Aktivist*innen sprengen eine Konferenz, stürmen die Büros eines Pharmakonzerns und blockieren Straßen mit Die-ins: Der französische Film «120 battements par minute» von 2017 brachte die kurze Phase der radikalen AIDS Bewegung ACT-

UP (AIDS Coalition to Unleash Power) Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre noch einmal in Erinnerung und setzte ihr ein bewegendes Denkmal.

Nur selten eskalieren Kämpfe um Gesundheit und Gesundheitsversorgung in solch ikonischen Bewegungen und Bildern. Und das, obwohl die Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung auf den Lebens- und Gesundheitszustand der Menschen längst erschöpfend dokumentiert und analysiert sind. Jährlich trifft sich zum Beispiel die deutsche Gesundheitsförderungs- und Public Health Community mit inzwischen rund 2.000 Teilnehmer*innen zum Kongress «Armut und Gesundheit» in Berlin, um neue Daten und Projekte vorzustellen und sich zu vernetzen. Krankmachende Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen waren und sind Ausgangspunkte gesellschaftlicher Mobilisierung und für Debatten um Interessen, Rechte und Ressourcen, ebenso wie für Widerstand gegen staatliche Kontrolle und Regulierung. Aber wann kämpfen Menschen um ihr «Recht auf Gesundheit»? Und wer sind dann die Gesundheitsbewegungen?

Gesundheitskämpfe und ihre Institutionalisierung

In den rapide wachsenden Städten im Europa des 19. Jahrhunderts wurden Maßnahmen der öffentlichen Politik, die über die traditionelle Armenversorgung hinausgingen, entscheidende Instrumente, um die Funktionsfähigkeit dieser Orte für die Industrialisierung zu gewährleisten. Wohnungsbau, Trink- und Abwassersysteme, Müllentsorgung und Nahrungsmittelüberwachung waren unentbehrlich für die Sicherung der öffentlichen Gesundheit. Die zahlreichen Epidemien (unter anderem Typhus und Cholera) mussten eingedämmt werden, um eine dauerhaft produktive Bevölkerung für den kapitalistischen Arbeitsmarkt sicherzustellen. Aber auch die ersten Arbeitsschutzgesetze entstanden zu dieser Zeit (Preußisches Regulativ von 1839). Zugleich wurden im Zuge immer stärkerer Kontrollen von Fabrikhallen und Maschinen die Arbeiter*innen diszipliniert: Es wurden Zeitnormen gesetzt, das Akkordsystem erfunden und die Menschen zu lebenden Teilen der Maschinen gemacht. Von ihnen erwartet wurde verantwortungsbewusstes Verhalten, zum Beispiel die Kontrolle des Alkoholkonsums im Interesse der Unfallvermeidung, was auch überwacht wurde.

«Die zahlreichen Epidemien mussten eingedämmt werden, um eine dauerhaft produktive Bevölkerung für den kapitalistischen Arbeitsmarkt sicherzustellen.»

Die sich entwickelnde Arbeiterbewegung verstärkte zugleich den Druck auf die Kapitalseite und forderte nicht nur mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten, sondern auch bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Als Teil einer kombinierten Repressions- und Einbindungspolitik gegenüber der Arbeiter*innenklasse wurden zur Zeit der Bismarckschen Sozialgesetze ab 1883 die Unfall-, Kranken-, und Rentenversicherungen im Deutschen Reich eingeführt. Die neu entstandenen Krankenkassen wurden Selbstverwaltungsorgane, mithilfe derer Arbeiter*innen relevante Mitentscheidungsmöglichkeiten erhielten. Zugleich waren sie Teil einer neuen Verwaltungsstruktur, die ihre Mitglieder nicht nur als kollektive Interessensvertretung gegenüber den Anbieter*innen im Gesundheitswesen (Kassenärzt*innen, Krankenhäuser) vertrat, sondern auch als institutionelles Kontrollorgan über den Zugang zu Krankengeld, Renten und Krankenbehandlungen bestimmte.

Das Doppelgesicht aus Fürsorge und Kontrolle zeigte sich also nicht nur bei staatlichen Organen wie der Gewerbeaufsicht oder den karitativen Institutionen, sondern ebenso bei dieser Art (Selbst)-Organisation der Arbeiter*innenklasse. Die mit der erfolgreichen Durchsetzung von (Gesundheits-)Rechten einhergehende Institutionalisierung schwächte jedoch zugleich die für ihre Realisierung notwendige Bewegungsdynamik aus der sie entstanden war. Die Bewegung wird in ein professionelles System delegiert, das zwar bis heute formal (zum Beispiel mit den Sozialwahlen der Krankenkassen) demokratische Selbstbestimmungsrechte der Mitglieder integriert, aber in der Alltagspraxis von ‹Expert*innen› geleitet wird und den Einflüssen mächtiger Lobbygruppen unterliegt. Diese Expert*innen können dabei durchaus auch frühere Bewegungsaktivist*innen sein, die in diesen Strukturen ihre ökonomische Sicherheit finden, wie beispielsweise in der AIDS-Bewegung deutlich wurde.

«Über die Partikularinteressen der jeweiligen Selbsthilfegruppen hinaus gibt es heute aber kaum eine gemeinsame Gesundheitsbewegung.»

Debatten, etwa über den Umfang von Krankenkassenleistungen und Prioritätensetzungen zwischen krankheitsheilenden und vorbeugenden Elementen einer guten Gesundheitsversorgung, werden so von diesen Interessengruppen im Gesundheitswesen geführt. Dabei dominieren ökonomische Interessen. Die Perspektive der Nutzer*innen des Systems bringen vor allem Menschen mit chronischen Krankheiten ein, die sich in Patient*innenorganisationen zusammenschließen und ‹für ihre eigene Sache› kämpfen. Über die Partikularinteressen der jeweiligen Selbsthilfegruppen hinaus gibt es heute aber kaum eine gemeinsame Gesundheitsbewegung. In der Tendenz konkurrieren sie sogar um Fördergelder, Zugang zu Aufmerksamkeit und die Setzung von Forschungsschwerpunkten.

Gesundheitsrechte im globalen Kontext

Auch beim Blick über den deutschen und europäischen Kontext hinaus wird deutlich, dass Gesundheitsbewegungen zu einem Feld umkämpfter professioneller Interessen geworden sind:

Durch globalen Handel und koloniale Eroberungen waren die europäischen Händler*innen, Seeleute, Soldaten und Siedler*innen tropischen Krankheiten ausgesetzt. Die Tropenmedizin wurde zu einer unverzichtbaren Voraussetzung und Komponente einer ‹erfolgreichen› Ausbeutung fremder Gegenden, ihrer Ressourcen und ihrer Menschen. Die Erforschung von Cholera und Pest, die Entwicklung von Medikamenten gegen Malaria und Schlafkrankheit und Impfungen gegen Gelbfieber reduzierten die enormen Sterblichkeitsraten der Europäer*innen und wurden zugleich zum Nachweis ihrer vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber der lokalen Bevölkerung.

Auch die Trennung der kolonialen (weißen) Stadtviertel von denen der ‹Eingeborenen› wurde mit hygienischen Maßnahmen begründet. Dabei ging es zuvorderst um die Kontrolle von Epidemien, später dann auch um den Erhalt und die Förderung von Arbeitskraft. Dafür wurden erste Gesundheitsinstitutionen und Medizinschulen in den Kolonien gegründet. Christliche Missionskrankenhäuser waren ebenso wie die Missionsschulen ein wesentlicher Teil der soft power kolonialer Herrschaft, mit der die Überlegenheit des europäischen Wissens und der ‹weißen Medizin› gegenüber indigener Heilkunde demonstriert werden sollte.

Zugleich formierten sich inner- und außerhalb dieser Einrichtungen aber auch die ersten Generationen lokaler Gesundheitsprofessioneller, die sich kritisch mit dem Zugang zu und zunehmend auch mit den Grenzen und problematischen Aspekten dieser Medizin auseinandersetzten. Sie richteten sich zunächst gegen die kolonialen Eliten, nach der Unabhängigkeit ab den 1940er Jahren dann auch gegen die neuen nationalen Eliten.

«Gesundheit für Alle» wurde zu einem Kampfbegriff für eine gerechtere Gesellschaft: Schon in der Zeit der antikolonialen Kämpfe ging es nicht nur um die Überwindung der kolonialen Herrschaft und Segregation, sondern auch um die Umverteilung von Mitteln und Personal – weg von den kolonialen/urbanen Zentren hin zu den ländlichen Gebieten, in denen die Masse der Menschen lebte. In vielen Ländern des Globalen Südens hat sich dies zu einem breiten Kampf um gleichberechtigte Teilhabe an Gesundheitschancen entwickelt.

Aneignung und Enthierarchisierung

Perspektivisch ging und geht es bei den Kämpfen um ‹Gesundheit für Alle› nicht nur um materielle Ressourcen, sondern immer auch um die Aneignung des Herrschaftswissens in einer doppelten Bewegung: Zuerst um den Zugang zu den Zentren des Wissens durch eine neue, einheimische Bildungselite. Häufig an den Schulen und Universitäten europäischer Länder ausgebildet, waren etliche von ihnen später in ihren Heimatländern zentrale Akteure in den fortschrittlichen Strömungen der Befreiungsbewegungen. Viele aus der älteren Generation schlossen sich dem globalen Netzwerk People’s Health Movement (PHM) an, das sich zur Jahrtausendwende unter diesem Namen zusammengefunden hatte. Die ‹Bewegung› geht also in erster Linie von Gesundheitsprofessionellen aus, die selbst in den Strukturen und Hierarchien des Globalen Nordens ausgebildet wurden und gearbeitet haben.

Aus der Kritik am elitären Charakter dieses Wissens hat sich im Globalen Süden eine starke Bewegung für die Enthierarchisierung des Wissens und der Gesundheitspraktiken gebildet, deren Inhalt im Konzept der Primary Health Care (PHC, der Basisgesundheitspflege) zusammengefasst ist.. Es stellt Community Health Worker in den Gemeinden ins Zentrum der Aufmerksamkeit und will damit nicht nur die Personalprobleme der Gesundheitsdienste in den neuen unabhängigen Staaten bewältigen, sondern zugleich auch die Perspektive der Gemeinden als Akteure ihrer eigenen Gesundheitsbedürfnisse stärken. Aber zu einer tatsächlichen gemeinsamen Mobilisierung solcher ‹Basisgesundheitsarbeiter*innen› kam es (wie aktuell etwa in Südafrika) vor allem, wenn es Konflikte um die Anerkennung als gleichwertige Gesundheitsprofessionelle und ihre Integration in die öffentlichen Gesundheitsdienste gab.

Ganz ähnlich ist die Dynamik in den aktuellen europäischen Gesundheitskämpfen: Diese werden wesentlich von den Beschäftigten im Gesundheitswesen geführt, mit Unterstützung der gewerkschaftlichen Institutionen und punktuell auch von Linksparteien. Versuche, darüber hinaus breitere gesellschaftliche Mobilisierungen zu erzielen, waren vor allem bei der Unterstützung lokaler Arbeitskämpfe erfolgreich, wie etwa das Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus rund um den Charité-Streik 2013. Eine Verstetigung solcher Bewegungen erfordert einen langen Atem. Ebenso mühsam ist die Organisation in grenzüberschreitenden Formationen wie dem People's Health Movement Europe (in dem sich aktuell eher einzelne Aktivist*innen und traditionell mit dem PHM verbundene entwicklungspolitische Organisationen engagieren) oder dem European network against the privatization and commercialization of Health and social protection, das aus traditionellen links-gewerkschaftlichen Akteur*innen in einer kleinen Zahl europäischer Länder besteht.

Der größere Kontext

Provokativ formuliert: Die Erfahrungen mit Gesundheitsbewegungen zeigen, dass sie über (die immer notwendigen) Kämpfe für Eigeninteressen der dort Beschäftigten hinaus nur dann Bedeutung erlangen, wenn sie sich über das enge Feld des eigenen Arbeitsplatzes ausweiten. Dafür ist das Konzept der Primary Health Care durchaus geeignet, da es den Blick über die medizinisch-klinische Praxis hinaus auf die grundlegenden Ursachen von Gesundheit und Krankheit richtet. Denn es sind die sozialen, ökonomischen und politischen Determinanten, die im Wesentlichen bestimmen, ob Menschen die Chance auf ein gesundes Leben haben.

«Gesundheitsarbeiter*innen ganz unterschiedlicher Kontexte radikalisieren sich erst dann, wenn sie über ihre eigene Arbeitssituation hinaus aktiv werden.»

Viele klinisch tätige Gesundheitsprofessionelle im Globalen Süden politisierten sich durch die alltägliche Erfahrung, dass sie Infektionserkrankungen, Unfälle oder chronische Leiden zwar akut behandeln können, die Menschen aber mit den immer gleichen Problemen zurückkommen, solange sich an den Ursachen wie Unterernährung, schlechten Wohnverhältnissen, Umweltbelastungen oder gefährlichen Arbeitsbedingungen nichts ändert. Viele der als ‹Einheimische› oder in karitativer Mission tätigen ‹Entwicklungshelfenden› suchten einen Weg zur Änderung dieser Verhältnisse auf politischer Ebene. Gesundheitsarbeiter*innen ganz unterschiedlicher Kontexte radikalisieren sich erst dann, wenn sie über ihre eigene Arbeitssituation hinaus aktiv werden:

In Südafrika gelang es beispielsweise der National Medical and Dental Association und dem Progressive Primary Health Care Network gegen die etablierte, mit dem Apartheid-Regime verbundene Ärzteorganisation Medical Association of South Africa öffentlichkeitswirksam beim Weltärztebund vorzugehen. Sie beteiligten sich auch an den Kämpfen des wichtigsten legalen Oppositionsbündnisses Südafrikas, der United Democratic Front, gegen das rassistische Regime.

In Lateinamerika gingen die, mit den Erfahrungen der aus dem faschistischen Europa exilierten, marxistischen Psychiater*innen in der Nachkriegszeit neue Wege in der Arbeit mit Salud Mental (psychischer Gesundheit). Sie boten in den Kämpfen gegen die Militärdiktaturen in Süd- und Mittelamerika nicht nur solidarischen Beistand und professionelle Hilfe nach Traumatisierungen an, sondern stellten die Anerkennung der Opfer als politisch Handelnde ins Zentrum der therapeutischen Arbeit, weil sie selbst politisch aktiv gewesen waren im Kampf gegen die Diktaturen Europas.

Für die Aktivist*innen des People’s Health Movement in Ecuador stehen schon seit 2013 die Auseinandersetzungen lokaler indigener Gemeinden mit der gesundheitsschädlichen Erdöl- und Mineralienförderung in ihren Gebieten im Amazonastief­land im Vordergrund. Gegen jeden Widerstand setzen die Regierungen erst unter Präsident Rafael Correa (2007-2017) und heute unter Lenín Moreno massiv auf die Rohstoffausbeutung als Einkommensquelle für den Staatshaushalt. Statt altbekannter Konzerne des Globalen Nordens sind es nun chilenische und chinesische Firmen, die mit Unterstützung der Staatsgewalt das schmutzige Geschäft erledigen, lokale Gemeinden vertreiben und die Böden vergiftet zurücklassen. Eine breite Allianz aus Umwelt-, Frauen-/Gender- und Gesundheitsaktivist*innen hat sich dem Widerstand dieser Gemeinden und ihrer Organisationen angeschlossen und untersucht Gesundheitsschäden, beteiligt sich mit mobilen ‹Gesundheitsbrigaden› an den Protesten und unterstützt die traditionellen Hebammen als Teil eines interkulturellen und plurinationalen Gesundheitssystems, das den Beginn einer Alternative zum herrschenden medizinisch-industriellen Komplex darstellen könnte.

Dies ist auch im größeren Kontext einer in den jeweiligen Ländern spezifischen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und den Krisen der ‹Rosa Welle›, des lateinamerikanischen Zyklus von sozialistischen und linkssozialdemokratischen Regierungen zu sehen. In Brasilien, Venezuela, Bolivien und Ecuador waren für die sozialen Umverteilungsprogramme die zunehmende Ausbeutung natürlicher Ressourcen bei aller Unterschiedlichkeit ein zentrales Element. Damit sind sie an Debatten beteiligt, die seit dem Klima-Aktivismus 2019 auch bei uns zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Die beschriebenen Gesundheitsbewegungen und Kämpfe für das ‹Recht auf Gesundheit› entstanden im Zuge konkreter Konflikte, deren Ausgangspunkt traditionelle Gesundheitsarbeitskämpfe waren. Es scheint, als gelinge eine Verbreiterung der Kämpfe nur dann, wenn sie über das enge Korsett des eigenen Handelns im Gesundheitssystem hinausreichen – als eine gemeinsame Anstrengung zur Erringung des ‹guten Lebens›, des ‹buen vivir›, wie es die Aktivist*innen in lateinamerikanischen Ländern nennen.

Sich an solchen Kämpfen zu beteiligen, bleibt unser aller Herausforderung.