Die körperlichen Belastungen sind in vielen Branchen nach wie vor hoch, zugleich sind die psychischen Belastungen enorm gestiegen. Zwar bestehen gewisse gesetzliche Grundlagen, welche die Vernutzung der Arbeitskraft eindämmen sollen, doch greifen die Gesetze gerade dort nicht, wo die Belastungen am höchsten sind, so zum Beispiel in der Logistikbranche. Zudem haben sich Spaltungen innerhalb der Arbeiter*innenklasse entwickelt, die sich fatal auf den Gesundheitsschutz und letztlich auf das gesellschaftliche Bewusstsein auswirken. Arbeitsleid führt, wenn es keine oder nur ungenügende Gegenwehr gibt, zu Verpanzerungen, Verbitterungen und politischen Verkrustungen, die sich auch zu rechtsradikalen Impulsen auswachsen können. Der Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und für Gesundheitsschutz ist also viel mehr als ein Kampf um Einhaltung der Gesetze, auch wenn diese nicht beiseite gelassen werden können. Es ist ein Kampf gegen menschenunwürdige Arbeit selbst und insofern auch ein Kampf um menschliche Würde und ein soziales und wirtschaftliches Miteinander, das von gegenseitiger Hilfe und Solidarität geleitet ist.
Rückblick: Kampf gegen Unfälle und Gifte
Das Thema «Arbeit und Gesundheit» ist seit der Hochindustrialisierung sowohl auf Seiten des Kapitals, als auch auf Seiten der Arbeiter*innen bewegung politisch virulent. Allerdings kollidieren unter der scheinbaren Gemeinsamkeit gewaltige Interessengegensätze. Unternehmen, ebenso wie Politiker*innen, sind interessiert an möglichst leistungsfähigen Arbeiter*innen. Die gewerkschaftliche Basis kämpft – schon in den Bergarbeiterstreiks Ende des 19. Jahrhunderts – gegen die exorbitante Unfallträchtigkeit und massenhafte Vernutzung des menschlichen Körpers zum Zwecke der Profitmaximierung.
Die Gewerkschaftsbürokratie, die vor dem Hintergrund der «Dialektik der partiellen Errungenschaften» (Ernest Mandel) immer stärker ihre Eigeninteressen zu verteidigen begann, versuchte immer wieder, zwischen diesen Interessen zu vermitteln und setzte auf staatliche Regulierung und Rechtsetzung, nicht aber auf die Mobilisierung der Arbeitenden selbst. Das Recht auf Unversehrtheit des menschlichen Körpers blieb und bleibt – erweitert auf die psychische Gesundheit – bis heute ein hoch aktuelles Thema.
Waren die Kampagnen und Aktivitäten der modernen Industriegewerkschaften in ihren frühen Jahrzehnten noch von Themen wie «Unfallgefahren» und «Giftgefahren am Arbeitsplatz» geprägt, so wandelte sich das Bild in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, spätestens seit der Jahrtausendwende, zu einer eher konsensuell orientierten Arbeitspolitik, die gemeinsame Interessen von Kapital und Arbeit in den Vordergrund stellte. Fortan wurde davon ausgegangen, dass Gesundheit bei der Arbeit auch gut für Leistungsfähigkeit, Produktivität und Rentabilität sei. Im Kern liegt der vor etwa 20 Jahren auf Initiative der IG Metall entwickelten Kampagne «Gute Arbeit» ein sozialpartnerschaftliches Konzept zugrunde.
Hohe Belastungen
Das Konzept «Gute Arbeit» setzt einige unhinterfragte Grundannahmen voraus: Arbeit – im Kapitalismus: Lohnarbeit – ist für den Menschen der entscheidende Faktor seiner Identitätsbildung, gleichsam eine anthropologische Kernkonstante; sinnvolle, persönlichkeitsfördernde und gesunderhaltende Arbeit ist im Kapitalismus grundsätzlich möglich; Mechanisierung und Digitalisierung schaffen tendenziell schwere Arbeit ab; Interessensgegensätze lassen sich über Mitbestimmung ausgleichen, das heißt «Arbeitgeber*innen» lassen sich durch gute Argumente überzeugen.
«Diese Grundannahmen sind mehr oder weniger illusorisch, und das wissen im Grunde auch die beteiligten wissenschaftlichen, politischen, administrativen und gewerkschaftlichen Akteur*innen.»
Diese Grundannahmen sind mehr oder weniger illusorisch, und das wissen im Grunde auch die beteiligten wissenschaftlichen, politischen, administrativen und gewerkschaftlichen Akteur*innen. Und selbst dann, wenn sich Menschen mit Arbeit – auch mit schlechter – zu identifizieren scheinen, und ihnen dies selbst so erscheint, erzählt ihr Körper – ihr körperliches und seelisches Leid – eine andere Geschichte. Jede*r dritte Erwerbstätige quält sich mit einer, oftmals mit mehreren chronischen und schmerzhaften Erkrankungen, bei den 50-Plus-Jährigen ist es jede*r Zweite. Und weil aus der leiblichen Existenz niemand wirklich entfliehen kann, staut sich bei vielen Betroffenen eine Wut auf, die sich mit der Zeit immer drängender ein Ventil sucht, eine Projektionsfläche für die Aggressionen, die, weil die Möglichkeit des kollektiven Widerstandes gegen die herrschenden Arbeits- und Lebensbedingungen so stark verschüttet sind, ihr Objekt weit verfehlen.
Im Juli 2019 kam ein Mitteilungsblatt der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) heraus, in dem neue repräsentative Befragungsergebnisse veröffentlicht wurden. Demnach ist schwere körperliche Arbeit in Deutschland nach wie vor sehr verbreitet. Jede*r zweite Beschäftigte muss zumeist im Stehen arbeiten, jede*r Fünfte muss schwer heben und tragen. In bestimmten Branchen, wie zum Beispiel der Bauwirtschaft, Logistik und Lagerwirtschaft, Kranken- und Altenpflege, Gastronomie und in weiten Bereichen der Dienstleistungsberufe ist schwere Arbeit an der Tagesordnung. Dies gilt auch für die Automobilindustrie und vor allem für deren Zulieferer. Hinzu kommt ein steigendes Maß an teilweise extremen psychischen Belastungen. Die BAuA nennt als Beispiel die Lagerwirtschaft mit rund 1,2 Millionen Beschäftigten, die nicht nur unter körperlich anstrengenden Tätigkeiten sowie Kälte, Hitze, Nässe und Zugluft leiden, sondern zugleich unter permanent hohem Termin- und Leistungsdruck stehen, bei gleichzeitig mangelndem Handlungsspielraum.
Zur schweren Arbeit kommen zusätzlich hohe psychische Belastungen hinzu, die zu leibseelischen Verspannungen führen. 61 Prozent der Beschäftigten klagen über anhaltende Schmerzen im unteren Rückenbereich. Das ist mehr als vor 50 Jahren; zugleich nehmen psychosomatische Erkrankungen deutlich zu. In Forschungs-, Entwicklungs-, Planungs- und Verwaltungsbereichen greifen Konzepte der Projekt- sowie agilen und flexiblen Arbeit tief in den Arbeitsalltag ein. Alle darauf ausgerichtet, die Leistung jeder einzelnen Person zu steigern.
Die malträtierte Psyche
Der Soziologe Richard Sennet («Der flexible Mensch») unterscheidet zwischen der alten und der neuen Kultur der Arbeit. Die alte Kultur der Arbeit: Die Arbeitenden waren der Macht von Hierarchien und Autoritäten ausgesetzt, nicht selten hatte man jahrelang brüllende und schikanierende Meister zu ertragen – eine nicht gerade gesundheitsförderliche Situation. Abweichungen von tradierten Regeln und Verhaltensmustern wurden zuweilen hart sanktioniert, nicht selten von Kolleg*innen. Gleichwohl gab es viel Alltagssolidarität. Teil dieser alten Kultur war der unhinterfragte physische Gesundheitsverschleiß.
Heute, wo die neue Kultur der Arbeit Einzug gehalten hat, gibt es mehr Freiheiten, genauer: oft nur scheinbare Freiheiten. Doch der Preis ist hoch: Egozentriertheit, Konkurrenz untereinander, Unsicherheit, Rücksichtslosigkeit, Vereinzelung – das alles führt zu hohen psychischen Belastungen, und in vielen Bereichen gibt es ein Fortleben alter Belastungen, zu denen neue hinzukommen. Eine besonders heimtückische Form der neuen Kultur ist das Konzept der «agile(n) Arbeit». Alle Verantwortung für die Auswirkungen des kapitalistischen Marktes wird auf die arbeitenden Menschen abgewälzt. Kollektivität darf sich nur im Konsens mit den Markterfordernissen entwickeln – eine entfremdete und letztlich absurde Fehlorientierung.
Psychische Belastungen führen, wenn unsere Bewältigungsressourcen erschöpft sind, zu entsprechenden Erkrankungen. 17 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage gehen auf das Konto psychiatrischer Diagnosen, Depressionserkrankungen an der Spitze. Diese Diagnose wird in allen Industrieländern seit Jahren immer häufiger gestellt. Es wird davon ausgegangen, dass mehr als 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung an psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen leiden, wobei viele weiter zur Arbeit gehen und versuchen, ihre Probleme zu übergehen oder zu verheimlichen. Hinter vielen «Burnouts» versteckt sich eine Depression. Auch hier gilt es, auf ein Missverständnis hinzuweisen: Nicht jeder Trauerzustand ist eine Depression! Enttäuschung, Trauer und auch Niedergeschlagenheit gehören zum menschlichen Leben. Wenn wir jedoch immer mehr vereinzeln, atomisieren, fehlt es auch immer mehr an einem vertrauten Kreis und sozialer Unterstützung. Arbeits- und gesundheitssoziologische Theorien sehen einen inneren Zusammenhang zwischen der globalisierten, flexiblen, agilen und atomisierten Arbeitswelt einerseits und der Erschöpfungsdepression anderseits.
Kampf für Prävention
Was kann getan werden? Entscheidend ist das Zusammenspiel zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Ersteres bedeutet, gesundheitsschädliche Faktoren auszuschalten oder auf ein möglichst geringes Maß zu reduzieren. Ebenso wichtig ist die Sekundärprävention, also die Früherkennung von gesundheitlich gravierenden Belastungen, von ersten Symptomen einer Überforderung oder einer beginnenden Erkrankung. Die Tertiärprävention betrifft die Wiedereingliederung von Kollegen*innen, die eine Erkrankung durchgemacht und/oder noch mit gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen haben und noch weiterer Unterstützung zum Beispiel durch Rehabilitationsmaßnahmen und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bedürfen. Letzteres kann immer auch Anlass sein, sich über die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse Gedanken zu machen: Tertiär- und Sekundärprävention wirken auf die Primärprävention zurück.
In einer Handlungsempfehlung des Projekts REHADAT zur Wiedereingliederung psychisch Erkrankter heißt es: «Vermeiden von Tätigkeiten mit häufig wechselnden Aufgaben, Inhalten oder Personen, […] komplexe Aufgaben/Multitasking gegebenenfalls vereinfachen, […] Tätigkeiten anbieten, die ohne Zeitdruck nach eigenem Arbeits- und Pausenrhythmus durchführbar sind». Die gesundheitsbezogene Arbeitswissenschaft ist sich einig, dass dies genau die Punkte sind, die nicht nur «Kranken», sondern allen Beschäftigten zugutekommen sollten.
«Zugleich haben wir es, nicht zuletzt aufgrund des neoliberalen Trommelfeuers, mit einem eklatanten Reputationsverlust körperlicher Arbeit zu tun.»
Aller Digitalisierung zum Trotz ist schwere körperliche Arbeit in globaler Perspektive noch immer dominant. Zugleich haben wir es, nicht zuletzt aufgrund des neoliberalen Trommelfeuers, mit einem eklatanten Reputationsverlust körperlicher Arbeit zu tun. Sie gilt längst nicht mehr als «proletarischer Adel». Zugleich differenziert sich die Arbeitswelt. Wir sehen eine deutliche Polarisierung zwischen niedrig bewerteter Dienstleistungsarbeit – Logistik, Gastro, Pflege, Reinigung und wachsende Sektoren prekärer Arbeit – und höher bewerteter Arbeit in Stammbelegschaften, Entwicklungs- und Marketingbereichen. Belegschaften und Teilbelegschaften werden gegeneinander ausgespielt. Die Konkurrenz untereinander vergiftet Körper und Psyche.
Neben kleinen Lösungen brauchen wir größere Visionen – Brücken zwischen Alltag und einer Gemeinschaftlichkeit als bewusste Sozialität, die zum politischen Faktor werden kann und muss. Wo immer möglich und notwendig, muss unmenschlichen Arbeitsverhältnissen gemeinschaftlicher Widerstand entgegengesetzt werden. Das können nur die Beschäftigten selbst erreichen, indem sie für Entlastung, mehr Personal, mehr Pausen, weniger Arbeitsvorgaben, bessere Arbeitsschutzmaßnahmen und gegen alle sinnlosen und willkürlichen Anordnungen kämpfen. Sei es mit Verweigerungsaktionen oder Streiks, sei es mit Dienst nach Vorschrift, Überstundenboykott, verlängerten Betriebsversammlungen, sei es mit politischen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen.
Unsere Verletzlichkeit erkennen
Diesen gesellschaftlichen Wandel anzustoßen, bedarf einer grundsätzlichen «Entgiftung» unseres körperlich-leiblich-seelischen Seins, einer Wiederbesinnung, eines Bewusstwerdens unserer physischen Verletzlichkeit. Genau diesen Punkt betont die US-amerikanische Sozialphilosophin Judith Butler: «Wir müssen unsere leibliche Existenz annehmen, mit all ihren Schwächen, Verletzlichkeiten und tatsächlichen Verletzungen. Menschen sind qua Existenz verwundbar, und wir können uns vor Gefährdungen, Zurichtungen und Drangsalierungen nur schützen, wenn wir zunächst einmal unsere grundsätzliche Verletzlichkeit anerkennen. Dann können sich unsere Angst und unsere Wut zu einer kollektiven Kraft verwandeln; dann braucht sich die Wut kein Ersatzobjekt zu suchen. Es geht um eine Bewegung, die sich der Würde der leibseelischen Existenz, des Menschen als Gemeinschaftswesen und als Teil der Natur, erinnert. Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz kann in diesem Sinne systemsprengend sein, und als solchen sollten wir ihn aufgreifen.»
Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen Leib und Körper. Körper sind die materiell-stofflichen und funktionellen Gesichtspunkte, das, was funktionieren muss. Leib ist die Gesamtheit alles Körperlichen, Seelischen und Geistigen, das ist das Lebendige, unsere innere Natur, vor allem aber das, was das Miteinander-Leben ausmacht. Wir leben als Leib-Körper, weil wir einander «Mitmensch» sind, aber zugleich auch funktionieren müssen.
«Der Kapitalismus hat in unseren Köpfen das Maschinenmodell des Körpers erzeugt und gefördert. Doch unsere Leiblichkeit leidet darunter.»
Arbeit ist das Hauptstück des Funktionieren-Müssens. Der Kapitalismus hat in unseren Köpfen das Maschinenmodell des Körpers erzeugt und gefördert. Doch unsere Leiblichkeit leidet darunter. Um uns vor Verletzungen zu schützen, werden wir hart: Wir bauen einen Panzer um uns herum und geraten – manchmal fast unmerklich – in einen Kriegszustand. Jede*r gegen jede*n. Verpanzerungen bewirken jedoch das Gegenteil: Sie sperren leibliche Energien ein, gerade auch Zuneigungen und verwandeln diese in Aggressionen, auch gegen uns selbst. Die Bändigung unserer inneren Natur, das ewige Sich-Zusammenreißen, Erduldungen und Demütigungen, vor allem im Arbeitsleben, verwandeln positive Lebensenergien in destruktive, zerstörerische und selbstzerstörende Energien.
Einige Schlussbetrachtungen
Der Soziologe Klaus Theweleit hat in seinem Buch «Männerphantasien» gezeigt, dass dieses verpanzerte und aggressive Hart-Sein sich in Krisenzeiten zu faschistischen Energien ausweiten kann. Der arbeitende Körper und die damit verbundenen Erduldungen, Zurichtungen, Kränkungen, Verletzungen, die verbogene oder gar zerbrochene Seele und der verbogene oder gar zerbrochene Rücken, drücken Menschen in einen Sumpf, der zum Nährboden für Rücksichtslosigkeit, Hass, Brutalität und Vernichtungsphantasien wird. Nicht zufällig entwickeln sich solche Tendenzen aus der «arbeitenden Mitte» unserer Gesellschaft heraus. Der drangsalierte Leibkörper – und im Umkehrschluss: das Ignorieren unserer leiblichen Gesundheit – ist nicht die einzige, doch aber eine wesentliche Ursache der zunehmenden Radikalisierung nach rechts.
Gesundheitsschutz ist viel mehr als das Umsetzen gesetzlicher Normen und Regeln, ist auch etwas anderes als «gute Arbeit», die sich in neoliberalen Fallstricken verfängt. Gesundheitsschutz ist eine Kernfrage unserer leibgebundenen Existenz, eine Orientierung, die von den arbeitenden Menschen selbst gespürt, erfasst, aufgenommen und in ihrer betrieblichen Lebenswelt gegen die herrschenden Produktivitäts- und Rentabilitätszumutungen durchgesetzt werden muss. Gelebter Gesundheitsschutz heißt auch: Die eigenen körperlichen Verpanzerungen aufbrechen und wieder Schritte der Alltagssolidarität, Mitmenschlichkeit und gegenseitigen Hilfe gehen lernen.