Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es in der Bundesrepublik mehrere selbstorganisierte Radikale Therapie-Gruppen. Sie arbeiten ohne professionelle Therapeut*innen miteinander in einem therapeutischen Setting. Das Erlernen und die Weitergabe von RT erfolgt kostenlos im Rahmen selbstorganisierter Netzwerke. Personen, die RT machen wollen, benötigen keine pathologisierenden Diagnosen und nur geringe finanzielle Ressourcen. Als gesellschaftskritische und/oder therapeutische Wurzeln können die Radical Psychiatry (RP), Co-Counseling und die Transaktionsanalyse angesehen werden.
Gesellschaftskritische Wurzel
Die US-amerikanische Radical Psychiatry-Bewegung entstand in den 1970er Jahren zur Hochzeit gesellschaftlicher Kämpfe wie dem Civil Rights Movement, der Antikriegsbewegung und der LGBT- und Frauenbewegung. RP sagt der Psychiatrie als soziales Kontrollinstrument, welches seelisch verletzte Menschen lediglich entmündigt und verwahrt, den Kampf an.
Im Gegensatz zur hegemonialen Psychiatrie legt RP ihrer therapeutischen Praxis eine Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse zugrunde. Sie kritisiert beispielsweise Individualismus und Konkurrenzdenken im Kapitalismus und setzt auf Kooperation sowohl als politische Vision wie auch als grundlegende Struktur für die Therapiegruppen. Während RP für die Normalisierung und Destigmatisierung sogenannter psychischer Krankheiten kämpft, werden ‹Pathologien› wie Depressionen und Ängste erstmals auch als Symptome einer strukturellen Schieflage des sozialen Miteinanders verstanden. Ins Zentrum therapeutischer Bemühungen rückt damit der Einfluss unterdrückerischer Verhältnisse auf mentales und soziales Wohlbefinden.
Auf Grundlage ihrer Analyse organisiert das RP-Kollektiv Gruppentherapien (problem solving groups), um Machtverhältnisse in den Blick zu bekommen, Bewusstsein über verinnerlichte Unterdrückung zu ermöglichen und Isolation aufzubrechen. Dies kann Personen darin unterstützen, im emanzipatorischen Sinne aktionsfähig zu werden, sowie eine Veränderung im Denken und Fühlen bewirken.
RP geht in ihren problem solving groups von dem konkreten Anliegen der Personen im Hier und Jetzt aus. Die*der Einzelne soll in der Gruppe in ihrer*seiner Handlungsmacht gestärkt werden. Dabei werden zum Beispiel limitierende Normen und Annahmen (wie etwa die Kopplung von Leistung und Bedürfnisbefriedigung) benannt.
«Durch die Arbeit in der Gruppe kann gehört, gesehen und gefühlt werden, dass oft auf strukturelle Diskriminierung zurückzuführen ist, was bisher als individuelles Problem angesehen wurde.»
RP betrachtet solche Annahmen als eine Form verinnerlichter Unterdrückung: zum Beispiel Stereotype und Generalisierungen, die Leid produzieren, indem sie die Vielschichtigkeit der Realität verzerren sowie Handlungsmöglichkeiten derer unterdrücken, die in ihrem Fokus stehen. Durch die Arbeit in der Gruppe kann gehört, gesehen und gefühlt werden, dass oft auf strukturelle Diskriminierung zurückzuführen ist, was bisher als individuelles Problem angesehen wurde. Sind diese strukturellen Annahmen einmal freigelegt, kann das Handlungsrepertoire der beteiligten Personen erweitert werden. Nach RP kann jede*r Einzelne*r sein*ihr Verhalten, Denken und Fühlen modifizieren. Dies birgt Hoffnung in sich sowohl für persönliche als auch für gesellschaftliche Veränderung.
«Denn solange wir glauben, dass diese Makel nur in uns liegen, solange kommen wir nicht zusammen, um die Welt zu verändern und solange wir glauben, diese Makel seien die Verantwortung der Anderen, verändern wir nicht uns selbst, sodass wir unfähig bleiben uns effektiv zusammen zu schließen.»1
Politische Grundannahmen in der Praxis
Jede RT-Sitzung hat eine Grundstruktur aus unterschiedlichen Elementen, mit denen an Unterdrückungsmechanismen gearbeitet wird. Vieles davon ist nicht verhandelbar, um für die Anwesenden einen möglichst transparenten und sicheren therapeutischen Rahmen zu schaffen. Der Inhalt der therapeutischen Arbeit ist jeder Person selbst überlassen, einschließlich ihres Urteils darüber, was sie in ihrem Leben ändern möchte. Eine weitere Grundlage für therapeutische Prozesse bei RT ist das gemeinsame Eingehen eines kooperativen Gruppenvertrags und damit das Einüben einer kooperativen Haltung. Hierbei geht es darum, die Gleichheit von Rechten jeder Person zu gewährleisten, gleichberechtigte Beziehungen zu pflegen, eine Übereinkunft zu treffen, auf manipulative Machtspiele zu verzichten und Voraussetzungen für emotionalen Austausch zu schaffen.
«Der Inhalt der therapeutischen Arbeit ist jeder Person selbst überlassen, einschließlich ihres Urteils darüber, was sie in ihrem Leben ändern möchte.»
Wie unterstützt uns RT in unserer politischen Praxis?
Mix und Yasha: Nach unserem Verständnis kann schon das Praktizieren von RT politische Praxis sein. Wir üben dort Kooperation und bearbeiten verinnerlichte Unterdrückung. Gleichzeitig lernen wir einen wohlwollenden und wertschätzenden Blick auf uns.
Yasha: Ich habe gelernt, mein eigenes Erleben und Verhalten differenzierter zu betrachten. Zum Beispiel, wenn ich mich stark über das Verhalten einer anderen Person ärgere oder stark an Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, festhalte. Dann kann ich mich fragen, ob diese Gefühle der aktuellen Situation ‹gehören› oder ob da alte Verletzungen anspringen.
Mix: Ich übe bei RT, meinen Gefühlen Raum zu geben. Sie zu spüren, sie auszudrücken, ohne sie zuerst rational begreifen und rechtfertigen zu müssen. Bei RT habe ich einen Raum für unangenehme Gefühle. Dort fühle ich mich ermutigt, meine Wut, meinen Schmerz über Ungerechtigkeiten in der Welt, Frust in politischen Gruppen und meinen Ärger beispielsweise bezogen auf Sexismuserfahrungen herauszubrüllen. Ich habe etwa Rollenspiele verwendet, um nochmal das rauszulassen, was in der konkreten Situation (noch) nicht möglich war. Auch in den Körper hineinzuspüren und erst mal zu schauen, was der gerade braucht, übe ich bei RT.
All das ist sehr entlastend für mich. Da wir ein Einverständnis darüber haben, dass das alles da sein darf und es eine Schweigepflicht gibt, kann ich viele neue Umgangsstrategien angstfreier ausprobieren.
Yasha: Ich habe mehr Wissen und Ahnungen darüber, bei welchen meiner Ideen und Einstellungen sich verinnerlichte Unterdrückung zeigt. Oft taucht sie in Form von Ungeduld, Perfektionismus und Abwertung anderer Personen auf. Ich spüre früher, wenn sich diese Einstellungen gegen mich oder auch andere Personen wenden. Zum Beispiel, wenn ich hart zu mir oder zu anderen werde.
Mix: Ich bin häufig mit meiner Scham und verinnerlichten Unterdrückung konfrontiert. Die innere Stimme sagt dann: «Das war jetzt aber übertrieben». Manchmal greife ich dann auf das Tool ‹Anerkennung und Wiedererkennung› zurück. Ich bitte die Personen in der Gruppe, mir zu sagen, was sie an meiner Arbeit, an dem, wie ich mich gezeigt habe, toll finden oder was sie selbst kennen. Das bestärkt mich darin, dass ich nicht alleine bin, und dass einiges mit unterdrückenden Strukturen zusammenhängt, die viele erleben müssen.
Yasha: Meine politische Praxis findet ja eher Backstage statt. Ich begleite Gruppen in ihren Prozessen. Bei RT konnte ich immer wieder die Haltung einüben, dass jede Person für sich weiß, was sie braucht und wie sie es braucht. Diese Haltung einnehmen zu können, unterstützt mich sehr in meiner begleitenden Praxis.
Mix: Bei RT übe ich, weniger retten zu wollen und nicht direkt aufzuspringen – also einer Person nur dann ein Kissen zu bringen, wenn sie danach fragt. So lerne ich, auf mich, meine Grenzen und Bedürfnisse zu achten, und gleichzeitig meinem Gegenüber zu vertrauen, dass sie*er das auch macht. Das fördert Kooperation und erschwert, dass ich unbewusst über meine Grenzen hinwegschreite und mehr tue als meinen angemessenen Anteil. So spüre ich selbst, wenn ich Unterstützung brauche, um dann konkret danach zu fragen. Bezogen auf meine politische Arbeit entspannt mich diese Haltung. Sie hilft mir dabei, mehr meinen Kapazitäten entsprechend zu handeln, in Kontakt zu gehen, zu kooperieren und nach Unterstützung zu fragen, wenn ich sie brauche und so nachhaltiger dabeizubleiben.
Yasha: Bei RT werden auch Orgasachen auf RT-Weise geregelt. Es wird nicht diskutiert, sondern im Konsens entschieden. Dafür werden alle Bedürfnisse und Wünsche geäußert und es wird sich Zeit gelassen, bis es zu Entscheidungen kommt. In den Orgarunden werden somit nicht nur Bedenken geäußert, sondern auch Wünsche formuliert und gemeinsam geschaut, wie sie erfüllt werden können. Dies hat nachhaltig meinen Umgang mit organisatorischen Sachen verändert.
Mix: In der Runde ‹Gutes und Neues› lerne ich eine wohlwollende und wertschätzende Perspektive auf mich, die Welt und auf andere einzunehmen. Ich lenke meinen Blick auf schöne Momente, feiere meine Erfolge und hole mir Anerkennung. Das stärkt und erdet mich im Umgang mit Schwierigem und Schmerzvollem und erleichtert mir so die Arbeit daran.
Was könnte noch besser werden?
In vielen Gruppen ist das Wissen über die politischen Wurzeln von RT verloren gegangen, und damit auch verschiedene Übungen und Fragestellungen. Wir würden uns wünschen, dass RT wieder politischer wird. Vor allem für die Anleitung von Gruppen wollen wir, dass der Aspekt der verinnerlichten Unterdrückung und der politischen Aktion wieder mehr vermittelt wird. Außerdem ist es wichtig, Umgangsstrategien mit diskriminierendem Verhalten in Gruppen mehr zu thematisieren. Das heißt, darauf einzugehen, wie diskriminierendes Verhalten in Gruppen besser adressiert werden kann. Wir wollen auch weiter innerhalb der RT-Community darüber reflektieren, welche Ausschlüsse RT produziert und wie Zugänge erleichtert werden können. Wir mögen die Entwicklung, dass es mehr Gruppen von und für trans*, inter und nicht-binäre Personen gibt. Damit wird auch bei RT die Geschlechterbinarität aufgebrochen und thematisiert.