Durch die Privatisierung von Staatsunternehmen im Infrastrukturbereich gelang es den neoliberalen Regierungen kurzfristig die prekäre Lage der Staatshaushalte zu entlasten. Sie konnten aber keines der drängenden Probleme wie Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheit und Kriminalität, Perspektivlosigkeit für die junge Generation, Altersarmut, Niedergang des Bildungs- und Gesundheitswesens, Deindustrialisierung, Verarmung der Mittelschichten usw. lösen.

Die neoliberale Politik veränderte die sozialen Beziehungen nachhaltig. Feste Lohnarbeitsverhältnisse wurden noch seltener, prekäre Beschäftigung, Scheinselbstständigkeit oder Saisonarbeit die Regel. Dies schwächte die Gewerkschaften, da Streiks als Kampfmittel schwerer erfolgreich einzusetzen waren. Das bedeutete aber keinesfalls, dass es keinen Widerstand gegen die neoliberale Verarmungspolitik gegeben hätte. Zu den traditionellen Akteuren sozialer Kämpfe wie etwa Gewerkschaften kamen neue hinzu wie Landlosenbewegungen, indigene Vereinigungen, Stadtteilkomitees, Nachbarschaftsräte. Diese entwickelten auch alternative Aktionsformen wie Besetzungen, Straßenblockaden, Belagerungen öffentlicher Gebäude.

Das Scheitern des Neoliberalismus

Von der Unzufriedenheit profitierten auch linke Wahlalternativen. Die Linke war lange in der Defensive gewesen. Die Repression in der Phase der Militärdiktaturen, der Zusammenbruch des realen Sozialismus und die zeitweilige Hegemonie politischer Konzepte, die Individualisierung und Entstaatlichung proklamierten, hatten linke Politikansätze an den Rand gedrängt. Dazu kamen eigene Defizite, wie elitäre Avantgardeansprüche gegenüber den sozialen Bewegungen, fehlende Demokratie und machistische Strukturen. Deshalb und weil der Überlebenskampf kaum noch Zeit für politische Aktivitäten ließ, liefen viele Mitglieder weg. Die genannten Defizite sind heute keineswegs überwunden und die linken Bündnisse verfügen nicht annähernd über die Massenbasis, wie sie etwa die chilenische Unidad Popular in den frühen 1970er Jahren hatte. Von den bei Wahlen antretenden Linksparteien erwarteten die sozialen Bewegungen, aber auch große Teile der Bevölkerungen eine Abkehr vom neoliberalen Modell: Seit 1999 kamen in sieben Ländern Lateinamerikas und der Karibik linke Bündnisse an die Macht: in Venezuela, Brasilien, Uruguay, Bolivien, Haiti, Nicaragua und Ecuador. Dazu kommen noch Mitte-Links- Regierungen in Argentinien und Chile, in denen es sowohl linke als auch eher konservative bzw. liberale Tendenzen gibt.

Der erste Wahlsieg der Linken gelang im Februar 1999 dem Ex- Militär Hugo Chávez in Venezuela. Das Land ist einer der wichtigsten Ölproduzenten weltweit, der staatliche Erdölkonzern PDVSA erwirtschaftet den größten Teil der Staatseinnahmen. Chávez lenkte diese Gelder, von denen bis dahin vor allem die Ober- und Mittelschichten profitiert hatten, teilweise in Sozial-, Gesundheits- und Bildungsprojekte für die arme Bevölkerung um. Seine Regierung verabschiedete ein Agrarreformgesetz, das es Landlosen ermöglicht, brachliegendes Land zu beanspruchen und dafür Eigentumstitel zu erhalten. Abgesehen von der Landreform hat die Regierung Chávez nicht in die Eigentumsverhältnisse eingegriffen.

Außenpolitisch fördert sie die lateinamerikanische Integration und greift die US-Politik an, gleichzeitig bleibt Venezuela neben Mexiko wichtigster Öllieferant der USA und erfüllt alle diesbezüglichen Verträge gewissenhaft. Die Regierung Chávez bezeichnet ihre eigene Politik als „bolivarianisch“ bezugnehmend auf Simón Bolívar, den Führer der bürgerlich-antikolonialen Bewegung. Dessen Ziel war ein geeintes Südamerika, weil es nur so sich gegen die USA behaupten könne.

Der Ausnahmefall Venezuela

Hugo Chávez hat verschiedene Initiativen ergriffen, um die Einheit und Zusammenarbeit der lateinamerikanischen Länder voran zu bringen. Dazu gehört etwa Petrocaribe, das den karibischen Staaten günstige Öllieferungen und Kredite anbietet. Der spanischsprachige Fernsehkanal Telesur, an dem neben Venezuela auch Argentinien, Cuba und Uruguay beteiligt sind, soll die Vorherrschaft von CNN in Lateinamerika brechen. Wichtigstes lateinamerikanisches Integrationsprojekt ist aber die Bolivarianische Alternative für die Amerikas (ALBA). Sie steht in Konkurrenz zu der von George W. Bush angestrebten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA.

Das erste konkrete Ergebnis von ALBA ist der am 28. und 29. April 2006 in Havanna unterzeichnete Handelsvertrag zwischen Bolivien, Cuba und Venezuela. Auch wenn möglicherweise noch einige weitere Länder ALBA beitreten werden, wird es kaum das Integrationsprojekt für Lateinamerika werden, weil die wichtigsten regionalen Mächte Argentinien und Brasilien sich nicht in ein von Venezuela initiiertes Vorhaben integrieren werden.

Zur lateinamerikanischen Alternative zum inzwischen faktisch gescheiterten US-Projekt ALCA dürfte sich eher der Mercosur entwickeln, dem ursprünglich Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay angehörten. Trotz aller ALBA-Rhetorik sind im vergangenen Jahr auch Bolivien und Venezuela dem Mercosur beigetreten, die Regierungen Chiles und Ecuadors nahmen an der letzten Mercosur-Konferenz als Beobachterinnen teil.

Im Netz der Widersprüche

Bedeuten die linken Regierungen nun tatsächlich eine Abkehr vom Neoliberalismus und eine neue Politik für Lateinamerika? Die ersten Erfahrungen geben keinesfalls Anlass für allzu großen Optimismus. In Brasilien und Uruguay sind die bisherigen Ergebnisse eher enttäuschend, in Venezuela und Bolivien gibt es dagegen sehr konkrete Fortschritte. Dabei muss man im Falle Venezuelas die Ölpreisentwicklung berücksichtigen, die der Regierung Chávez weitgehende wirtschaftliche Möglichkeiten in die Hand gibt. Insofern ist Venezuela kein „Modell“, weil andere Länder diese Ölmilliarden schlicht nicht haben.

Die Spielräume der linken Regierungen werden oft maßlos überschätzt. Zwar hat keine die neoliberale Politik ihrer Vorgängerinnen umstandslos fortgeführt. Es wurde nicht weiter privatisiert, in einigen Fällen wurden Privatisierungen sogar rückgängig gemacht. Bei der Agrarreform in Venezuela wurde in sehr bescheidenem Umfang brachliegendes Land von GroßgrundbesitzerInnen enteignet und an Landlose oder Kleinbauern und -bäuerinnen übergeben. Ähnliches wird auch in Bolivien geschehen.

Aber weitergehende Umverteilungen und Eingriffe in Eigentumsverhältnisse hat es nicht gegeben und wird es wohl in absehbarer Zeit auch nicht geben. Nicht einmal die Einführung einer progressiven Besteuerung von Einkommen, die in den Programmen linker Bewegungen, wie etwa der Frente Amplio in Uruguay, gefordert wird, konnte bislang durchgesetzt werden. Steuern werden weiterhin fast ausschließlich auf Konsum, d.h. über Mehrwertsteuern, und nicht auf Einkommen erhoben.

Die ökonomischen Handlungsspielräume der linken Regierungen sind begrenzt. Sie können die langfristigen Verträge ihrer Vorgängerinnen mit internationalen Unternehmen und Banken nicht einfach rückgängig machen, weil sie dann vor Institutionen wie der WTO oder internationalen Gerichten verklagt und regresspflichtig gemacht würden. Sie sitzen – mit Ausnahme Venezuelas – weiterhin in der Schuldenfalle. Jedes Quartal werden Zinszahlungen fällig, Gelder, die dringend für Investitionen in die öffentliche und soziale Infrastruktur benötigt würden.

Selbst das arme, völlig ausgeblutete Haiti, wo 60% der Bevölkerung mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen müssen, hat 2005 allein 22,9% seines Staatshaushalts für den Schuldendienst aufbringen müssen. Täglich sterben dort Menschen, weil das Geld, das für ihr Essen oder ihre Medikamente gebraucht würde, an internationale Banken fließt. Welchen Spielraum hat unter diesen Bedingungen die neue Linksregierung unter René Préval, wenn dazu noch ausländische Truppen im Land stehen?

Die Angst vor der Rechten

Der Sturz der Regierung von Salvador Allende 1973 in Chile oder auch der Putsch gegen Chávez 2002 in Venezuela haben gezeigt, dass Lateinamerikas Eliten nicht bereit sind, politische Veränderungen hinzunehmen, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Sie scheren sich dann nicht um demokratische Wahlen, sondern versuchen, solche Regierungen mit Gewalt zu stürzen – oft mit Unterstützung der jeweiligen US-Regierungen. In Chile hatten sie damit 1973 Erfolg, in Venezuela sind sie 2002 gescheitert. Um solche Polarisierungen zu verhindern, versuchen manche linke Regierungen, etwa in Brasilien und Uruguay, alles zu vermeiden, was die Rechten verärgern könnte.

Die Länder Lateinamerikas sind in den Weltmarkt integriert und von ihm abhängig – z.T. auch Cuba. Aber zumindest können die linken Regierungen den Ausverkauf ihrer natürlichen (Rohstoffe) und gesellschaftlichen (öffentliche Unternehmen) Reichtümer stoppen und versuchen, bessere Bedingungen bei der Vermarktung ihrer Ressourcen durchzusetzen. Hierfür sind die Vorrausetzungen heute günstiger als noch vor zehn Jahren, weil die Preise für viele Rohstoffe wegen der wachsenden Nachfrage Chinas und anderer asiatischer Ökonomien steigen.

Damit fortschrittliche Regierungen diese Gewinne für ihre Projekte einsetzen können, müssen sie erst einmal an sie herankommen, denn bislang profitieren vor allem internationale Förderunternehmen von den steigenden Preisen. Die neue bolivianische Regierung unter Evo Morales hat mit ihrer Nationalisierungsankündigung vorgemacht, wie es geht, Konzerne zu Verhandlungen über bessere Vertragsbedingungen für die Produzentenländer zu zwingen.