Bevölkerungspolitik wird oft als Begriff der Vergangenheit verbucht – als würde es keine Politik mehr geben, die darauf Einfluss nehmen will, wie die Gesellschaft zusammengesetzt ist. Doch auch heutzutage werden politische Strategien in Deutschland verfolgt, die genau dies unter dem Titel der Demografiepolitik tun. Seit Beginn der 2000er Jahre wird es im politischen Diskurs vermehrt zum Problem gemacht, dass es mehr alte Menschen gibt als neue geboren werden, also eine Alterung und Schrumpfung der Gesellschaft stattfindet. Dieser sogenannte demografische Wandel wird als Argument dafür genutzt, die Steigerung der nationalen Geburtenrate als politisches Ziel zu setzen. Dies wird selten so benannt; stattdessen reden Politiker*innen vom «Erfüllen von Kinderwünschen».

Obwohl verschiedene Politikfelder in die Umsetzung dieses Ziels einbezogen werden, findet sie ihren Hauptausdruck in der Familienpolitik. Frauen* werden dazu angehalten «ihren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten» und möglichst früh Kinder zu bekommen. Dafür wurden verschiedene Maßnahmen und Anreize geschaffen, wie beispielsweise der Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren oder das Elterngeld, welches 2007 als einkommensabhängige Leistung eingeführt wurde. Durch das Elterngeld bekommt das betreuende Elternteil im ersten Jahr nach der Geburt des Kindes 65 Prozent des vorherigen Einkommens ausgezahlt. Unter dem Motto der Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll es das fehlende Einkommen ausgleichen und den frühen Wiedereinstieg von Frauen* in den Beruf fördern.

«Vor allem am Beispiel des Eltern­geldes wird bei näherer Betrachtung jedoch schnell deutlich, dass es von der Politik nicht vorgesehen ist, alle Kinderwünsche gleichermaßen zu erfüllen. »

Strukturelle Diskriminierung

Vor allem am Beispiel des Elterngeldes wird bei näherer Betrachtung jedoch schnell deutlich, dass es von der Politik nicht vorgesehen ist, alle Kinderwünsche gleichermaßen zu erfüllen. Vom Elterngeld profitiert nämlich nur, wer von 65 Prozent des Einkommens leben kann, wer einen unbefristeten Job und gültige Aufenthaltspapiere hat. Der Fokus der Familienpolitik liegt also hauptsächlich darauf, das Kinderkriegen von weißen gutsituierten Frauen* zu fördern, während prekarisierte und rassifizierte Frauen* eher mit Politiken konfrontiert sind, die es ihnen schwer machen, Kinderwünsche zu realisieren. Das hängt auch damit zusammen, dass Kindern, die in privilegierte Familien hineingeboren werden, zugeschrieben wird, tendenziell leistungsfähiger zu sein und verschiedene, für die Gesellschaft wichtige Fähigkeiten zu besitzen. Im Gegensatz dazu wird dies Kindern aus ärmeren und/oder migrantischen Familien abgeschrieben. Der staatlichen Logik nach ist es deshalb vielversprechender, das Kinderkriegen von privilegierten Frauen* zu fördern.

Diese strukturelle Diskriminierung drückt sich auch darin aus, dass Hartz IV-Empfänger*innen de facto vom Elterngeld ausgeschlossen sind, weil es auf die Sozialleistung angerechnet wird. Somit sind Kinder von Hartz IV-Empfänger*innen staatlich nicht erwünscht: «In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder. Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen (…). Wir brauchen mehr Kinder von Frauen mit Hochschulabschluss als von jenen mit Hauptschulabschluss» (Daniel Bahr, FDP, vor der Einführung vom Elterngeld). Es findet also eine aktive und gestaltende Einflussnahme auf die Zusammensetzung der Gesellschaft im Namen des nationalen Interesses statt. Diese hat starke Auswirkungen darauf, wer sich tatsächlich frei für oder gegen ein Leben mit Kindern entscheidet.

In der Gesundheitsversorgung werden bevölkerungspolitische Tendenzen unter anderem auch deutlich, wenn es um reproduktive Gesundheit geht: Wer hat welchen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung? Wie sieht die Behandlung aus? Wer kann welche Wege nutzen, um Kinderwünsche zu erfüllen?

Reproduktive Gesundheit umfasst nicht nur die Geburt an sich, sondern auch das Schwangerwerden, die Schwangerschaft und die Folgen dieser. Auch das Sich-Dagegen-Entscheiden spielt im Zusammenhang mit sicheren Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütungsmitteln eine wichtige Rolle. Wir wollen mit einigen Beispielen aufzeigen, inwiefern Menschen reproduktive Gesundheit durch unzureichende Versorgung, fehlende Informationen und Diskriminierungserfahrungen verwehrt bleibt und sie stattdessen Gewalt erfahren müssen.

Gewalt und Privilegien

Schon bei der Geburt im Kreißsaal kommt es anstatt zu einem der schönsten Ereignisse im Leben zu Gewalt: Personen müssen mit dem Gebären warten, weil alles belegt ist. Sie werden im Kreißsaal allein gelassen, weil es zu wenige Hebammen gibt. Ihnen werden Wehen fördernde Medikamente gegeben, um die Geburt zu beschleunigen, weil es an Personal und Räumen mangelt. Fehlende Informationen sind ein allgegenwärtiges Problem: Überall gibt es Werbekampagnen, die darauf aufmerksam machen wollen, dass man sich auf sexuell übertragbare Krankheiten testen lassen bzw. Verhütungsmittel nutzen soll. Aber nirgendwo steht, wo ein Test kostenlos möglich ist oder wo kostenlose Verhütungsmittel zur Verfügung gestellt werden.

«Nicht nur der Zugang zu Informationen wird erschwert, sondern es werden auch Informationen vorenthalten oder schlichtweg falsch weitergegeben. Geflüchtete Frauen* berichten davon, dass bei ihnen falsch diagnostiziert wurde, sie hätten ein Myom oder eine Zyste, obwohl sie eigentlich schwanger waren.»

Nicht nur der Zugang zu Informationen wird erschwert, sondern es werden auch Informationen vorenthalten oder schlichtweg falsch weitergegeben. Geflüchtete Frauen* berichten davon, dass bei ihnen falsch diagnostiziert wurde, sie hätten ein Myom oder eine Zyste, obwohl sie eigentlich schwanger waren. Das vom medizinischen Personal empfohlene Entfernen der vermeintlichen Zyste oder des vermeintlichen Myoms wird somit zu einer Abtreibung ohne Einverständnis der schwangeren Person, also zu einer Zwangsabtreibung. Eine zweite Meinung zu Diagnosen einzuholen ist geradezu unmöglich für geflüchtete Frauen*. Der Zugang zu Ärzt*innen ist an sich schon schwierig genug. Solche Erlebnisse können zu psychischen Problemen und im schlimmsten Fall zu Traumata führen bzw. schon vorhandene verstärken.

Diese Aufzählung an Gewalterfahrungen könnte noch viel länger werden. Deutlich wird jedoch auch so: Für reproduktive Gesundheit ist nicht gesorgt. Diese fehlende Gesundheitsversorgung zeigt Leerstellen in der deutschen Gesundheitspolitik auf. Zudem wird die Verknüpfung mit demografiestrategischen Interessen deutlich. Denn auch wenn einige der genannten Probleme fast alle gebärenden Menschen erleben, sind prekarisierte und rassifizierte Personen in besonderem Maße davon betroffen: Wer es sich nicht leisten kann, hat keinen barrierefreien Zugang zu ärztlicher Versorgung und sicheren Verhütungsmitteln. Wer keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hat, wird des Rechts auf gesundheitliche Unversehrtheit und körperliche Selbstbestimmung beraubt. Anstatt diskriminierungsfreie und allumfassende reproduktive Gesundheitsversorgung für alle zu schaffen, wird vor allem dafür gesorgt, dass weiße, akademische Frauen* Kinder kriegen (können).

Marginalisierte ins Zentrum

Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit (reproductive justice) ermöglicht es, auf genau diese marginalisierten Perspektiven zu fokussieren. Es verbindet reproduktive Rechte mit sozialer Gerechtigkeit und thematisiert somit Zugänglichkeiten und Ungerechtigkeiten im Bereich des Kinderbekommens bzw. des Lebens mit oder ohne Kindern. Reproduktive Gerechtigkeit wurde 1994 von Schwarzen Feministinnen* in den USA erarbeitet und setzt die Erfahrungen marginalisierter Frauen* ins Zentrum der Analyse und politischen Praxis. So lassen sich sowohl Mechanismen der Bevölkerungskontrolle durch Anreize zur Nutzung von Verhütungsmitteln oder Zwangsabtreibungen als auch die fehlende Bereitstellung von grundlegenden gesundheitlichen Leistungen im Kontext von Reproduktion thematisieren. Denn es geht um viel mehr als nur um Abtreibungsrechte.

Eine Folge davon, dass das Kinderbekommen von weißen gutsituierten Frauen* gefördert wird, ist, dass ihr Aktivismus sich auf das Recht auf Abtreibung beschränkt und andere Kämpfe ausgeblendet werden. Reproduktive Gerechtigkeit vereint hingegen die Forderung nach sicheren Wegen, ohne Kinder zu leben mit der Forderung, sich für eine Schwangerschaft entscheiden und Kinder in einer sicheren und gesunden Umgebung aufziehen zu können. Damit werden die Lebensrealitäten und Kämpfe von Frauen* aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen zusammengedacht und eine breitere feministische Bewegung für reproduktive Freiheit wird vorstellbar. In der feministischen politischen Praxis braucht es einen Ansatz wie diesen, der es uns ermöglicht, so über Reproduktion zu reden, dass wir bevölkerungspolitische Effekte darauf, wer sich wann und wie für oder gegen ein Kind entscheiden kann, thematisieren und kritisieren können. Es braucht einen Ansatz, der verschiedene Lebensrealitäten und Gewalterfahrungen anerkennt und einbezieht.

Wenn wir es mit diesen Forderungen und Zielen ernst meinen, müssen wir Kämpfe um allumfassende Gesundheitsversorgung genauso auf unsere Tagesordnung setzen wie das Recht auf Abtreibung. Wir müssen eine antikapitalistische, feministische und antirassistische Antwort auf diese Politik in unserer politischen Praxis formulieren. In der weltweit erstarkenden Bewegung zum feministischen Streik versuchen wir genau das: Wir kämpfen gegen globale Ausbeutung und Gewaltverhältnisse, die uns in unseren jeweiligen Lebensrealitäten unterschiedlich betreffen. Anstatt auf ein Thema zu fokussieren, muss es uns in unseren Kämpfen für reproduktive Gerechtigkeit um alle Bereiche gehen, in denen sie Menschen abgesprochen wird.