiter Kämpfe um die Tarifverträge 1959/60 und das gleichzeitige Ausbleiben derselben bei Fiat: Ausgangs- und Einstiegspunkt für die Untersuchung bildete die Tatsache, «dass die Fiat-Arbeiter an der Wiederaufnahme der Kämpfe (insbesondere an den Kämpfen um die Tarifverträge von 1959) nicht beteiligt waren. [...] Das wurde von uns nicht als eine ‹betriebsinterne› Angelegenheit betrachtet [...], sondern als ein Phänomen von brennender politischer Bedeutung, dem Allgemeingültigkeit zukam» (De Palma/Rieser/Salvadori 1972).
Während Alquatis provisorische Untersuchung die Hypothese von für den Klassenkampf offenen neuen Kräften aufstellte, stellen De Palma/Rieser/Salvadori genau die entgegengesetzte Arbeitshypothese an den Anfang ihrer Untersuchung: Die der gelungenen Integration der Arbeiter bei Fiat. Die Autor*innen wollten der Frage nachgehen, wieso es in einer Fabrik mit einer solchen Tradition der Massenavantgarden möglich war, dass die Arbeiter*innenschaft sich nicht mehr an den Kämpfen beteiligte.
Die Mit-Untersuchung und die Problematik der Soziologie
Die Differenzen zwischen diesen beiden Untersuchungsansätzen bestehen auch in ihrem Verhältnis zur Soziologie: Während der «soziologischen Flügel» innerhalb der QR, zu dem De Palma, Rieser und Salvadori gehörten, die Mit-Untersuchung in die Nähe der Soziologie rückte, zog Romano Alquati eine klare Grenze: Für ihn war die Mit-Untersuchung eine Methode der politischen Aktion an der Basis. Sie sollte gemeinsam mit den kämpfenden Subjekten nach Zielen und entsprechenden Formen des Klassenkampfs suchen und war strikt auf die Autonomie der Arbeiter*innenklasse ausgerichtet und ihr verpflichtet3.
Dieser Gegensatz wurde von Raniero Panzieri in seinem Aufsatz «Sozialistischer Gebrauch des Fragebogens» relativiert. In seiner Perspektive war die zentrale Frage nicht die des Verhältnisses der Untersuchung zur Soziologie, sondern die nach der «sozialistischen Anwendung». Während die Soziologie eine Perspektive der Konfliktbewältigung einnehme, gehe es bei einer «sozialistischen Anwendung» der Soziologie darum, einen Standpunkt zu beziehen, der Konflikte dahingehend betrachtete, wie aus ihnen eine Dynamik entwickelt werden kann, die die Konflikte in einen Antagonismus überführt. Panzieri zufolge brauchte es einen Perspektivwechsel hin zu einem «Arbeiterstandpunkt».
Auch Alquati selbst ließ später eine klare Grenzziehung zwischen Mit-Untersuchung und Soziologie hinter sich und führte statt dessen eine graduelle Differenz ein: Auf die wesentlich von ihm selbst durchgeführte Untersuchung bei Fiat 1960/61 bezogen, sprach er davon, dass es sich dabei um eine soziologische Untersuchung gehandelt habe, die er als Provisorium und Hilfsmoment bezeichnet. Er macht aber zugleich die Differenz zum «soziologischen Flügel» der QR deutlich, für den sie genau das Gegenteil war: «die politische Beziehung zum kollektiven Arbeiter und zu seiner anstehenden autonomen Organisierung war ein Mittel, um die soziologische Untersuchung zu realisieren» (Alquati 1985). Die Mit-Untersuchung bezeichnet Alquati in diesem Kontext als ein weit entferntes Ziel: In ihr sollte die Arbeiterklasse selbst das Subjekt der Untersuchung sein. In dieser Perspektive erscheint die Mit-Untersuchung als Fluchtpunkt, der nicht unmittelbar zu erreichen ist, weil das Feld, auf dem sie durchgeführt werden soll, noch nicht in entsprechender Weise strukturiert ist. Die soziologische Methode erlaubt hingegen, sich dem Feld zu nähern, es zu erkunden: «Solange man außerhalb stand, hatte die (französische, englische und amerikanische) Industriesoziologie einige Hypothesen anzubieten».
Alquati ging davon aus, dass versucht werden müsse, über die Diskussion der Ausrichtung und des Inhalts der Untersuchung möglichst viele Mit-Untersuchungsgruppen zu konstituieren, also durch einen bewussten Aushandlungsprozess der Inhalte der Untersuchung und durch die Erarbeitung der Themen mit und durch alle Beteiligten, eine größtmögliche Untersuchungsgruppen-Basis zu schaffen. Diesen Prozess verstand er als Organisierungsansatz. Dagegen bestand der soziologische Flügel darauf, dass das Konzept der Untersuchung sich nicht aus der «Summe der Kontakte mit den Arbeitern ergeben» könne. Die Untersuchung müsse «ganz entschieden von uns gelenkt werden» (De Palma/Rieser/Salvadori 1972).
Schlussfolgerung
In gewisser Weise haben wir es bei der Militanten Untersuchung mit einer experimentellen Praxis zu tun, die die Unschärfe des Begriffs bedingt. Diese Unschärfe drückt sich unter anderem in den differenten Auffassungen ihres Verhältnisses zur Soziologie aus. Wenn sie anerkannt und in gewisser Weise auch als konstituiv betrachtet wird, kann sie allerdings dazu beitragen zu verstehen, wieso immer noch kontroverse Debatten darüber geführt werden, was denn eigentlich unter dem Begriff zu verstehen sei.4 Hinzu kommt, dass in der Literatur die Benutzung der Begiffe äußerst uneinheitlich ist. Wieso der Terminus «Arbeiteruntersuchung» gewählt wird und nicht «Mit-Untersuchung» oder vice versa wird in den historischen Texten kaum reflektiert.
Die folgende begriffliche Differenzierung entspricht nicht der historischen Überlieferung, scheint aber insofern sinnvoll, als sie erstens versucht, die Verwendung der unterschiedlichen Termini zu begründen und zweitens eine konzeptionelle Synthese der Auffassung Alquatis und des soziologischen Flügels der QR zu liefern. Die Unterscheidung ist keine sich gegenseitig ausschließende. Sie kann vielmehr auch als eine Stufenabfolge interpretiert werden.
Die Arbeiter*innenuntersuchung: Sie ist eine Untersuchung der Arbeiter*innen durch andere. Das Subjekt-Objekt-Verhältnis (Untersuchende und Untersuchte) bleibt bestehen. Die Mit-Untersuchung als Versuch zusammen mit einigen (wenigen) Arbeiter*innen, die Arbeiter*innen zu untersuchen. Auch sie bezeichnet ein von außen gesteuertes Vorgehen, das aber den Versuch macht, die verfestigte Subjekt-Objekt-Relation in Frage zu stellen.
Die (Arbeiter*innen-)Selbstuntersuchung als Untersuchung der Arbeiter*innen durch die Arbeiter*innen. Hierin ist das Subjekt-Objekt-Verhältnis tendenziell aufgehoben. Die Massen(selbst)untersuchung ist die massenhaft ausgeweitete Selbstuntersuchung der Arbeiter*innen durch die Arbeiter*innen. Sie ist als ein der Autonomie der Arbeiter*innenklasse verpflichteter Organisierungsansatz zu verstehen.