«Es ist ja jedem irgendwie klar, dass mit den Menschen was nicht stimmt. Es ist nur nicht so genau klar, was.»
Rust Cohle in der HBO-Serie ‹True Detective›
Doppelleben
Einige Beispiele aus dem letzten Monat. Ich bin im neuen Haus einer Freundin. Sie zeigt mir im oberen Stockwerk ein Zimmer, darin Vitrinen, darin Schuhe, so viele wie Sterne am Himmel. Die Traurigkeit überfällt mich hinterrücks wie ein violetter Schatten, es schnürt mir die Kehle zu, ich bringe kein Wort heraus. Ich sitze am Rechner und arbeite, ein Doppelleben, das in der Kindheit begann. Ich liege im Bett und lese den Kerkhoven-Roman von Jakob Wassermann, der sich, anders als seine Protagonisten, von seiner chronischen Abhängigkeit nicht befreien konnte. Traurigkeit über meinen Mut, mich der Familie Weihnachten endlich zu offenbaren, Traurigkeit, als mein Bruder mich nach der Feier befremdet und fürsorglich nach Hause fährt, Traurigkeit, als ich meinen Freund betrachte, der bei mir geblieben ist, obwohl ich ihn so sehr verletzt habe mit meinen Affären. Serial Sadness, neuerdings scheint mir alles und jedes das Herz zu brechen. Was stimmt nicht mit mir? Ich muss genauer werden.
Rust: Wann hat das zwanghafte Verhalten begonnen? Ich: Keine Ahnung, mit sechs oder sieben. Die Kleiderbügel in meinem Schrank mussten exakt den gleichen Abstand haben. Ich bekam einen Wutanfall, wenn meine Mutter die gewaschenen Sachen einfach dazwischen hängte und meine Ordnung zerstörte. Rust: Was brachte dich 30 Jahre später in die Gruppe? Ich: Tiefpunkt. Völliger Absturz durch eine meiner Affären. Ich wollte diesem besonderen Mann unbedingt gefallen. Am Ende hasste ich uns beide und starb. Rust: Was brachte dich in die Gruppe? Ich: Ich dachte mir: Nie wieder, ich möchte nie wieder auf die Art sterben müssen. Ich hörte die anderen, wie sie von ihren Abhängigkeiten berichteten und von den Werkzeugen der Genesung. Seit sieben Jahren bin ich nun weitgehend trocken von meiner Romanzensucht, den heillosen Versuchen, durch besondere Erfolge meinen Wert zu steigern. Mein Ehrgeiz hat mich durch Jahrzehnte gebracht. Jetzt muss ich mich selbst durchbringen.
Ziellosigkeit
Erstes Ergebnis der Ermittlungen: Keine Chance, dass Medikamente mir helfen. Ich bin nicht depressiv, ich bin traurig. Die Traurigkeit ist eine direkte Folge meiner Nüchternheit. Ich fühle mich hilflos, ausgeliefert. Ohne die Sucht steht nichts mehr zwischen mir und der Welt, den Menschen, mir selbst. Die Ziellosigkeit ist eine direkte Folge meiner Nüchternheit. Die Sucht hatte mir Ziele gegeben:
Erobere, um nicht zu fühlen. Arbeite, um nicht zu fühlen. So wurde es vererbt von Generation zu Generation zu Generation.
«Ohne die Sucht steht nichts mehr zwischen mir und der Welt, den Menschen, mir selbst. Die Ziellosigkeit ist eine direkte Folge meiner Nüchternheit.»
Ich beobachte mich bei ungewohntem Verhalten. Als mein Freund um vier Uhr nachts für eine Tournee aufsteht, mache ich ihm Kaffee, weil er in aller Herrgottsfrühe in die Kälte raus muss. Als er fort ist, sitze ich noch eine Weile an meinem Küchentisch. Holzplatte, Stahlbeine, der Aufkleber mit dem Markennamen. Wird das aus dem Wettbewerb Geborene seine Einsamkeit je wieder los? Anderntags gestehe ich der Freundin, dass ich mich in ihrem neuen, schicken Haus so verloren fühle wie auf dem Mond. Sie ist tief verletzt. Ich wollte nicht verletzen, ich wollte bloß Sonne, Wahrheit, weniger Einsamkeit.
Eine TV-Reportage über die Opioidkrise in den USA. Huntington, West Virginia, taumelnde Gestalten auf den Straßen, Chaos, teils drei Generationen von Süchtigen in einer einzigen Familie, Massenprozess gegen die Pharmaindustrie, 500 Milliarden US-Dollar jährlicher Schaden (externe Kosten), eine Schätzung, die bei weitem zu niedrig ist, die das reinste Chaos ist, ich schließe die Augen, stürze ins Bodenlose. Als ich die Augen wieder öffne: keine Traurigkeit mehr, gar nichts mehr. Offenbar habe ich zwei Wochen die Wohnung nicht verlassen und nichts anderes getan, als mir aus Holz perfekte Verstausysteme für meine Sachen zu bauen und eine Crimeserie nach der andern zu schauen. Manhunt, Cracker, The Blacklist, The Mentalist, Bones – forensische Analysen, Ermittlungsarbeit und Verhaftungen wirkten offenbar allzu beruhigend auf mich. Ich schaue mich um. Alles hat sich verändert. Meine Wohnung ist jetzt kein Zuhause mehr, sondern ein privater Park von Recht und Ordnung.
Forensische Analyse der letzten zwei Wochen: Es war ein schwerer Rückfall in Romanzensucht, ausgelöst durch trostlose Reportagen und den Verlust der Freundin (starke Trigger), eine Romanze mit dem Besitz, ein heillos privater Versuch, mir heile Welt zu beschaffen, indem ich mich ganz meinen Dingen widmete, sie minimalisierte, streichelte, sortierte. Entscheidendes Ermittlungsergebnis und Genesungswerkzeug: Prüfe stets deine Motive. Handelst du so, weil es sinnvoll ist und dir Freude macht oder weil du vor aller Welt als intakter, rechtschaffener Mensch dastehen willst?
Licht gegen Dunkelheit. «Vielleicht sollten Sie Medikamente in Betracht ziehen», sagt die Ärztin. «All die stofflichen und nichtstofflichen Süchte», sage ich, «und die Zwänge, Wahrnehmungsstörungen, Dysmorphophobien, Angststörungen, Schlafstörungen, Belastungsstörungen, Depressionen, chronischen Schmerzen, manischen Monologe, die Sammelwut, Zerstörungswut, Wut, es ist eine Epidemie, oder kennen Sie irgendwen, der halbwegs gesund ist? Sind Sie es vielleicht?» Man kann sehen, dass sie es nicht ist, sagt Rust, so ist es immer, du schaust ihnen in die Augen und da steht die ganze Geschichte.
Coabhängigkeit
Ich schloss meine Augen und sah den König in Gelb, wie er durch den Wald ging. Die Kinder des Königs waren gezeichnet, sie wurden zu seinen Engeln. Sie trugen die Werkzeuge des Königs, des Kultes, die atomistischen Imperative: Handle so, dass du dich steigerst im Vergleich zu deinen Nachbarn und zu gestern. Meide deine Nachbarn und dein Gestern. Ignoriere jede Verbindung und diene der Askese, der Einsamkeit. Greife zu einer Wahrheit und Nähe, die mit Wahrheit und Nähe nichts zu tun hat. Lege dir Krankheiten zu, verkaufe sie weiter und verkaufe die Medizin. Meine Schätzung: Mit der Summe, die sich ergeben würde, wenn man alle externen Kosten der Zerstörung und Selbstzerstörung einrechnen würde, die unsere Form der Ökonomie hervorbringt, wäre bewiesen, dass es sich bei unserer Form der Ökonomie gar nicht um eine Ökonomie handelt. Ich: Es ist klar, was mit uns Menschen nicht stimmt. Es ist der Gehorsam. Dem König, den Dingen gegenüber. Wir haben uns allzu sehr mit ihnen eingelassen. Die Coabhängigkeit ist wahrlich die Königin aller Krankheiten. Rust: Das hier ist eine Welt, in der rein gar nichts gelöst wird. Ich: Das bezweifle ich.
«Wenn man alle externen Kosten der Zerstörung und Selbstzerstörung einrechnen würde, die unsere Form der Ökonomie hervorbringt, wäre bewiesen, dass es sich bei unserer Form der Ökonomie gar nicht um eine Ökonomie handelt.»
Werkzeuge der Genesung, systemische Imperative. Handle stets so, dass du die Möglichkeiten guter Entscheidungen und Handlungen für dich und alle anderen erweiterst. Aufrichtiger werden. Genauer, konkreter, anschaulicher werden. Vom Gehorsam lösen. Sich weigern. Lob für Besitz und Leistungen verweigern. Tapferkeit vor dem Freund. Den Leidensdruck erhöhen. Mehr Erschrecken, mehr Traurigkeit. Mehr. Noch mehr. Das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen (Marx). Tapferkeit vor dir selbst. Widerstand, der das eigene Verhalten unangetastet lässt, ist kein Widerstand.
Meine Sponsorin aus der Suchtgruppe erzählt mir von ihrem zwölfjährigen Neffen, der in großer Runde am Familientisch tapfer zu seiner Mutter sagte: «Ich möchte das nicht, dass du und Oma euch immer über angeblich dumme Menschen lustig macht.» Der Neffe nannte mehrere Beispiele für dieses Verhalten, die er sich vorher sorgfältig zurechtgelegt hatte. Wie gut ich das kenne. So wie der Neffe habe auch ich versucht, sie durch das Vorlegen von Beweismaterial zu überführen: Gesteht endlich, gebt es zu, es ist Unrecht. Denn es ist weniger das Verhalten selbst, was alles so bodenlos macht, es ist das Abstreiten, Verleugnen, Verharmlosen, Beschönigen, Verbiegen, Rechtfertigen dieses Verhaltens und dass man sich selbst zum Schweigen verurteilt. Und wenn man schon die eigene Familie kaum drankriegen kann, wie wahrscheinlich ist es dann, ganze Unternehmen, Industrien, Nationen, Kulte, Systeme, uns alle, jeden Einzelnen von uns dranzukriegen?
Rust: Das hier ist eine Welt, in der rein gar nichts gelöst wird. Scheiß drauf, Scheiß auf diese Welt. Ich: Scheiß auf dich, Rust, auf deine Angst vor der Traurigkeit, deine Flucht in soziale Anorexie, die du offenbar mit Autonomie verwechselt. Selbst das Dämmerlicht des Alkohols gibst du noch für Autonomie aus. Rust: Licht gegen Dunkelheit … Ich: Gib nicht auf, Rust, es gibt keinen guten Grund aufzugeben. Es gibt kein natürliches Bedürfnis, sich selbst und andere zu zerstören. Denn wenn es ein solches Bedürfnis gäbe, müssten wir uns nicht unter Drill und Drogen setzen, damit wir verletzen und töten, wir würden es von selbst und gerne tun. Zerstörung liegt nicht in unserer Natur. Und darum wird es unweigerlich besser werden, es wird heller werden und am Ende gewinnt das Licht.
Nachtrag. Ich habe die Ziellosigkeit überwunden. Es gilt, Werkzeuge der Genesung und des Widerstands zu sammeln und sie allen zur Verfügung zu stellen. Wer ein Werkzeug hat, kann es als PDF (gern mit kurzen Anwendungshinweisen/Fallbeispielen) mailen an: askitext@web.de