Worüber wir aber nicht in unserer Hausarztpraxis reden, sind unsere Wohnsituation und das Problem mit dem Schimmel. Worüber wir nicht sprechen, ist unsere Freundin, die leider nicht das Glück hat, den deutschen Pass zu besitzen, und sich hier nicht einfach einen Arzttermin machen kann. Wir reden beim Arzt, in der Klinik oder wo immer Gesundheit gerade verhandelt wird, nicht über unsere kollektive Angst vor der Zukunft oder die existierende Ungerechtigkeit. Wir schweigen über die Bedrohung durch den Klimawandel, über Ertrinkende im Mittelmeer und darüber, dass wir unseren Lebensstandard nur auf Kosten anderer aufrechterhalten können. Zu unserem bisherigen Gesundheitsverständnis gehört es nicht, die Angst, unseren Aufenthalt zu verlieren, oder die vor dem Verlust unserer Leistungsfähigkeit als krankmachend zu verstehen.

Gesundheit ist eine Sache der Gesellschaft. Dieser Gedanke klingt vielleicht erstmal seltsam, weil wir sehr früh lernen, dass Krankheiten etwas sind, was uns passiert, weil wir Pech haben oder uns «falsch verhalten». Aber es ist nicht allein Pech oder Eigenverschulden, was krank macht. Die Beweislage dafür, dass unsere Lebensverhältnisse darüber bestimmen, wie krank oder wie gesund wir sind und wie früh wir sterben, ist heute so gut, dass es kaum noch zu leugnen ist. In Deutschland leben die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung ca. 10 Jahre länger als die ärmsten zehn Prozent. Dies lässt sich niemals nur durch «ungesunde Ernährung, an der die Leute selbst schuld sind», erklären. Unsere Arbeit, unser Wohnort und unsere Umwelt, die Versorgung in unserer Stadt bestimmen in ihrem Zusammenwirken mit unseren Chancen, über unser Leben zu bestimmen, maßgeblich darüber, wie es uns geht.

Weltweit haben sich Gruppen zusammengefunden, die Gesundheit auf eine alternative, ganzheitliche Weise verstehen und den Kampf dafür in sogenannten Gesundheitszentren organisieren wollen. In Lateinamerika wurden während der 1960er Jahre untragbare Arbeitsbedingungen und ungleiche Machtverhältnisse und ihre Folgen für die Gesundheit angeprangert. Resultat aus der Kritik war unter anderem die Entstehung von Stadtteilgesundheitszentren. Die Organisation Médecine pour le peuple in Belgien, die unter anderem gesellschaftliche Transformation und hochwertige Versorgung für alle fordert, versorgt bereits einen großen Teil der belgischen Bevölkerung – auch die ohne belgischen Pass. In Hamburg bietet die Poliklinik im Stadtteil Veddel juristische und psychologische Beratung, hausärztliche Versorgung und politische Organisierung unter einem Dach. In Berlin, Dresden, Köln und Halle verfolgen Menschen einen parallelen Ansatz.

Soziale Determinanten von Gesundheit

Ein Ausgangspunkt für die Arbeit dieser Zentren ist die Berücksichtigung der sogenannten sozialen Determinanten von Gesundheit. Diese lassen sich in mehrere Kategorien wie Arbeit, Wohnen, Zugang zum Gesundheitssystem oder Diskriminierung zusammenfassen. Sie haben einen spürbaren und nachweislichen Einfluss auf unsere Gesundheit. Vier Beispiele dazu: Erstens: Forschung aus dem Bereich «Embodiment» zeigt, dass Angst vor Arbeitsplatzverlust sich in unsere Körper einschreibt. Zweitens: Menschen, die lange erwerbslos sind, sterben mit größerer Wahrscheinlichkeit überdurchschnittlich früh. Drittens: In Köln, wie auch anderswo, arbeiten genau dort die meisten Ärzt*innen, wo es den größten Wohlstand gibt. An Orten mit weniger Wohlstand sind die Menschen zwar häufiger und schwerer krank. Hier gibt es aber viel weniger Allgemeinmedizinpraxen, Fachärzt*innen und Apotheken, weil es weniger zu verdienen gibt. Viertens: Geflüchtete Personen müssen, um Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten, zum Teil erniedrigende Verfahren durchlaufen und bekommen manchmal nicht einmal die notwendigen Informationen. Dies wird seit Jahren von Gruppen wie Women in Exile & Friends kritisiert, aber verdrängt und als Teil rassistischer Politik in Kauf genommen.

Die sozialen Determinanten verweisen auf verschiedene Einfluss­faktoren, die nicht als einzelne Stellschrauben gedreht werden müssen, sondern zusammen betrachtet zu der Frage führen, welche Gruppen in dieser Gesellschaft welche Privilegien haben. Aber es sind nicht nur «die Armen», die leiden. Ungerechtigkeit, Leistungsdruck und Ohnmacht sind etwas, das wir alle spüren und das uns alle krank macht. Auch vom Klimawandel sind wir alle – wenn auch nicht gleichermaßen – betroffen und wir alle wissen, dass wir uns gerade in «gläserne Patient*innen» verwandeln. Diese Probleme lassen sich nicht durch Besuche beim Heilpraktiker oder bei der Psychotherapeutin lösen. Und das durchökonomisierte, auf Profitmaximierung ausgerichtete Gesundheitssystem schadet uns allen.

Krankenhaus statt Fabrik

Privatisierung, Ökonomisierung und Selbstoptimierung sind Säulen, auf die unser Gesundheitssystem aufbaut. Gesundheit ist zu einem der größten Wirtschaftszweige überhaupt geworden. Die Arbeitsbedingungen in diesem System sind vielerorts menschenverachtend, ebenso wie die Versorgung erkrankter Menschen unter stetigem Kostendruck. Die Fallpauschalen (DRGs) in Krankenhäusern führen zu massiven Fehlanreizen und einem Nebeneinander von Unter-, Fehl- und Überversorgung. Im ambulanten Sektor sind Ärzt*innen zu Kleinunternehmer*innen geworden. Die Initiative Krankenhaus statt Fabrik zeigt uns bereits mit ihrem Namen, was gerade falsch läuft.

«Privatisierung, Ökonomisierung und Selbstoptimierung sind Säulen, auf die unser Gesundheitssystem aufbaut.»

«Es ist ja nicht so schlecht wie anderswo» wird dann oft gesagt - wo immer dieses anderswo sein soll. Auf diese ‹Argumentation› lassen wir uns jedoch nicht ein, weil sie die falschen Fragen aufwirft. Verglichen mit den Mitteln, über die der deutsche Staat verfügt, ist die Lage im Gesundheitssystem prekär. Und dies wird breit kritisiert: Im Verein demokratischer Ärzt*innen und Ärzte, bei der IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) oder MEzis (Mein Essen zahl’ ich selbst – Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte) wird seit Jahren und Jahrzehnten stark gemacht, dass Gesundheit keine Ware ist. Junge Ärzt*innen und Studierende aus ganz Deutschland vernetzen sich seit einigen Jahren als kritische mediziner*innen und arbeiten in Krankenhaus, Uni und auf der Straße für eine neue Art, Gesundheit zu denken. Arbeitskämpfe von Seiten der Pflegenden nehmen in ganz Deutschland, von Berlin bis ins Saarland, zu. Bündnisse für mehr Personal in der Pflege vertreten lautstark ihre Forderungen nach guten Arbeitsbedingungen und einer menschlichen Pflege.

Im Bereich der Psychiatrie haben politische Bewegungen wie die Antipsychiatrie uns viel gelehrt. Ihre Kritik zielt darauf, dass es bei Psychotherapie häufig darum geht, «Menschen wieder fit fürs System zu machen». Wenn du nicht reinpasst, machst du Therapie. Ziel ist nicht Gesundheit, sondern Anpassung. Diese Erkenntnis lässt sich auf den gesamten medizinischen Bereich übertragen: ‹Kosteneffizient› ist es auch hier, gerade die Menschen wieder fit zu machen, die dann etwas zurückzahlen können.

Die bisherige Antwort auf ein gesundheitliches Problem ist individualisiert. Das heißt, jede*r Einzelne muss sich selbst darum kümmern. Wir sollen zu Therapeut*innen gehen und unsere Depression bearbeiten. Wir sollen mit dem Rauchen aufhören und uns gesünder ernähren. Gesellschaftlichen Wandel werden wir dadurch aber nicht erreichen. Uns kommt es so vor, als könnten wir so Verantwortung übernehmen und Dinge ändern. Doch was wir ändern, ist lediglich unser eigenes Verhalten und Erleben. Es sind nicht unsere Verhältnisse. Und damit wird unsichtbar gemacht, wo die Verantwortung und die Ursachen für Krankheiten liegen.

Kollektive Organisierung

Wir müssen die Art ändern, wie wir über Gesundheit nachdenken, und verstehen, dass eine kranke Person in einem kranken System nur schwer gesund werden kann. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, welche Bedingungen es braucht, damit wir uns gesund fühlen. Es braucht eine radikale Veränderung der Verhältnisse. Es braucht Orte, an denen Menschen sich mit anderen Menschen austauschen können, die die gleichen Probleme kennen. Menschen, die in Gruppen organisiert sind, in denen sie Druck auf die Strukturen ausüben können, die sie unterdrücken. Es braucht sozialen Zusammenhalt. Es braucht konkrete kollektiv formulierte Forderungen nach verkürzter Arbeitszeit und besseren Arbeitsbedingungen, guten Orten in unseren Stadtvierteln ohne Bau- und Fluglärm. Es braucht vernünftige Versorgungsstrukturen, die für alle erreichbar sind, und konkrete Maßnahmen gegen gesamtgesellschaftliche Bedrohungen wie den Klimawandel und es braucht Strukturen, in denen wir alle – egal wie leistungsstark, reich und deutsch – mitentscheiden können. Es braucht ein System, in dem Verantwortliche - und damit meinen wir dann auch unter anderem die kranke Person – Gesundheit ganzheitlich denken und unterschiedliche Ursachen in den Blick nehmen können. Sonst bleiben die Ursachen weiterhin im Nebel und die Menschen weiterhin krank. Wir müssen raus aus der Vereinzelung und aus der Ohnmacht.

Nachtrag: Dieser Artikel wurde vor der Zeit geschrieben, in der das Wort «Corona» Einzug in unsere alltägliche Sprache gefunden hat und bevor wir als Gruppe darüber nachgedacht haben, wie wir die aktuelle Krise interpretieren (ein Artikel dazu findet sich auf unserer Webseite). Wir haben uns aber entschieden, kaum etwas zu ändern, da wir finden: Corona verdeutlicht auf fast schon augenöffnende Weise, wie politisch das Thema Gesundheit ist. Und dies wird auch nach Corona weiter wichtig sein. Mehr als nie zuvor ist es an der Zeit, die Art zu ändern, wie wir über Gesundheit nachdenken. Das muss aber zunächst erst einmal im Kern verstanden werden, wozu wir mit unserem Artikel beitragen wollen.