Die Covid-19-Pandemie ist eine schwere und global auftretende gesundheitliche und gesellschaftliche Krise. Unkontrollierte Ausbrüche, ob in Wuhan, Norditalien, New York oder Madrid, führten zu einer massiven Überlastung der jeweiligen Gesundheitssysteme mit hoher Sterblichkeit. Weltweit haben staatliche Maßnahmen, die den physischen Kontakt zwischen Menschen einschränken, zu einer deutlichen Verlangsamung der Krankheitsausbreitung geführt. Gleichzeitig führt das Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens zu einer der schwersten sozioökonomischen Krisen der Neuzeit, deren globale Folgen noch unabsehbar sind, jedoch gerade für Menschen in prekären Verhältnissen weitreichend sein werden.

Wenn die Erfahrungen der vergangenen Monate mindestens eine gemeinsame globale Gewissheit hervorgebracht haben, dann diese: dass Pandemien kein allein medizinischer, sondern ein gesellschaftlicher und humanitärer Notfall sind.

Das Virus und die feinen Unterschiede

Wie in vorangegangenen Krisen des Kapitalismus leiden Menschen, die von schlechten Arbeits- und Wohnverhältnissen, Diskriminierung, finanziellen Sorgen etc. betroffen sind, besonders unter den ökonomischen Auswirkungen. Die bestehende soziale Ungleichheit verschärft sich weiter. Gleichzeitig können sich Menschen in prekären Wohn-, Arbeits- oder Lebensverhältnissen schlechter vor einer Infektion schützen.

«Diese Krise zeigt die bestehenden sozialen Ungleichheiten auf. ‹Wer ist privilegiert?› heißt ‹Wer kann sich schützen?›»

Diese Krise zeigt die bestehenden sozialen Ungleichheiten auf. «Wer ist privilegiert?» – heißt – «Wer kann sich schützen?» Die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflussen die Möglichkeiten, gesund zu leben und zu bleiben, maßgeblich. In der Frage von Gesundheit und Krankheit spielen die Intersektionen zwischen race, class, gender, ableism etc. eine entscheidende Rolle. Faktoren wie Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Möglichkeiten der Infrastruktur und Mobilität sowie Diskriminierungserfahrungen schaffen Zugänge oder Ausschlüsse im bestehenden Gesundheitssystem und beeinflussen den individuellen gesundheitlichen Zustand entscheidend. Daher sollte der Risikogruppen-Begriff, der im aktuellen Pandemie-Diskurs vor allem Ältere und chronisch Erkrankte umfasst, erweitert werden. Personengruppen, die auf engerem Raum leben oder arbeiten sind bei Infektionswellen akut gefährdet. Ausbrüche in Lagern, in denen geflüchtete Menschen in beengten Verhältnissen leben und gemeinsame Sanitäranlagen teilen müssen, gibt es vielerorts. Gerade in der aktuellen Notlage, aber auch generell ist eine dezentrale Unterbringung von Obdachlosen und Geflüchteten und die Einführung eines Bürger*innenstatus (wie in Portugal geschehen) unabdingbar.

Die Ausbrüche in Logistikzentren von DHL und Amazon sowie in den Fleischfabriken treffen prekarisierte und migrantisierte Beschäftigungsbereiche am schwersten.

Was paradox klingt macht Sinn in dieser neoliberalen Logik: Die Beschäftigten in den Bereichen, die nun als systemrelevant gelten, werden als Held*innen gefeiert. Gleichzeitig werden Arbeitsbedingungen wie beispielsweise in den Krankenhäusern verschärft und mitunter 12-Stunden-Schichten eingeführt.

Es ist aktuell die Debatte zu führen, welche gesellschaftlichen Bereiche in der Krise wirtschaftlich unterstützt werden. Erste Ansätze zeigen sich in den Forderungen einer Wirtschaftsförderung nach sozialökologischen Kriterien oder der Rekommunalisierung von gesellschaftlichen Gütern wie Wohnraum (Initiative «Deutsche Wohnen enteignen») und des Gesundheitswesens. Zudem gilt es, sich in den gesellschaftlichen Kämpfen und Debatten aufeinander zu beziehen, wie aktuell bereits gemeinsame Kampagnen der Klima- und Gesundheitsbewegung zeigen.

Stress und Angst essen Seele auf – psychische Gesundheit in der Pandemie

Es ist davon auszugehen, dass die Corona-Maßnahmen für psychisch erkrankte Menschen ein besonderes Risiko darstellen und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten und die Verschlimmerung von Krankheitssymptomen erhöhen: Es kommt zu Isolation und Vereinsamung, aber auch zu Ängsten um die eigene Gesundheit, Existenzsorgen sowie Stress durch Doppelbelastungen, zum Beispiel durch fehlende Kinderbetreuung. Symptome wie Depression, Angst, Panik, Zwänge, Suchtdruck, Schlaflosigkeit oder Aggressionen können dadurch getriggert und/oder verschlimmert werden. Ein weiterer Aspekt ist das erhöhte Risiko für die Ausbildung posttraumatischer Stresssymptome durch die Quarantänebedingungen. Von diesen psychischen Folgen sind Menschen mit einem niedrigeren ökonomischen Status und prekarisierten Arbeits- und Wohnverhältnissen schwerer betroffen. So zeigt sich eine Assoziation zwischen Einkommensverlusten, stärkeren depressiven Symptomen, einem höheren Risiko für Ängstlichkeit und Wut sowie für die Ausprägung von psychischen Störungen.

Stationär geplante Psychotherapien wurden größtenteils vorerst abgesagt und/oder verschoben, obwohl Menschen aufgrund der äußeren Umstände an verstärkten Symptomen litten. Dies kann zu schwereren und längeren Krankheitsverläufen führen.

Der rasante Anstieg der Anrufe bei der Telefonseelsorge ist ein Indikator für ein hohes emotionales Stresslevel in der aktuellen Situation bei gleichzeitigem Wegfallen ambulanter Angebote.

We do care!

Die ökonomischen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie bilden sich zudem vergeschlechtlicht aus und treffen Frauen* härter. Frauen* arbeiten häufiger als Männer* in Teilzeit, befristeter Arbeit oder irregulären Arbeitsverhältnissen. Zudem ist der Anteil von Frauen* in den schlechter bezahlten und «systemrelevanten» Berufen deutlich höher als der der Männer*. Sie sind daher durch eine potentielle Infektion und die ökonomischen Einschnitte der Epidemie mehr gefährdet. Laut Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017 sind 87% des Personals in Pflegediensten und 85% des Personals in Pflegeheimen Frauen*. Ähnlich sieht es in der Kindererziehung und -betreuung und weiteren Sorgearbeiten wie Pflege der Angehörigen aus: Unbezahlte Care-Arbeit wird weiterhin überwiegend von Frauen* geleistet.

Während der Krise kommt es zu einem sichtbaren Backlash der Geschlechterrollen: Während der Schließung der Kitas und Schulen wird die Betreuungsarbeit zuhause zum Großteil unentlohnt von den Müttern geleistet. Zumeist sind es strukturelle und wirtschaftliche Gründe, wenn Frauen* anstelle des Partners die Lohnarbeit in Krisenzeiten reduzieren. Besonders Alleinerziehende sind aktuell noch stärker mehrfach belastet.

Langfristig benötigt es eine Anerkennung und eine Reorganisation von Care-Arbeit sowohl in den privaten als auch in den beruflichen Sphären, sowie ein bedingungsloses Grundeinkommen. Kämpfe der Anerkennung müssen immer mit Kämpfen der Umverteilung verbunden werden und nachhaltige Verbesserungen müssen auch – während und nach der Krise – weiter erstritten werden.

Blaulicht an – aber Lichter aus jenseits vom Krankenhaus?

Die öffentliche Debatte um den Umgang mit der Pandemie fokussierte sich fast ausschließlich auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung sowie auf die Sicherstellung insbesondere der stationären Versorgung. Es ging einerseits um Fragen der individuellen Verhaltensprävention (Abstand halten, Masken tragen usw.), andererseits um zentrale politische Maßnahmen auf der Gesamtbevölkerungsebene (Schließung von Schulen, Freizeiteinrichtungen, Versammlungsverbote, Grenzschließungen etc.), um die Infektionsrate zu senken. Die Kapazitäten der Krankenhäuser und insbesondere der Intensivstationen standen hierbei als Antwort der Versorgungssicherheit im Fokus. Dabei wurde immer wieder die Perspektive der Beschäftigten im Gesundheitswesen laut. Es fehlt aber weiter aufgrund des eklatanten Fachkräftemangels an Personal, um die Intensivbetten bei einem deutlichen Anstieg von Erkrankungsfällen zu betreuen.

In der öffentlichen Debatte zeigt sich hier eine riesige Leerstelle, was die Rolle der ambulanten Versorgung und Strategien angeht, die gefährdete Bevölkerungsgruppen sowie besondere Bedarfe von Menschen in prekären Situationen berücksichtigen. Um diejenigen nicht allein zu lassen, die gesundheitlich und existentiell von der Pandemie am stärksten gefährdet sind, braucht es mehr als Intensivbetten, größere Vorräte an Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten. Es benötigt ergänzend Konzepte für lokale, setting-spezifische Strategien, die in Stadtteilen und spezifischen sozialen Zusammenhängen wirksam werden können um jede*r die Hilfe zukommen zu lassen, die sie*er braucht.

Das Virus stellt lokale Fragen

Es zeigte sich besonders zu Beginn der Corona-Pandemie ein Defizit an Information und es gab diverse Zugangshürden zu den herausgegebenen Informationen. Hier wären lokale, mehrsprachige und partizipative Aufklärungsoffensiven angesichts der Informationslücken nötig gewesen. Schnell haben sich Zusammenhänge in Nachbarschaften selbst organisiert und in mehrsprachigen bzw. nicht-deutschsprachigen Messengern zum Thema Corona Informationen gesammelt und verbreitet.

«Um auf die lokalen Situationen reagieren zu können, sind gesundheitliche Stadtteil- oder Kiezräte ideal, die neben Epidemiolog*innen, Logistiker*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Sozialwissenschaftler*innen etc. auch Sozialverbände, Wohlfahrtsorganisationen und nachbarschaftliche Strukturen wie z.B. solidarische Nachbarschaftsinitiativen miteinbeziehen.»

Um auf die lokalen Situationen reagieren zu können, sind gesundheitliche Stadtteil- oder Kiezräte ideal, die neben Epidemiolog*innen, Logistiker*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Sozialwissenschaftler*innen etc. auch Sozialverbände, Wohlfahrtsorganisationen und nachbarschaftliche Strukturen wie z.B. solidarische Nachbarschaftsinitiativen miteinbeziehen. Solches lokales Wissen ist nötig für effektive Präventions- und Aufklärungsstrategien.

Von Bergamo bis Kerala

Hier lohnt ein Blick über den Tellerrand auf aktuelle Erfahrungen während der Pandemie, aber auch auf bereits lange bestehende lokale Versorgungsstrukturen. Am 21. März 2020 veröffentlichten erschöpfte Gesundheitsarbeiter*innen aus Bergamo, einem der Corona-Epizentren, eine Reflexion auf die pandemische Katastrophe in der Lombardei. Ihr vernichtendes Urteil: Die dramatische Situation mit einer kollabierenden Krankenhausversorgung, Menschen, die aus Kapazitätsgründen nicht beatmet werden können, alleine und isoliert sterbenden Patienten und hohen Infektionsraten innerhalb der Krankenhäuser, könne jederzeit wieder und überall entstehen, so lange es keine Langzeitstrategien und eine lokal und regional angepasste Versorgung gibt. Um dem zu begegnen, benötigt es ein grundsätzliches gesundheitspolitisches Umdenken.

Wie können community-zentrierte ­Strategien in der Pandemie aussehen? Eines unter vielen Beispielen ist der südindische Bundesstaat Kerala. Hier wurden in einer vergleichsweise armen Region die Infektionszahlen erfolgreich sehr niedrig gehalten, niedriger als in wesentlich reicheren Ländern wie Taiwan. Dies ist zum Einen möglich durch ein lokal ausgerichtetes Versorgungsmodell mit einem guten Netz an Krankenhäusern und Covid-19-Versorgungszentren in jedem Bezirk. Daneben gibt es Dorfräte, die die Versorgung von Menschen in Quarantäne sicherstellen, Aufklärung betreiben und die Einhaltung des Lockdowns monitoren. Zudem gibt es, so Andrea Böhm auf Zeit.de, eine Vielzahl an Gesundheitsarbeiter*innen, die Infektionsketten nachverfolgen, und hunderte lokaler Hilfseinrichtungen für gestrandete Wanderarbeiter*innen.

Auch die Erfahrung aus Norditalien zeigt, dass community-zentrierte Versorgungsmodelle inklusive psychologischer und sozialer Versorgung essentiell wären, um den stationären Sektor zu entlasten.

Gesundheitsversorgung solidarisch gedacht

Die Realität jenseits der Kliniken ist jedoch eine andere. Aufgrund der Angst vor Ansteckung und damit verbundenen Absagen von planbaren Terminen war die Versorgungszahl der Patient*innen in den ambulanten Praxen in der Corona-Hochphase sehr gering. Es stellt sich angesichts der leeren Praxen die Frage: Was ist die Rolle der ambulanten Gesundheitsversorgung in einer solchen Pandemie? Aber auch unabhängig davon, wie kann eine ambulante solidarische Gesundheitsversorgung grundsätzlich aussehen?

In der bestehenden ambulanten Versorgung führen wirtschaftliche Anreize, genauso wie im stationären Bereich, zu Fehlentwicklungen, welche sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Ambulante Ärzt*innen sind hier gezwungen, konkurrierend als Unternehmer*innen am freien Markt zu agieren. So bedeuten beispielsweise der aktuelle Wegfall von Patient*innen-Zahlen für viele Praxen enorme wirtschaftliche Einbußen, die in der Folge vermutlich durch Sparmaßnahmen, Stellenreduktion oder vermehrtes Anbieten von optionalen Gesundheitsleistungen gegen Entgelt (sogenannte iGel-Leistungen) versucht werden auszugleichen. Anstelle einer profitorientierten Medizin benötigt es jedoch eine bedarfsgerechte Versorgung, die sich nicht nach erbrachten Leistungen und Patient*innen-Zahlen orientiert, sondern die Sicherung der Gesundheit für alle in den Mittelpunkt stellt.

Das Abbauen gesellschaftlicher Ungleichheiten beginnt bei einem gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle – unabhängig von Aufenthaltsstatus, Einkommen und Geschlecht. Dies bedeutet auch eine Abschaffung der Zweiklassenmedizin und eine Krankenversicherung für alle (beispielsweise als flächendeckender anonymisierter Krankenschein).

Ein gesellschaftspolitisches Verständnis von Gesundheit erfordert ein ambulantes Gesundheitssystem, das die gesellschaftlichen Umstände mit in den Blick nimmt und niedrigschwellige Zugänge und Übergänge für die Klient*innen zwischen medizinischen Bereichen und sozial­psychologischen Angeboten ermöglicht. Durch die Verankerung einer multi­professionellen und interdisziplinären Praxis wird eine ganzheitliche Perspektive auf Gesundheit möglich und der Fokus auf eine rein medizinische Versorgung im Gesundheitswesen abgebaut. Hierzu benötigt es weitergehend eine Enthierarchisierung zwischen den Professionen in der Gesundheitsarbeit.

«Einer Individualisierung und Medikalisierung von Gesundheit und Krankheit muss eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Verbesserung der gesundheitlichen Lebensverhältnisse entgegengesetzt werden.»

Einer Individualisierung und Medikalisierung von Gesundheit und Krankheit, wie sie aktuell weit verbreitet ist, muss eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Verbesserung der gesundheitlichen Lebensverhältnisse entgegengesetzt werden. Hierfür müssen strukturelle Hürden für interdisziplinäres Arbeiten herabgesetzt werden und Konzepte für eine bedarfsgerechte, ambulante Gesundheitsversorgung entstehen.

Im bestehenden ambulanten System ist eine solche Verbindung von primärmedizinischer Versorgung und psychosozialer Beratung sowie transformativer Gemeinwesenarbeit ein neuer und innovativer Ansatz. Es benötigt daher umfassende politische und rechtliche Weichenstellungen. Notwendig ist eine Regelfinanzierung ambulanter Stadtteilgesundheitszentren in und außerhalb von Pandemie-Situationen anhand der Maßgabe der Gemeinwohlorientierung und Multiprofessionalität.

Dementsprechend kompliziert ist es aktuell noch, unter einem Dach ein solches Projekt kollektiv zu verwirklichen. Dennoch sind in den letzten Jahren vielerorts Gruppen und Zusammenhänge entstanden, die erste Zentren gegründet haben und sich als Zusammenschluss im Polikliniksyndikat (siehe weitere Artikel in dieser arranca!) dafür einsetzen, dass eine alternative solidarische Gesundheitsversorgung Schritt für Schritt Wirklichkeit wird. Wir wollen nicht zurück zum Normalzustand!