Es war ein achtbarer Erfolg bewegungspolitischer Arbeit: Als 2016 der Koalitionsvertrag des rot-rot-grünen Senats in Berlin vorgestellt wurde, tauchte der anonymisierte Krankenschein darin auf. Mit diesem Krankenschein sollte Berlin endlich Verantwortung übernehmen und auch Menschen ohne Krankenversicherungsschutz einen geregelten Zugang zur medizinischen Versorgung gewährleisten. In den Monaten zuvor hatten wir vom Bündnis Solidarity City Berlin durch öffentliche Aktionen, Kundgebungen und Gespräche mit Politiker*innen Druck auf die Koalitionsparteien aufgebaut. Das Bündnis, das sich 2015 gründete, ist ein Zusammenschluss aus Einzelpersonen und antirassistischen Akteur*innen wie Respect, Medibüro und der Interventionistischen Linken. Aktivist*innen mit und ohne Rassismuserfahrung, mit und ohne Aufenthaltstitel, kämpfen darin zusammen für einen Zugang zu medizinischer Versorgung, ohne Angst, nach der Behandlung abgeschoben zu werden, und für eine gleichwertige Behandlung ohne rassistische Diskriminierung.

Die Forderung ist also klar: Zugang zur Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht – unabhängig von Herkunft und unabhängig von vorhandenen oder eben nicht vorhandenen Papieren. Es ist die Aufgabe des Landes Berlin, diesen Zugang zu garantieren. Der entsprechende Passus im Koalitionsvertrag konnte natürlich nur der erste Schritt sein, denn ein anonymisierter Krankenschein stellt im Vergleich zu einer Versichertenkarte immer noch eine Sonderbehandlung dar und ist vom politischen Willen abhängig. Was wir aber von Anfang an forderten, war der freie und gleichberechtigte Zugang zur Regelversorgung für alle in Berlin lebenden Menschen – und damit auch die freie Ärzt*innenwahl, die Anonymisierung sensibler Daten sowie die Übernahme der realen Behandlungskosten anstatt der Kostendeckelung und Abrechnung eines verringerten Satzes, der letztlich wieder zu einer Ungleichbehandlung führt.

Ein vielversprechender Prozess bleibt stecken

Die erste Zeit nach der Verabschiedung des Koalitionsvertrages verlief vielversprechend: Die Senatsverwaltung für Gesundheit erstellte zügig ein Umsetzungskonzept und plante in den Haushaltsverhandlungen für 2018/2019 Mittel im Umfang von jährlich 1,5 Millionen Euro ein. An Runden Tischen und diversen Arbeitskreisen diskutierten gesundheitspolitische NGOs zusammen mit der Verwaltung über die konkrete Umsetzung. Als Bündnis begleiteten wir die Debatten und schufen Presseöffentlichkeit. Wir wurden dabei nicht müde, immer wieder die Forderungen von Menschen, die von Illegalisierung betroffen sind, in die Debatte einzubringen und auf die Erfahrungen aus anderen Städten, wie Göttingen, hinzuweisen – so etwa zur Anonymisierung von persönlichen Daten in Patient*innenakten, die der Logik des Gesundheitssystems zunächst zu widersprechen scheinen.

«Dies stimmte uns misstrauisch und wir begannen uns auf die Vernetzung der am Prozess beteiligten gesundheitspolitischen Organisationen zu konzentrieren.»

Die Zeit verging und die Verwaltung wurde zunehmend wortkarger. Das erste Umsetzungskonzept landete in der Schublade und die Verwaltung verwies wiederholt darauf, dass die Aufgabe komplex und die Zielgruppe der Nichtversicherten heterogen sei, und daher mehr Zeit benötigt würde. Dies stimmte uns misstrauisch und wir begannen uns auf die Vernetzung der am Prozess beteiligten gesundheitspolitischen Organisationen zu konzentrieren. Ziel war es, einen besseren Überblick über das Agieren der Verwaltung zu erlangen, Hinhaltetaktiken zu erkennen und durch gemeinsame Forderungen gezielt Druck auszuüben. Dennoch wurde das Gefühl stärker, nur noch auf der Stelle zu treten.

Wo wird was verhandelt?

Um zu verstehen, was hier passierte, lohnt sich ein kritischer Blick auf das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen, die in solche realpolitischen Prozesse eingebunden sind: Zunächst geht es dabei um die politische Entscheidungsebene, als Zweites um die Verwaltung, die diese Entscheidungen in ein ausformuliertes Konzept übersetzt und in ihrer Bedeutung häufig unterschätzt wird, und schließlich um die Ebene der praktischen Umsetzung.

  1. Auf landespolitischer Ebene hatte sich der Berliner Gesundheitsausschuss für die Einführung des anonymisierten Krankenscheins eingesetzt, das Projekt landete im Ressort der SPD-Politikerin Dilek Kalayci (früher: Kolat). Sie scheint sich mit diesem Projekt vor allem Prestige zu erhoffen, indem sie Nichtversicherte zurück in die Regelversicherung der Krankenkassen bringt. Tatsächlich meinte sie stets nur einen Bruchteil dieser Gruppe: Schon in den Jahren zuvor war es ihr ein Anliegen, Solo-Selbstständige (mit deutschem Pass) aufzufangen, die aufgrund der für sie zu hohen Krankenkassenbeiträge den Versicherungsschutz verloren hatten. Die Rechte illegalisierter Menschen standen nicht in ihrem Fokus. Dies erklärt auch die Sorge Kalaycis vor zu hohen Kosten. Das Gesamtbudget von 1,5 Millionen Euro ist im Verhältnis zu den etwa 50000 Nichtversicherten in Berlin tatsächlich niedrig. Zumal wegen der Personalkosten für die Beratungsstelle nur die Hälfte der Summe für die medizinischen Behandlungen zur Verfügung stand. Entsprechend dieser Logik sollte es auch keine Informationskampagne zu dem neuen Angebot geben: Es regierte die Angst, dass die ›falschen‹ Nichtversicherten von dem Angebot erfahren, nämlich illegalisierte Menschen.
  2. Auf der Verwaltungsebene hängt viel von der Frage ab, ob die mit der Umsetzung betraute Mitarbeiter*in Handlungsspielräume in der Ausgestaltung nutzt oder nicht. In diesem Fall war dem zunächst so und die Umsetzung des Projektes nahm schnell Fahrt auf. In engem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wie dem Medibüro wurde ein Konzept erstellt. Ein personeller Wechsel beendete diese Zusammenarbeit jedoch. Offen bleibt, ob sie ohnehin ein schnelles Ende gefunden hätte, da auch eine Verwaltungsmitarbeiter*in den Anweisungen ihrer zuständigen politischen Leitung folgen muss. Es ist wichtig, bei den Verwaltungsprozessen aufmerksam und kritisch zu bleiben: Sie finden nie auf Augenhöhe statt. So wurden wir zunächst als beratende ›Expert*innen‹ und politische Akteur*innen akzeptiert. Dabei besteht jedoch immer die Gefahr, als Feigenblatt benutzt zu werden, um die Einbindung der Zivilgesellschaft zu demonstrieren. Als die Kommunikation dann abbrach, entschieden wir uns, die Verschleppung bei der Umsetzung zu skandalisieren. Das brachte Bewegung ins Spiel – und uns vermeintlich zurück an den Verhandlungstisch.
  3. Vermeintlich, weil nach Monaten des Schweigens nun völlig überraschend die Stadtmission Berlin als Träger für die Umsetzung und die Vergabe des anonymisierten Krankenscheins präsentiert wurde. Das Auswahlverfahren verlief dabei völlig intransparent und nicht unter Einbindung der Akteur*innen, die am Runden Tisch beteiligt waren. So fiel die Entscheidung nicht auf eine in diesem Bereich erfahrene Organisation, sondern auf einen karitativen Träger, der – wie so häufig im Bereich der sozialen Träger – Aufträge unkritisch umsetzt und die Konfrontation mit der politischen Ebene meist scheut.
«Krankenversicherungen haben aber oft ein sehr ausgeklügeltes System, Menschen fernzuhalten, die mehr Kosten verursachen könnten als sie monatlich in die Kassen einzahlen.»

Bilanz

Von unseren anfänglichen Forderungen ist letztlich nur wenig übriggeblieben: Es gibt eine Clearingstelle, die den Bedarf prüft und Menschen mit Behandlungsbedarf eigentlich in die Versorgung vermitteln soll, aber stattdessen zuerst versucht, sie in regulären Krankenversicherungen unterzubringen. Krankenversicherungen haben aber oft ein sehr ausgeklügeltes System, Menschen fernzuhalten, die mehr Kosten verursachen könnten als sie monatlich in die Kassen einzahlen. Nicht umsonst gibt es Fortbildungsangebote für Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen, die über die Tricks der Versicherungen aufklären und mögliche Gegenstrategien aufzeigen. Der Prozess, Nichtversicherte wieder bei Krankenkassen anzumelden, ist somit sehr aufwändig. Die Ausgabe von Krankenscheinen an den Abschluss eines Clearings zu knüpfen, bedeutet, notwendige Behandlungen zu verzögern. Für Menschen ohne Papiere ist der Weg zur Gesundheitsversorgung dadurch mit extrem hohen Hürden verbunden. Nicht nur, dass Gesundheitsversorgung nicht als (menschen-)rechtlicher Anspruch verstanden wird, selbst die Bedürftigkeit wird in diesem Prozess in Frage gestellt. Gesundheitliche Probleme warten aber nicht auf eine Bedarfsprüfung. Hier ist wie so oft realpolitisches und bürokratisches Handeln nicht auf die Menschen, sondern auf politische Kompromisse und finanzielle Bedingungen ausgerichtet.

Hat sich der hohe Einsatz unseres Bündnisses für eine gerechtere Gesundheitsversorgung für Alle gelohnt? Seit Mitte 2019 ist die Clearingstelle geöffnet, unsere Forderungen führten zu einem Modellprojekt, das sogar für die Jahre 2020/2021 verlängert wurde. Die ersten Rückmeldungen zur Arbeit der Clearingstelle waren oft negativ: zu viele Hindernisse beim Zugang, zu bürokratisch und zu wenig Verständnis für die prekäre Situation von Illegalisierten. Das breite Netzwerk, das in den letzten Jahren entstanden ist, existiert hingegen weiter und drängt das Projekt in kleinen Schritten in die von uns geforderte Richtung. Noch sind wir weit von unserer Utopie entfernt, aber immerhin näher an der freien Ärzt*innenwahl durch Kostenübernahmen. Diese soll es voraussichtlich ab Ende dieses Jahres geben. In dem Beirat, der begleitend zum Modellprojekt eingesetzt wurde, sind das Medibüro und, als Stimme einer Betroffenenorganisation, auch Respect vertreten. Mitbestimmung ist an dieser Stelle möglich. Gleichzeitig wird das Gremium selten einberufen und ist nur ein Beobachtungsinstrument mit geringem Einfluss.

Die Diskrepanz zwischen unseren radikalen Forderungen und der Umsetzung ist aus bewegungspolitischer Sicht natürlich kein ungewohntes Bild: Antirassistische Bewegungen fordern mehr, als innerhalb des bestehenden unsolidarischen Systems umgesetzt wird. Das birgt erstmal ein hohes Frustrationsrisiko. Es ist trotzdem wichtig, diese Kämpfe zu kämpfen – auch wenn uns vor lauter Runden Tischen oft schwindelig wurde, und wir uns nur auf der Stelle zu drehen schienen. Denn: Ohne uns hätte es die Stelle, auf der wir uns drehten, vielleicht gar nicht gegeben.