Einige von uns, die vorher bei Occupy engagiert waren, haben sich zusammengefunden und eine linke Organisation gegründet. Wir begannen als Lesekreis, um unsere politische Vergangenheit zu verstehen, und um zu sehen, was funktioniert hat und was nicht. Nicht nur damit wir vergangene Fehler nicht wiederholen, sondern auch um weniger rigide in unserer Analyse und Form zu sein.
Unser Ausgangspunkt war die Ablehnung von Kapitalismus, weißer Vorherrschaft, Patriarchat und Nationalstaat, das Streben nach ökonomischer und politischer Selbstbestimmung, die Förderung von Werten und Praktiken der racial equality und des Feminismus. Dabei wollten wir auch Alternativen aufzeigen und verstanden uns als ein Teil einer notwendig breit und pluralistisch aufgestellten Linken. Das Ergebnis war die Democratic Autonomy Federation (DAF, Föderation für demokratische Autonomie) in San Diego.
Grundlegende Fragen
Wir stellten uns Fragen zum Zweck einer politischen Organisation und zu ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Auf der Suche nach Antworten wandten wir uns anarchistischen Genoss*innen zu, die zumeist in Südamerika, vor allem in Brasilien und Chile, agieren und auch die US-amerikanische Black Rose Anarchist Federation stark beeinflusst haben. Die Anarchist*innen, mit denen wir sprachen und über die wir gelesen haben, waren insbesondere Teil der Strömung des Especifismo, die einen starken Rückhalt in Uruguay und später in Chile und Brasilien entwickelt hat.
Wir identifizierten zwei verschiedene Felder -- von Organisierung: das politisch/ideologische und das Feld der sozialen Bewegungen. Das Feld der sozialen Bewegungen ist dasjenige, das letztlich zu sozialer Transformation führt. Gesellschaftliche Transformation wird durch die Entwicklung von Massenorganisationen möglich, die nicht nur in Opposition zum Staat stehen, sondern auch in der Lage sind, Funktionen von Wirtschaft und Staat zu ersetzen. Man denke an syndikalistische Gewerkschaften, die an Größe, Macht und Ausgereiftheit gewonnen haben und damit nicht nur in der Lage sind, ein Unternehmen lahm zu legen, sondern auch, es ohne Anleitung durch Kapital und Management zu betreiben. Vergleichbar können sich Gruppen auf Gemeindeebene organisieren, um öffentliche Einrichtungen zu entwickeln – man denke an Passe Livre in Brasilien, die Bus Riders Union in Los Angeles oder Mieter*innenvereinigungen.
Allerdings bedeutet das nicht, dass es keinen Bedarf an politischer oder ideologischer Organisation gibt. Wie Lenin schon feststellte, werden soziale Bewegungen nicht notwendigerweise das Bewusstsein entwickeln, das erforderlich ist, um die gegenwärtige Gesellschaft zu verändern. Daher ist es erforderlich, dass die Linke in der Lage ist, politische und strategische Theorie zu entwickeln, ideologische Propaganda zu produzieren, sich in politischer Bildung zu engagieren, und vor allem, dieses Verständnis in soziale Bewegungen einzubringen, mit den Mitteln, die die Federacion Anarquista do Rio de Janeiro soziale Einfügung (inserción social) nennt. Durch Einfügung entwickelt eine politische Organisation ihre politische Praxis in einer sozialen Bewegung, worin sie als aktive Minderheit arbeitet.
Soziale Einfügung bedeutet, dass die politische Organisation nicht danach strebt, soziale Bewegungen auf ihre ideologische Linie zu bringen. Das würde diese nur zu Frontorganisationen degradieren und vermutlich zum Verlust ihrer Mitglieder führen. Soziale Bewegungen müssen ohne strikte ideologische Verpflichtung offen für die Massen sein. Wenn wir zum Beispiel aufrufen, Teil einer Studierendengewerkschaft zu werden, fragen wir die Leute nicht, wie sie wählen oder was sie über den Kapitalismus denken, bevor sie sich anschließen können. Vielmehr zielt die politische Organisation darauf ab, ihre Ideen in die sozialen Bewegungen zu tragen, als analytische und strategische Werkzeuge in die Hände der sozialen Bewegungsakteure.
Daraus folgt, dass soziale Bewegungen politische Akteure in ihren Reihen brauchen, die in der Lage sind, die Grenzen des Systems zu erfassen und Werkzeuge besitzen, diese zu überwinden. Das ist eine Funktion, die von politischen Organisationen übernommen wird. Diese sollten danach streben, die sozialen Bewegungen in der Art zu beeinflussen oder zu bilden, dass sie sich in horizontaler und demokratischer Weise organisieren sowie Strukturen schaffen, die Fragen von gender und race vorantreiben und gleichzeitig ein gegenhegemoniales Verständnis im Verhältnis zum Kapital entwickeln. Dabei muss die Autonomie der sozialen Bewegung gegenüber Kapital und Staat bestehen bleiben.
Macht, Gegenmacht, Doppelherrschaft
In diesem Zusammenhang ist ein klarer Begriff von Macht notwendig. Hierfür hat die DAF Konzepte von Gegenmacht und Doppelherrschaft verbunden. Gegenmacht im Sinne von David Graeber ist die Entwicklung von autonomen sozialen Institutionen in den Händen von Volkskräften statt in denen des Staates. Institutionen von Gegenmacht bieten eine materielle Basis für die Entwicklung von revolutionären Kräften und revolutionären Subjekten. Gegenmacht ist eine relationale Struktur, da sie ohne den Staat existiert und dennoch in Verbindung zu ihm steht. Institutionen von Gegenmacht sind vorausdeutende Organe transformativer Macht, aus denen sich neue Gesellschaften konstruieren können.
Allerdings genügt es nicht, Gegenmacht aufzubauen. Die Geschichte zeigt, dass der Aufbau von zu viel Gegenmacht zu einer gewalttätigen Reaktion führt (Spanien 1936, USA in den 1970ern, Chiapas 1994, die Türkei heute). Aus diesem Grund ist ein Einfluss auf den bestehenden Staat erforderlich. Dafür haben wir uns Lenins Konzept der Doppelherrschaft ausgeliehen. Ausgangspunkt war, dass die bürgerliche Übergangsregierung im revolutionären Russland 1917 auf die Zustimmung der Sowjets (Arbeiterräte) angewiesen war. Die Fähigkeit, in einem Transformationsprozess die staatlichen Institutionen zu kontrollieren oder zumindest zu beeinflussen, verstehen wir als Doppelherrschaft.
Die Theorie von Gegenmacht fokussiert auf den strukturellen Aufbau von horizontalen, demokratischen und sozialen Bewegungsorganisationen die mit der Zeit zu den Hauptinstitutionen werden, die das Leben der breiten Massen organisieren. Sollte das erreicht werden, würde eine Massenbasis entstehen von der ausgehend transformative Kräfte und Ansprüche entwickelt werden könnten. Allerdings erkennen wir, dass der Aufbau so einer Massenbasis uns einer Gefahr von Seiten des Staates aussetzt. An dieser Stelle interveniert die Theorie der Doppelherrschaft und rät der Linken, zur Selbstverteidigung Fähigkeiten zu entwickeln um die primären gesellschaftlichen Institutionen zu beeinflussen.
In der Praxis
In den USA hat die Summe der Studienkredite die der Kreditkartenschulden übertroffen und liegt nicht mehr weit hinter dem Hauptmotor der Schuldenakkumulation, dem Eigenheim. Die Schulden, die Studierende anhäufen, werden auf dem Kapitalmarkt gehandelt und helfen dabei, Imperialismus und Rassismus voranzutreiben, wie zum Beispiel an den Investitionen der University of California in privatisierte Gefängnisse und in den militärisch-industriellen Komplex zu erkennen ist.
Angesichts der deindustrialisierten und neoliberalen Realität in den USA beschlossen wir, dass die Demokratisierung der Universität ein lohnendes Ziel sei. Wäre die Universität einmal unter demokratischer Kontrolle, könnte sie potentiell transformativen Zielen dienen, indem sie Wissen produziert, von dem soziale Bewegungen profitieren würden, und indem sie mehr Menschen politisiert.
Vor diesem Hintergrund trat ich einer Graduierten-Studierendengewerkschaft an der UCSD (University of California in San Diego) bei, der UAW 2865 (United Auto Workers). Auf Grund des konservativen Klimas in San Diego war es schwierig, linke Positionen in der Ortsgruppe auf dem Campus in San Diego zu etablieren. Erst 2012 gelang es, eine Öffnung zu erreichen und der konservativen Fraktion die Kontrolle zu entziehen. Zentral war der Aufbau einer Ortsgruppe der AWDU (Academic Workers for a Democratic Union) in San Diego, einer linken Organisation innerhalb der Gewerkschaft, die nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte 2008 gegründet worden war. Eine wichtige Rolle im folgenden Kampf spielte auch die Ortsgruppe der IWW (Industrial Workers of the World) an der UCSD.
Gemeinsam mit den örtlichen Mitgliedern der AWDU, des IWW und anderen linken Studierenden waren wir in der Lage, Entscheidungspositionen in der Gewerkschaft zu übernehmen. Zusammen konnten wir Streiks organisieren, die nicht nur halfen, Gehaltsverbesserungen zu erreichen, sondern auch Genderthemen in den Vordergrund rückten. Indem sie all-gender-Toiletten als ein Arbeitsrecht verankerten, erweiterte die Gewerkschaft das Feld der Themen, in der sie ein Mitspracherecht hat. Dies war Teil eines positionalen Kampfes, der die Grundlage für eine weitere Demokratisierung der Universität gelegt hat, denn die Universität hatte jahrelang ihre Politik, nur über »Brot&Butter« -Themen zu verhandeln, erbittert verteidigt.
Trotzdem gab es auch Fehlschläge. Nach der Übernahme der Betriebsgruppe folgten wir meist unseren persönlichen Plänen, mich eingeschlossen. Wir fielen zurück in unsere vorherige Praxis, vor allem ins Sektierertum, statt ein gemeinsames Verständnis über die Funktion der Gewerkschaft innerhalb einer Bewegung für eine demokratische Universität zu entwickeln, ohne die anderen Studierendenorganisationen zu demokratisieren und selbständiger zu machen, und ohne Klarheit darüber zu erlangen, was unsere Rolle als Vertrauensleute innerhalb der Gewerkschaft hätte sein können.
Als im Herbst 2014 eine Erhöhung der Studiengebühren angekündigt wurde, versuchten die DAF-Mitglieder unter uns, Koalitionen unter den vielen Studierendengruppen zu entwickeln. Da wir uns durch die Situation unter Druck gesetzt fühlten, versuchten wir, außerhalb der Gewerkschaft selbständige Koalitionen zu entwickeln, auf der Grundlage von Solid-arität und gegenseitiger Unterstützung, um die Stärke sozialer Bewegungen voranzutreiben. Den Aktiven fehlte allerdings eine Theorie, wie das funktionieren könnte, und so zerfielen die Bündnisse schnell, da niemand den Wunsch oder die Zeit hatte, eine derartige Theorie zu entwickeln. Rückblickend haben wir hier (versehentlich) eine der größten Studierendenorganisationen auf dem Campus ignoriert – die Gewerkschaft – und von einem bunten Haufen überarbeiteter Studienanfänger*innen erwartet, Theorie und Praxis zu entwickeln.
Aus Angst, autoritär zu wirken, haben wir nur Einladungen zu Treffen geschickt, ohne eine klare Struktur von Zielen oder potentiellen Formen vorzuschlagen. So haben wir nach unserem eigenen Verständnis nicht die Funktion einer politischen Organisation erfüllt. Die Ergebnisse waren vage Solidaritätserklärungen untereinander, wobei aber wenig in die Praxis umgesetzt wurde. Die Entwicklung pluralistischer Strukturen, die eine gemeinsame Bestimmung von Zielen bei gleichzeitiger Wahrung von Autonomie und Einheit sowie zusammen geführte Kämpfe um gemeinsame Forderungen ermöglichen, ist eine Aufgabe, die eine soziale Bewegung in einer Krise kaum bewältigen kann – egal wie klein die Krise sein mag.
Im Ergebnis bleibt eine der drängendsten Fragen der autonomen Linken: Wie können wir Blöcke aus vielfältigen Organisationen und Bewegungen bilden, die in der Lage sind, den Status Quo herauszufordern? Einheit, Solidarität und gegenseitige Unterstützung sind, neben der Notwendigkeit Autonomie zu bewahren, dabei die Hauptanliegen. Jedenfalls können diese Blöcke, wenn sie richtig entwickelt werden, theoretisch die Basis einer neuen politischen Form sein.