Die aktuellen Kämpfe im Gesundheitsbereich richten sich in erster Linie auf die Abwehr einer Reihe von neoliberalen Umstrukturierungen, die sich am besten als Ökonomisierung des Gesundheitswesens beschreiben lassen. In ihrem Zentrum stehen derzeit sowohl der Kampf gegen das spezifische Abrechnungssystem der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups) als auch gegen die dramatisch schlechten Arbeitsbedingungen in der Pflege. Die Politisierung der Arbeitskämpfe seit den 2010er Jahren erlaubt es zugleich wieder, grundsätzliche Fragen nach der Reformierbarkeit des bundesdeutschen Gesundheitswesens zu stellen. Praktisch werden derzeit vor allem im ambulanten Bereich konkrete Vorhaben erprobt. So sind in jüngster Zeit eine Reihe von Gesundheitskollektiven entstanden, die, grob am Gedanken der Polikliniken orientiert, mit einem hohen Bewusstsein für die gesundheitspolitische Dimension gesellschaftlicher Herrschaftsbeziehungen die Möglichkeit realer Alternativen testen.

«Die Politisierung der Arbeitskämpfe seit den 2010er Jahren erlaubt es zugleich wieder, grundsätzliche Fragen nach der Reformierbarkeit des bundesdeutschen Gesundheitswesens zu stellen.»

Im ambulanten Bereich gibt es einen größeren Handlungsspielraum, sich zu organisieren und auf Grundlage eines progressiven Gesundheitsverständnisses Alternativen zu dem System der Doppelrolle der Ärzt*innen als Kurierende und Kleinunternehmer*innen zu entwickeln. Im stationären Bereich hingegen ist dies aufgrund der immensen Kosten, die mit Aufbau und Unterhalt von Krankenhäusern verbunden sind, nur auf dem gesetzgeberischen Wege möglich. Sucht man nach Alternativen zu dem bestehenden Elend in der stationären Versorgung und den dortigen Arbeitsverhältnissen, dann liegt ein Blick zurück nahe. In den späten 1960er Jahren kam es aus unterschiedlichen Gründen zu Reformbewegungen innerhalb des bundesdeutschen Gesundheitswesens, die sich sowohl gegen dessen grundsätzliche Verfasstheit wie auch seine Organisation im ambulanten und stationären Bereich wandten. In Folge der 68er Bewegung wurde die Realität und Struktur des bundesdeutschen Gesundheitswesens einer gründlichen Kritik unterzogen und gezeigt, in welcher Weise das Gesundheitswesen Ausdruck der vielfältigen Herrschaftsverhältnisse war, die die Gesellschaft prägten. Diese Kritik fand sich damals nicht einzig in den radikaleren Flügeln der post-68er Bewegung, sondern wurde (oft mit einer anderen Akzentuierung) auch in Teilen des sozialliberalen Bürgertums und der linken Strömung der deutschen Sozialdemokratie vertreten.

Dabei kam die zum großen Teil dramatisch schlechte Lage der Krankenhäuser in den späten 1960er Jahren einer herrschaftskritischen Analyse des Gesundheitswesens entgegen. Viele der Kliniken waren baulich und von der Ausstattung her marode und veraltet, was Neuplanungen erforderlich machte. Aufgrund der realen politischen Einflussmöglichkeiten, die die linke Sozialdemokratie in manchen Bundesländern hatte, war es in dieser Situation möglich, die Kritik in Reformprojekte einfließen zu lassen, die direkt Eingang in die Bedarfspläne der Länder fanden. Die Wiederaufnahme der ehemals durch die sozialistische und kommunistische Bewegung vorgenommenen Politisierung des Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriffs erlaubte es zu erkennen, in welcher Weise die jeweils existierenden ökonomischen Handlungsspielräume das Gesundheitsverständnis prägten und damit ganz wesentlich das ‹kurative Selbstverständnis› der Ärzt*innen und Pfleger*innen beeinflussten. Dass das bundesdeutsche Gesundheitssystem als Ausdruck einer Klassengesellschaft verstanden werden kann, zeigt sich etwa in der bis heute herrschenden versicherungsrechtlichen Definition von Krankheit als «ein[em] regelwidrige[n] Körper- und Geisteszustand, dessen Eintritt entweder allein die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat», die sich folglich auch in den kurativen Zielvorgaben der medizinischen Behandlung niederschlägt.

Ein südhessisches Experiment

Auch in den konkreten Reformbemühungen wurde in den späten 1960er Jahren an Ideen aus der sozialistischen und kommunistischen Bewegung angeknüpft. So forderte 1970 der Hanauer Landrat Martin Woythal auf dem Parteitag des traditionell linken SPD Bezirks Hessen-Süd die Einrichtung eines klassenlosen Krankenhauses und kündigte den Bau eines solchen im Kreis Hanau an. Im gleichen Jahr stimmte auch der Kreistag geschlossen für den Neubau eines solchen Krankenhauses. Während Woythal 1968 zunächst in einer kleinen, selbstverlegten Denkschrift nur vage die Grundgedanken dieses sozialdemokratischen Reformvorhabens erläuterte, wurden diese später in konkrete Planungen überführt. Im Jahr 1974 lagen schließlich sowohl die Architekturskizzen der neuzubauenden Klinik, die Krankenhausverfassung wie auch ein Finanzierungsmodell vor.

«Als Kernstück einer umfassenderen Gesundheitsreform sollten klassenlose Krankenhäuser durchaus als Etappe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft verstanden werden.»

Der Titel des Reformvorhabens war natürlich bewusst gewählt: Als Kernstück einer umfassenderen Gesundheitsreform sollten klassenlose Krankenhäuser durchaus als Etappe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft verstanden werden und innerhalb der bestehenden Klassengesellschaft demonstrieren, dass Prinzipien von Gleichheit und Solidarität für den überwiegenden Teil der Gesellschaft einen großen individuellen Nutzen haben. Woythal und die süd-hessische SPD entwickelten mit dem klassenlosen Krankenhaus eine Idee, die unter diesem oder einem ähnlichen Namen schon im späten 19. Jahrhundert verfolgt und in den 1970er Jahren vielerorts in der mehr oder minder linken Sozialdemokratie diskutiert wurde.

Schaut man sich Idee und Geschichte des klassenlosen Krankenhauses an, so wird schnell deutlich, dass sich unter diesem Titel unterschiedliche Teilziele versammelten. Klassenlos sollten die neuen Krankenhäuser in zwei Hinsichten sein: Erstens in Bezug auf die Behandlung der Patient*innen. Mit dem Ziel, Aufenthalt, Pflege und medizinische Behandlung sowohl für die Patient*innen der gesetzlichen Krankenkassen als auch für die Privatversicherten zu verbessern, sollten die nach Pflegesatzverordnung von 1954 vorgesehenen drei Pflegeklassen zugunsten einer einheitlichen Pflegeklasse auf dem Niveau der vormaligen zweiten Klasse abgeschafft werden. Sowohl sollten die Patient*innen der ehemaligen dritten Klasse vor Schlechterbehandlung geschützt werden als auch die Patient*innen der vormaligen ersten Klasse vor finanzieller Ausplünderung. Zweitens war eine Klassenlosigkeit auch in der internen Organisation und Verwaltung der Krankenhäuser vorgesehen. Die bis heute in der Regel vorzufindenden Hierarchien in und unter den einzelnen Berufsgruppen sollten beseitigt und durch eine Kollegialordnung ersetzt werden, die eine effektive und umfassende Mitbestimmung sowohl der Angestellten, der Patient*innen als auch Vertreter*innen des Krankenhausträgers (das heißt des Kreistages) ermöglichte. Eine Krankenhauskonferenz sollte die demokratisch gewählten Vertreter*innen der einzelnen Gruppen umfassen, die sich wiederum über Ärzt*innen-, Pflege- und Personalrat intern organisieren. Die Struktur demokratischer Mitbestimmung hatte direkt Auswirkungen auf die medizinische Behandlung selbst: Die Beseitigung des Chefarztsystems sollte direkt mit der Etablierung von Arbeitsteams einhergehen, in denen die eigenverantwortlich handelnden Fachärzt*innen und Pflegekräfte sich koordinieren konnten. Die Arbeit in nicht-hierarchischen Teams wurde dabei auch als Mittel der Rationalisierung begriffen: Team-Arbeit und Eigenverantwortlichkeit sollten sowohl eine kosteneffektivere Nutzung der stets knappen Ressourcen als auch eine Verbesserung der Behandlungsqualität bewirken. Dem schon damals existierenden Mangel an Pflegekräften sollte durch eine Abschaffung der Oberschwester-Hierarchie, bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen begegnet werden.

Die beiden angesprochenen Dimensionen der angestrebten Klassenlosigkeit zielten politisch stark darauf ab, die Macht, die die Ärzteschaft im bundesdeutschen Gesundheitssystem hatte (und hat), zu brechen – und damit die marktwirtschaftlichen Elemente im Gesundheitswesen zurückzudrängen. Auf der stationären Ebene bedeutete dies, das Chefarztwesen mitsamt dem dazugehörigen Privatliquidationsrecht abzuschaffen, das heißt die Möglichkeit zu nehmen, bestimmte Behandlungsleistungen privat abrechnen zu können. Auf der ambulanten Ebene sollte die Monopolstellung der niedergelassenen Ärzt*innen dadurch aufgebrochen werden, dass erstens dem Krankenhaus selbst sowohl eine ambulante Diagnoseklinik (‹Medizinisch-Technisches Zentrum›) als auch eine Ambulanz mit angestellten Fachärzt*innen angegliedert wird. Zweitens sollten die jeweils auf Kreis-Ebene errichteten Krankenhäuser auf der Gemeinde-Ebene von Arzthäusern flankiert werden. Der Spiegel schrieb dazu: «…das erste sollte in Bruchköbel entstehen. Es sollte an selbständige Haus- und Fachärzte vermietet werden, die sich bereits gefunden hatten und die sogar in eine gemeinsame, kollektive Kasse wirtschaften wollten.»

Kritik von rechts und links

Es erstaunt kaum, dass ein solches Reformprojekt auf Widerstand stieß. Besonders heftig fiel dieser bei der pfründe- und statusorientierten Alt-Ärzteschaft aus, die sich in ihrer Gegenkampagne mühte, ihr Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft im Gesundheitswesen durch Einfühlung in das Patient*innenwohl zu kaschieren. Wie ein Zitat aus Der Spiegel erkennen lässt, zeigte sich dabei der Tübinger Medizin-Professor Hans-Erhard Bock, ehemaliges Mitglied der NSDAP sowie des NS-Ärztebundes, als besonders emphatisch: «In der empfindsamsten Zeit der Krankheit», (…) müsse der Patient das Recht haben, «seinem Niveau und Stil entsprechend gesunden oder sterben zu können». Und das Deutsche Ärzteblatt machte seinen*ihren Leser*innen nochmals nachdrücklich den Horror deutlich, der mit der angestrebten Krankenhausreform verbunden wäre: «Zumindest theoretisch müßten dann alle, auch Landräte, damit rechnen, im Falle einer Erkrankung (…) mit jedem, sagen wir: auch mit einem Gastarbeiter, das Zimmer zu teilen.»

Aber auch von linker Seite wurde das Reformvorhaben anfänglich vehement kritisiert. Die Kritik gliederte sich dabei zeittypisch in drei Stränge: In einen polemischen Strang, der auf die Person gerichtet war (und Woythal vor allem Karrierismus unterstellte); in einen zweiten Strang, der ausgehend von einer marxistischen Analyse des Gesundheitswesens und dessen Dynamik argumentierte, das klassenlose Krankenhaus könne nicht die zentralen Widersprüche aufheben und schließlich in einen dritten «psychologisch-sozialisationstheoretischen» Strang, der darauf hinwies, dass sich das «kleinbürgerlich-repressive Ständebewusstsein» der Ärzt*innenschaft bereits voll verfestigt habe, wenn diese schließlich in einem klassenlosen Krankenhaus tätigt werden würden, somit die hierarchiefreie Institution also nicht genutzt werden könnte. Alle drei Kritikstränge liefen darauf hinaus, die Grenzen und vermeintliche Vergeblichkeit des Reformvorhabens deutlich zu machen.

Die Kritik an den frühen Ideen Woythals zum klassenlosen Krankenhaus hatte sicherlich ihre analytische Berechtigung. Derartig ‹maximalistische› Einwände, die selbst der Frage der politisch durchsetzbaren Alternativen nicht nachgehen, sind aber eher Ausdruck einer akademischen Perspektive, die politischen mit theoretischem Radikalismus verwechselt. Vielleicht lässt sich ein solcher Maximalismus auch durch den in den Jahren nach 1968 verbreiteten Eindruck verstehen, der Wind der Geschichte würde kräftig in die eigenen Segel blasen. Obwohl dieser Eindruck heute ein gewisses Befremden auslöst, erklärt er das erstaunlich hohe politische Selbstbewusstsein, das sich bei vielen progressiven Akteur*innen dieser Zeit finden lässt und das wesentlich zu deren Handlungsfähigkeit beitrug. So auch bei Martin Woythal, der Anfang der 1970er Jahre den Gegner*innen des klassenlosen Krankenhauses verkündete: «Das klassenlose Krankenhaus wird kommen, weil es die logische Weiterentwicklung des herkömmlichen Krankenhauses unter den Bedingungen der objektiven historischen Tendenz ist (…).»

Ein unverwirklichtes Projekt

Der Wind der Geschichte hustete jedoch in eine andere Richtung: Was hoffnungsfroh begann und weit gedieh, endete, wie so vieles in Südhessen, als Streuobstwiese. Im August 2009 konstatierte die Frankfurter Rundschau lakonisch: «Rund 20 Hektar Streuobstwiesen und Ackerland hatten der Kreis und das einst selbstständige Hochstadt Anfang der 70er Jahre von der Nassauischen Heimstätte für Klinik und Siedlung aufkaufen lassen. Doch das Krankenhaus flog aus dem Bedarfsplan des Landes, und Maintal erklärte die Flächen zur Öko-Zone.»

«Der Wind der Geschichte hustete jedoch in eine andere Richtung: Was hoffnungsfroh begann und weit gedieh, endete, wie so vieles in Südhessen, als Streuobstwiese.»

Die Verwirklichung des klassenlosen Krankenhauses scheiterte schließlich an dem Widerstand der reaktionären Ärzteschaft, der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie der Kirchen, der CDU und der FDP. Obwohl die Hanauer SPD es auf lokaler Ebene streckenweise schaffte, eine breite Unterstützung für das Projekt zu organisieren, führte schließlich das fehlgehende politische Kalkül, eine sozialdemokratische Machtsicherung mittels einer Gemeindereform zu gewährleisten, zu dem endgültigen Ende des klassenlosen Krankenhauses. Bei den ersten Wahlen im neu geschaffenen Landkreis Main-Kinzig unterlag die SPD 1974 dem Kandidaten der CDU und «das Krankenhaus flog aus dem Bedarfsplan».

Aktuelle Potentiale einer alten Idee

Sicherlich haben sich die Verhältnisse im Gesundheitswesen seit Anfang der 1970er Jahre verändert – entsprechend sind manche der konkreten Maßnahmen, die mit dem Projekt des klassenlosen Krankenhauses verbunden waren, heute teilweise überholt. Erstaunlich ist aber, wie dessen zentrale Anliegen und Problemdiagnosen auch heute noch zutreffen. Deshalb ist es vielverpsrechend, die aktuellen Kämpfe im Gesundheitswesen, die sich vor allem gegen das Fallpauschalensystem sowie den Pflegenotstand richten, mit der Wiederaufnahme und Aktualisierung der Idee des klassenlosen Krankenhauses zu ergänzen. Erstens, da es sich um den konkreten Versuch handelte, zu demonstrieren, wie selbst innerhalb einer Klassengesellschaft die Prinzipien von Gleichheit, demokratischer Mitbestimmung und Solidarität einen gravierenden Unterschied im Leben der Betroffenen machen können. Zweitens ist an dem Hanauer Modell interessant, dass die Frage von Rationalisierung und Effizienz, die aktuell vor allem mit der Ökonomisierung und zunehmenden Integration von Wettbewerbselementen im Gesundheitsbereich verbunden wird, durch eine Demokratisierung der Arbeits- und Patient*innen-Ärzt*innen-Verhältnisse, die Abschaffung des Privatliquidationsrechts, des Chefarztsystems sowie durch einen einheitliche Pflegestufe und eine Stärkung von kooperativen Arbeitsformen erreicht werden sollte. Drittens schließlich bieten die Ansätze zu einer schrittweisen Aufhebung der Trennung von ambulantem und stationärem Bereich unmittelbare Anknüpfungspunkte für die derzeitigen Reformbewegungen im Gesundheitsbereich.

Natürlich könnte ein klassenloses Krankenhaus, wenn dessen Umsetzung gelänge, nicht mehr leisten, als es in seiner begrenzten kurativen und sozio-politischen Funktion zu leisten in der Lage wäre. ‹Gastarbeiter› werden weiterhin mit anderen Krankheitsbildern zu kämpfen haben als ‹Landräte› und werden in anderer Weise ‹gesund› sein bzw. werden. Die oft von linksradikaler Seite gegenüber Reformvorhaben angeführte Befürchtung, dass diese eine herrschaftsstabilisierende Wirkung entfalten würden und letztlich die tatsächlich entscheidenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse aus dem Blick gerieten, scheint in diesem Fall aber kaum angebracht. So wie integrierte Gesamtschulen durch ihr beständiges Scheitern und Aufzeigen der Grenzen sozialpädagogischer Reformversuche im schulischen Alltag in tiefgehend unfreien Verhältnissen gerade nicht den Eindruck wecken, die Klassengesellschaft sei überwunden, so wird dies beim ‹klassenlosen Krankenhaus› auch nicht der Fall sein können. Es würde aber vielleicht die Möglichkeit eröffnen, dass – jenseits der Frage nach der unmittelbaren Verfassung von Behandlung und Arbeit in den Krankenhäusern – die gesamten sozialen Dimensionen von Krankheit und Gesundheit in Gesellschaften, die durch multiple Herrschaftsverhältnisse geprägt sind, in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit treten.