Traditionelle Organisationen spielten bei der Vorbereitung der Proteste eine bedeutende Rolle, die globalisierungskritischen Bewegung organisierte sich aber meist außerhalb von ihnen. Zwischen den AktivistInnen und den traditionellen Organisationen gab es keine direkte oder kontinuierliche Beziehung. Gemeinsame dauerhafte organisatorische Orte kamen nicht zustande. Die Sozialforen existierten nur kurz und verloren rasch an Vitalität. So entstand eine neue Aktivistenfigur, die alte Maßstäbe durcheinander brachte und nicht ohne weiteres bereit war, die individuelle Verantwortung an „SprecherInnen“ oder andere zu delegieren. Diese Praktiken direkter Demokratie bildeten einen neuen Raum, der zur Krise der traditionellen, auf Vollmacht basierten Repräsentanz beigetragen hat.
Statt der Zentralität der Arbeit stellte die globalisierungskritische Bewegung die commons1 der Kommodifizierung und Prekarisierung des Lebens entgegen. Die scheinbar „ethischen“ Gründe der Mobilisierung brachten in Wirklichkeit die zunehmende Kapitalisierung aller Lebensbereiche auf die Tagesordnung.
Dabei waren die Vorbehalte der Bewegung gegenüber traditionellen Formen der Politik keine „Anti-Realpolitik“. Vielmehr verstand sie die Aktionsformen als integraler Bestandteile des zu erreichenden Ziels, die die Bewegungen und Subjekte nicht enteignen sollten. So gestalteten sich auch die Beziehungen zur institutionellen Linken: Die Bewegung stellte sich ihr nicht entgegen, sondern trieb sie vor sich her. Zugleich ließ sie sich ihre eigenen Erfolge nicht ohne weiteres entreißen. Dem zugrunde lag die sowohl in moderaten als auch in radikaleren Teilen der Bewegung vorherrschende Einschätzung, dass sich die Machtfrage nicht in der alten Vorstellung als „Eroberung“ stellen ließ. Vielmehr sollte die Macht von einer Masse aufgelöst werden; einer Masse, die nicht breit ist, die Schaffung neuer Beziehungen in die Zukunft zu verschieben.
Kampff elder seit Genua
Die globalisierungskritische Bewegung begann, die Prekarisierung der Existenz zu thematisiern. Sie hat vor allem ein „ansteckendes“ soziales Klima geschaffen – und damit notwendige Bedingungen für das Aufkommen neuer Konflikte. Anhand von drei seit Genua entstandener Kampffelder – Prekarisierung der Arbeit, Krieg und Verwüstung der Natur – ist es möglich, die Verwandlung der Handlungslogiken, der Motivationen und der Subjektkonstituierung aufzeigen.
Nach Genua war eines der wichtigsten politischen Themen die Verteidigung des Kündigungsschutzgesetzes. Die Initiative dazu ging von der Spitze des größten Gewerkschaftsdachverband CGIL aus, die von der Regierung von Silvio Berlusconis immer stärker unter Druck gesetzt wurde. Die CGIL war überraschender Weise in der Lage, in dieser Frage weit über die gewöhnliche Gewerkschaftsbasis hinaus zu mobilisieren. Auch junge Menschen und prekäre ArbeiterInnen, für die die Schutzregelungen nicht galten, gingen auf die Straße. Es handelte sich hierbei um die erste gemeinsame Begegnung von „alter“ Arbeiterbewegung und den neuen Bewegungen. Im März 2002 kam es in Rom zu einer der größten Demonstrationen in der italienischen Geschichte. Trotz des massiven Widerstands konnte sich die Regierung durchsetzen und eine verstärkte Deregulierung der Arbeitsverhältnisse auf den Weg bringen. Nachdem es im Dezember 2003 zu zahlreichen wilden Streiks bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben gekommen war, fand im März 2004 ein Streik der FIAT-ArbeiterInnen in Melfi und Umgebung statt. Ende April zerschlug die Polizei den Streik, der aber kurz darauf wieder aufflammte – nicht zuletzt aufgrund eines nationalen Solidaritätsstreiks der MetallarbeiterInnen. Danach sah sich FIAT genötigt, Verhandlungen aufzunehmen.
Die von Spontanität und Revolte gekennzeichneten Kampfformen waren die der sozialen Bewegungen der letzten Jahre. Hinzu kam das Gewicht der Metallarbeitergewerkschaft FIOM, die als einzige Gewerkschaft jenseits der Basisgewerkschaften schnell und direkte Beziehungen mit den neuen Bewegungen aufgenommen hatte. Seit Genua ist sie ein zentraler Bündnispartner. Gleichzeitig versucht FIOM, Kontakte zu jungen ArbeiterInnen aufzubauen, um dadurch die Prekarisierung zu thematisieren und die eigene Praxis kritisch zu diskutieren. Nicht ohne Grund wird die der GGIL zugehörige FIOM seit einiger Zeit als „vierter Gewerkschaftsdachverband“ bezeichnet.
Kristallisationspunkte Prekarität und Krieg
Ohne den Mayday in den Blick zu nehmen, der seit dem Jahr 2001 in Mailand das ermüdente Defilee der traditionellen 1.-Mai- Demonstration ersetzt und inzwischen in viele Städte Europas Nachahmer gefunden hat (Euromayday), kann die Dynamik des Post-Genua-Konflikts jedoch nicht verstanden werden. Die Initiative dazu ging von den ChainWorkers, MedienaktivistInnen aus den Centri Sociali und den Basisgewerkschaften aus. Innerhalb weniger Jahre ist der Mayday zu einer zentralen Einrichtung geworden, mit der sich eine neue Generation von prekarisierten und in der Arbeit vereinzelten ArbeiterInnen Selbstbewusstsein verschafft. Diese Initiative hat gleichzeitig eine Diskussion über ein Existenzgeld für alle ausgelöst.
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund gewann die Mitte- Links-Koalition vor einem Jahr knapp die Wahl. Trotz des sozialen Blocks, den sie anspricht, führte die Koalition die Politik der Berlusconi-Regierung fort. Dies belastet die Beziehungen zwischen der gemäßigten (Rifondazione, CGIL) und der radikalen Linke. Gleichzeitig traf die Bewegung mit der Mobilisierung gegen den Irakkrieg zum ersten Mal auf ein in weiten Teilen der Gesellschaft vorhandenes und alle politischen Lager überwindendes Gefühl. Die mit dem Krieg verbundenen Ängste blieben jedoch nicht privat sondern flossen in eine kollektive und starke Antikriegsbewegung, deren Charakteristika durch die globalisierungskritische Bewegung bestimmt war. Seit der Mobilisierung vom 15. Februar 2003 diskutiert die Bewegung darüber, wie ihre Autonomie gegenüber der institutionellen Politik bewahrt und das Binom Einheit-Radikalität vorangetrieben werden kann. Die Schwierigkeiten blieben. Die Demonstrationen im März 2004 nach den Anschlägen in Madrid und im Juni 2004 gegen den Bush-Besuch setzten der breiten Bewegung ein Ende. Was bleib, ist eine diffuse Sensibilität für das Thema Krieg.
Nach dem erfolgreichen Kampf in Scanzano Ionico, einem kleinen Ort in der Basilicata, wo die Berlusconi-Regierung eigenmächtig das nationale Endlager für Nuklearabfälle ansiedeln wollte, war der Widerstand gegen den Bau einer Hochgeschwindigkeitszugtrasse von Lyon nach Turin einer der relevantesten Auseinandersetzungen nach den Ereignissen von Genua gewesen. Gegen das Projekt der Regierung Berlusconi und der regionalen Mitte-Links-Verwaltung erhob sich im Herbst 2005 unter dem Slogan „No TAV in Val di Susa“ die gesamte Bevölkerung. Vor allem folgende Punkte sind für die Beurteilung des Widerstand von Interesse:
- Die Bewegung konnte durch eine direkte und selbstorganisierte Massenaktion die vom Militär besetzten Räume wieder aneignen. Damit wurde der globale Kampfzyklus zwischen Widerstand gegen die Macht und Herstellung einer „anderen Legalität“ von Unten erweitern.
- Es entstanden eine Einheit jenseits traditioneller Bezugspunkte und neue Kooperationen zwischen Individuen.
- Die Bewegung brachte Kommunikation und Gegen-Wissen („controsaperi“) hervor; von einem spezifischen Ziel aus – Verhinderung des Bauarbeiten – konnte sie die allgemeinen Themen der globalisierungskritischen Bewegung wieder aufnehmen.
- Bei den Auseinandersetzungen im Val di Susa handelt es sich um einen territorialen Kampf, der gleichzeitig nicht identitär oder „lokalistisch“ ist, sondern vielmehr die Frage der commons und der Demokratie aufgriff und breit verankerte.
Wenn das Territorium das Globale aufnimmt
Es ist kein Zufall, dass Anfang 2007 die Mobilisierung gegen den Bau einer neuen US-Militärbasis bei Vicenza die Form des lokalistischen Protests verließ und sich als Kampf gegen den globalen Krieg weiterentwickelte. Territorialer und globaler Kampf, horizontale Partizipation und Kritik der Repräsentanz, Verteidigung der commons und Autonomie gegenüber der institutionellen Linken werden im expliziten Anschluss an die Praktiken direkter Demokratie der No-TAV-Bewegung vereinigt. Genua ist also keineswegs Geschichte, denn jedes Mal, wenn Konflikte entstanden, tauchten die Themen der globalen Bewegungen in verschiedenen Formen wieder auf. Diese bezogen sich auf die menschliche Existenz und die soziale Reproduktion als Kampffelder gegen die kapitalistische Marktlogik. Was in Italien ein Ende gefunden hat, ist der konkrete Zusammenhang der globalisierungskritischen Bewegung von Genua. Nicht beendet ist jedoch die Geschichte der Beziehungen zwischen den „alten“ und neuen sozialen und politischen Subjekten, die letztlich unterschiedlich, oft ungreifbar, fast immer nicht organisiert sind, und die den wirklichen Überschuss und das Element der Vernetzung zwischen neuen Kämpfe und Kooperationen bilden.