2015 gründete sich die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe aus Kulturarbeiter*innen, die gemeinsam feministische und selbstermächtigende Perspektiven auf Gesundheit entwickeln wollten. Es ist uns wichtig, unter Kulturarbeiter*innen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie oft wir eigene Bedürfnisse nach gegenseitiger Fürsorge, unsere eigene Care-Arbeit und unsere Gefühle unterdrücken und unsichtbar machen, anstatt sie miteinander zu teilen und ins Zentrum unserer Arbeit zu rücken. Dazu besuchen wir in wechselnden Konstellationen Initiativen in Berlin, die Alternativen im Gesundheitswesen aufgebaut haben. Unsere Recherchen fassen wir in Zines zusammen und bieten Workshops für Kulturarbeiter*innen an, in denen wir das, was wir gelernt haben, in praktischen Übungen an andere weitergeben.

«Während unserer ersten Besuche bei alternativen Gesundheitsangeboten in Berlin wurde uns klar, dass all jene Räume, von denen wir noch heute profitieren und lernen können, sich Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger Jahre in West-Berlin als Teil der Gesundheitsbewegung gegründet haben.»

Während unserer ersten Besuche bei alternativen Gesundheitsangeboten in Berlin wurde uns klar, dass all jene Räume, von denen wir noch heute profitieren und lernen können, sich Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger Jahre in West-Berlin als Teil der Gesundheitsbewegung gegründet haben. Wir wollten mehr erfahren und führten Interviews mit Protagonist*innen der Gesundheitsbewegung. Ein Gespräch führte zum nächsten. So entstand ein relativ dichtes Bild einer sozialen Bewegung, die die patriarchale, schulmedizinische und hierarchische Gesundheitsversorgung West-Deutschlands herausgefordert hat und ihr andere, selbstorganisierte, gleichberechtigte Modelle entgegensetzt.

Paradigmen von Leistungsfähigkeit und Gesundheit haben wir alle als persönliche Pflicht verinnerlicht. Die Gesundheitsversorgung hat sich radikal ökonomisiert. Im deutschen Gesundheitssystem erleben Menschen als Frauen*, PoC, Trans, Inter+ und Menschen mit Behinderung Diskriminierung. Wir verstehen die Gesundheitsbewegung als Ermutigung: Ihre Forderungen, Arbeitsmodelle, Methoden, Übungen, Handbücher und Beratungsangebote greifen wir heute als Möglichkeiten auf, um gemeinsam Gesundheitspolitik infrage zu stellen und andere, mögliche Organisationsformen einzufordern.

Genese der Gesundheitsbewegung in West-Berlin

Die Gesundheitsbewegung entstand Ende der 1970er Jahr in West-Berlin an der Schnittstelle zwischen der zweiten Welle der Frauen*bewegung und der Hausbesetzer*innenszene.

Über diese Zeit berichtet Barbara Bohl: «In der Reichenberger Straße gab es schon Ende der 70er Jahre ein Praxiskollektiv, das von Hubert Bacia gegründet worden war, der früher Arzt im Urban-Krankenhaus gewesen war. Der hatte meines Wissens damals auch Berufsverbot. Das Praxiskollektiv hat uns unterstützt, als wir hier das HeileHaus 1981 besetzt haben. Das war damals das 100. besetzte Haus in Kreuzberg. Ich kam aus der Frauenbewegung und habe mich für alternative Ansätze interessiert.»

Über den Gesundheitstag 1980 in Berlin, eine Gegenveranstaltung zum Ärztetag, erzählt Alf Trojan: «Es war ja, wenn man es so betrachten will, eine große Selbsthilfebewegung von Beschäftigten im Gesundheitswesen, die unzufrieden waren mit den Bedingungen ihrer Arbeit … Für die meisten ging es um den Diskurs und das gemeinsame Lernen, wie eine andere Arbeitsweise im Gesundheitswesen aussehen könnte. Deswegen waren auch viele selbstorganisierte Projekte anwesend und es sind in der Folge auch viele Projekte daraus hervorgegangen.» Organisiert wurden die Gesundheitstage in Berlin vom Berliner Gesundheitsladen. Gesundheitsläden gründeten sich in zahlreichen westdeutschen Städten als Anlaufstelle für Patient*innenselbstorganisation, Patient*innenselbsthilfe oder auch um, nach dem Modell der italienischen Arbeiter*innenmedizin, Strategien zu entwickeln, Gesundheitsprobleme am Arbeitsplatz anzugehen. Christoph Kranich: «Unser Gesundheitsladen – der Name war angelehnt an die Kinderläden, die leere Ladenlokale angemietet hatten – hatte gar kein Ladenlokal, in das man hineingehen konnte, um gesundheitliche Themen zu besprechen. […] Wir waren immer eine politische Gruppe, die irgendwo im Hinterzimmer tagte. Als Zusammenschluss von Gesundheitsarbeiter*innen waren wir immer für die Veränderung des Gesundheitssystems.»

Der Vorstand des Gesundheitsladens, berichtet eine weitere Zeitzeugin, Aja Lüchtrath, bestand damals vor allem aus «aktiven 68er*innen, die zum Teil wegen K-Gruppenzugehörigkeit aus dem Krankenhaus rausgeflogen sind, die durften nicht im Krankenhaus arbeiten. Sie wollten eben eine andere Medizin machen. Sie wollten die Hierarchie [im Gesundheitswesen] abschaffen.»

Die Gesundheitsbewegung als aktive soziale Bewegung

In der Gesundheitsbewegung greifen die strukturelle und die subjektive Ebene ineinander. Einerseits ging es der Bewegung um strukturelle Veränderungen im Gesundheitssektor. Praxiskollektive, Gesundheitsläden, Beratungsstellen, Telefondienste, ambulante Pflegedienste entstanden und setzten andere Vorstellungen des Gesundheitswesens in die Praxis um: etwa die der Zusammenarbeit zwischen mündigen Patient*innen und kritischen Mediziner*innen in gleichberechtigten und auf Mitbestimmung ausgerichteten Arbeitsmodellen. Andererseits entstanden innerhalb der Gesundheitsbewegung Aktionsformen, die sich mit verinnerlichter Unterdrückung beschäftigten und helfen sollten, diese etwa in Selbsthilfegruppen zu bearbeiten. Die Auseinandersetzung mit der sexistischen, patriarchalen Gesellschaftsordnung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft bedeutete vor allem für viele Frauen*, aus gesellschaftlich sanktionierten Rollenzwängen auszubrechen. Die Tabus, die auf der eigenen Sexualität, auf Begehren und dem Wunsch nach körperlicher, monetärer und reproduktiver Selbstbestimmung lasteten, wurden in feministischen Räumen, Bars, Buchläden, Gruppen und Projekten aufgebrochen.

Monika, eine Aktivistin von damals, erinnert sich: «Im 13. Mond haben wir eine Gruppenberatung gemacht. Viermal in der Woche, etwa Schwangerengruppe, Verhütung, Abtreibung. Wir Frauen*, die die Beratung gemacht haben, sind von unseren persönlichen Erfahrungen ausgegangen. Damit schaffst du natürlich eine Struktur, die relativ egalitär ist. In den Selbsthilfegruppen damals trafen wir uns so reihum, es herrschte eine große Offenheit.»

In den 70er Jahren kamen die meisten Anregungen aus dem US-amerikanischen Raum: Therapiebücher, alternative Abtreibungsmethoden und vaginale Selbstuntersuchung wurden im Austausch mit US-amerikanischen Feminist*innen erlernt und weitergegeben. Feministische Frauen*gesundheitszentren, Frauen*häuser, Selbsterfahrungsgruppen entstanden auch in vielen anderen westdeutschen Städten. Viele Publikationen dieser Zeit veröffentlichten auf den letzten Seiten Adresslisten und Kontaktdaten, um sich regional vernetzen zu können.

«In der Gesundheitsbewegung galt es, den internalisierten Zwängen einer postnationalsozialistischen und patriarchalen Gesellschaftsordnung auch in sich selbst entgegenzutreten.»

Veränderungsprozesse fanden neben der räumlichen, politischen und sozialen Ebene auch im eigenen Körper und im Umgang mit den eigenen Gefühlen statt. In der Gesundheitsbewegung galt es, den internalisierten Zwängen einer postnationalsozialistischen und patriarchalen Gesellschaftsordnung auch in sich selbst entgegenzutreten. Die Psychologin Gabriele Freytag war damals in Hamburg aktiv und berichtet: «Feministische Therapie konnten wir von niemandem lernen. Wir waren ja die ersten – die erste Generation feministischer Therapeutinnen. Wir haben mit dem Buch ‹Getting Clear› von Anne Kent Rush gearbeitet. Wir haben miteinander über unsere Körper, unsere Psyche, unsere Sexualität gesprochen.»

An der Schnittstelle zur Gesundheitsbewegung wehrte sich die ‹Krüppelbewegung› gegen die Menschen mit Behinderung gesellschaftlich zugewiesene Rolle von Machtlosigkeit und Abhängigkeit und entwickelte widerständige Perspektiven und Forderungen. Die Gesundheitsbewegung ist auch der erste Moment in der westdeutschen, postnationalsozialistischen Gesellschaft, in dem die Kontinuitäten medizinischer Verbrechen des Nationalsozialismus öffentlich bearbeitet wurden, vor allem während des Gesundheitstages in Berlin 1980.

Auch wenn die Gesundheitsbewegung heute nicht als aktive soziale Bewegung erkennbar ist, wirkt sie in den fortbestehenden anti-psychiatrischen, alternativen, feministischen Gesundheitsräumen und -praxen nach und streute ihre Forderungen während der 1980er Jahre in die Realpolitik.

In unserer gemeinsamen Recherche zur Gesundheitsbewegung wollen wir heute als Feministische Recherchegruppe die Bewegung weder in erster Linie historisch und wissenschaftlich bearbeiten, noch sie als Künstler*innen vor allem ästhetisieren. Es geht uns darum, Wissen der Bewegung wieder breiter zu streuen, wieder öffentlicher und zugänglicher zu machen, sodass wir von den damals entwickelten Modellen lernen können, ihre Angebote heute wieder aktiver und selbstverständlicher nutzen und ihre Methoden weiterführen können. Unser Wunsch ist, das emanzipatorische Wissen, das in antipsychiatrischen Initiativen, in Radikaler Therapie, in feministischen Beratungsstellen fortwirkt, gesellschaftlich zu teilen und uns dieses Wissens als wertvoller Ressource bewusst zu werden. Dazu wünschen wir uns intergenerationellen Austausch und Wertschätzung gegenüber den Modellen der Gesundheitsbewegung, die wir heute noch in Berlin finden und nutzen können.