Das Gespräch begann im Oktober 2015 bei der Veranstaltung »Politische Utopien in der DDR – Große Transformation und Kapitalismuskritik heute«  in Berlin. Fortgesetzt wurde es im telegraph 131/132 mit einem ersten Interview. In Anknüpfung daran soll es hier um die Frage der politischen Sozialisation und Organisierung gehen.

arranca!: ¿ Ihr seid alle im Osten aufgewachsen. Wie kam es dazu, dass ihr linke Politik gemacht habt und auch immer noch macht?

Tina: Nun ja, das kann man sich eben nicht aussuchen. Ich bin in 'nem Land geboren, das es auf der Landkarte nicht mehr gibt. In Maxim Leos Haltet euer Herz bereit ist das sehr treffend beschrieben: Der Osten »hängt an mir dran, er begleitet mich. Er ist wie eine große Familie, die man nicht abschütteln kann«.

In meiner Jugend in Thüringen hab' ich schnell gelernt, mich körperlich und geistig zu verteidigen, weil ich Nazis kacke fand. Neben meiner Antifa-Sozialisation gibt es aber noch einen anderen Punkt, der mir damals gar nicht so bedeutend vorkam wie heute. Es gibt in der eigenen Biographie so etwas wie eine »ostdeutsche Unsicherheit«, wie es André mal nannte. Die spielt eine starke Rolle für mein Leben heute. Die Stationen der eigenen Biographie, wie unsere Beziehungen zu unseren Müttern, deren Leben in der DDR und nach der »Wende«, sind da spannend zu hinterfragen. Ich hab dann oft das Gefühl, dass der westliche Wohlstand und die Freiheit das Träumen für viele kaputt gemacht haben. Heute sagt man mir, dass diese Freiheit bedeutet, alles erreichen zu können, wenn ich nur leistungsfähig, flexibel und selbstoptimiert bin. Auch vor dem Hintergrund einer Ost-Sozialisation trägt und treibt mich eine Sehnsucht nach der unerfüllten kollektiven Selbstorganisierung und Selbstverwaltung an.

Lars: Ich war 1989 Thälmannpionier und bin erst mal zu meiner Pionierleiterin gegangen und habe meinen Ausweis zurückgeben. In diese Zeit fallen dann auch meine ersten politischen Demonstrationen. Neben den wöchentlichen Demos – bei uns waren die immer donnerstags – waren das vor allem Schüler*innendemos für die Abschaffung des Samstagsunterrichts. Das ist dann auch ganz schnell umgesetzt worden. Mich hat dann die explodierende linke Subkultur in dieser Zeit angezogen. Bei aller Vielfältigkeit – Punker, Grufties, Skinheads, Hippies – gehörten doch immer noch irgendwie alle zusammen. Das Ausdifferenzieren ging dann später los. In diese Zeit fiel bei uns auch die Bewegung zum Erhalt des Radiosenders DT64, die mich, wie viele in meinem Alter, politisiert hat. Am Ende stand dabei dann die Erfahrung: Es ist egal, was wir wollen. Der Sender wurde abgeschaltet, weil irgendwelche Westler aus Hamburg jetzt entscheiden, was wir zu hören haben und was nicht. Dies stand im krassen Gegensatz zur Wendeerfahrung kurz zuvor. Das Gefühl des Aufbruchs, des »Alles ist möglich«, wurde einfach weggewischt. Ein anderes Beispiel aus dieser Zeit ist die Gründung des Deutsche Volksunion-Kreisverbandes (DVU) bei uns. Es gab massive Proteste, und wir haben den Tagungsort blockiert ; alles war fein. Dann kam das Unterstützungskommando (USK) der bayerischen Polizei und hat uns buchstäblich durch die Stadt gejagt. Naja und so waren dann die 90er für mich vor allem durch die Antifa geprägt, wobei ich hier Antifa immer als konkrete Anti-Nazi-Arbeit verstanden habe, und dabei versucht habe, für Bewegung und Projekte darüber hinaus offen zu sein.

Erwin: Ich war vor der Wende Punk und habe mich da schon als linksradikal verstanden. Stark geprägt hat mich in der Zeit die Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen weltweit, mit Nicaragua, Südafrika, Palästina, El Salvador; das war ein positiver Bezugspunkt zur DDR, diese klare internationalistische Ausrichtung. Und natürlich die radikale Linke in Westeuropa – was immer ich davon auch wusste. Dazu kam so ein Gefühl von Gerechtigkeit, das ich immer hatte, auch wenn ich dem nicht immer entsprechend handelte. Die ersten Demos, 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin, dann in Leipzig, dann auch in meiner Heimatstadt, empfand ich als unglaubliche Befreiung – und als Erfahrung von Kollektivität, die ich vorher nicht kannte.

Damals, in den Diskussionsrunden, in den überall entstehenden Gruppen und Organisationen, hatte ich das Gefühl, Geschichte zu schreiben und daran teilhaben zu können, etwas vollkommen Neues zu schaffen. Das hatte ich danach in der Form nicht wieder. Einen Staat, ein System zu Fall zu bringen – so eine Erfahrung hat man ja nicht oft in seinem Leben. Natürlich war die Enttäuschung groß, als nach dem Mauerfall der dominierende Demoslogan »Wir sind ein Volk « wurde und im März 1990 die Bürgerrechtsorganisationen nur marginale Stimmenanteile bekamen. Trotzdem war das Bedürfnis, sich einzumischen, weiterzumachen, selbstverständlich. Häuser besetzen, alternative Jugendzentren gründen, Irak-Krieg, Auseinandersetzungen mit Nazis, Flüchtlingsheime schützen und ja, die DT64-Demos. Dieses Grundgefühl, Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen zu wollen und zu können, das trägt auch heute noch.

André: Ich war zur Wendezeit zu jung, als dass ich die Zeit hätte bewusst politisch wahrnehmen können. Dennoch spielen für mich die Erfahrungen durch meine Ost-Sozialisation eine wesentliche Rolle. Denn zur Politik hat mich die permanente Auseinandersetzung mit Nazis ab Mitte der 90er Jahre gebracht. Das war keine » freiwillige « Entscheidung, sondern ergab sich aus der Situation in meiner Geburtsstadt, einem mittelgroßen Ort in Thüringen. Hier gab es eine rechte Dominanz und eine Vielzahl von »national befreiten Zonen« . Der »subversive«  Rest sammelte sich in einem Park, aber auch hier kamen immer wieder Nazis vorbei. Es bestand die ganze Zeit das Gefühl, dass die Nazis machen können, was sie wollen, und wenn Leute etwas gegen Nazis machen, dann bekommen sie Probleme. Es zeigte sich mir und meinen Freunden recht früh, dass die Nazis auf einen breiten Konsens in der Stadt aufbauen können und die große Mehrheit eher schweigt. Es war ein Ohnmachtsgefühl, gegen den Rest der Bevölkerung zu stehen. In dem Zusammenhang beschäftigte ich mich viel mit dem historischen Nationalsozialismus und ging auf Antifa-Demos; zum Großteil hingen wir aber eher im Park rum. Auch wenn wir viel »rumgammelten« , politisierte mich diese Zeit im Park stark und hielt mich am Gedanken an eine bessere, solidarische Welt fest. Ein Hass auf ostdeutsche Zustände ist geblieben.

¿  Was motiviert euch heute in eurer politischen Arbeit? Habt ihr konkrete utopische Vorstellungen? Die Hoffnung auf die Revolution oder was? Und warum seid ihr in der IL?

André: Als erstes: Ohne die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft, in der die » Herrschaft des Menschen über den Menschen« (Karl Marx) aufgehoben ist und auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse sich ändern, wäre mein politischer Alltag nicht so, wie er ist. Als zweites: Ohne die Beschäftigung mit historischen Utopien – ob kommunistisch, sozialistisch oder anarchistisch – wäre mein politischer Alltag nicht so, wie er ist. Aber als drittes: Konkrete Utopien spielen für mich dabei gar keine Rolle. Nicht, dass ich Utopien ablehne. Vielmehr geht es mir um ein Verständnis, dass Gesellschaften widersprüchlich sind und Ungleichheiten hervorrufen, die immer bekämpft werden müssen. In einer zukünftigen Gesellschaft hoffe ich, dass das schneller geht als jetzt.

Ich möchte nie in einer Gesellschaft leben, die von sich selbst behauptet, dass sie » befreit« oder ähnliches ist. Denn das ist die Lehre aus der DDR: Nur weil du ein sozialistisches System hast, heißt das nicht, dass es nicht autoritär oder rassistisch ist. Generell treibt mich aber der permanente Glaube an die Veränderung an! Alles ist vom Menschen gemacht. Also kann es der Mensch auch wieder ändern.

Tina: Bei dieser Frage ist mir zuerst der Gedanke des Sich-Organisierens gekommen : nicht alleine leben, lieben, kämpfen. Für mich waren nicht nur konkrete politische Projekte handlungsleitend, sondern auch die politische Reproduktionsarbeit nach innen in die IL, also der Versuch, eine lebendige Organisierung neuen Typs zu gestalten. Das ist ermüdend, aber häufig eben auch ein sehr konkretes, widerständiges Gefühl mit diesem Schwarm an tollen Menschen, der in der Lage sein kann, Zäune einzureißen und kollektive Dynamiken von Rebellion zu erzeugen. Das ist keine konkrete Utopie, vielmehr so etwas wie eine kollektive Fernzielbestimmung als Grundlage unserer Praxis.

In der IL suchen wir nach Hebeln, um einen Bruch erzeugen zu können. Wir debattierten seit 2009/10 Vergesellschaftung, was wir als » roten Faden«in unseren Praxen begreifen: Kampf um Enteignung und Vergesellschaftung von Energiekonzernen, eine gesamtgesellschaftliche Organisierung von Gesundheitsversorgung, die Vergesellschaftung von Wohnraum und ein queer-feministischer Blick auf bedürfnisgerechte Verteilung. Die soziale Revolution, an der ich gerade wegen der linken Geschichte weiter festhalte, wird nicht punktgenau landen. Da bin ich voll bei André ; es kommt auf eine radikale Politik an, die uns im Effekt dem Bruch näher bringt. Also eher so etwas wie eine »revolutionäre Realpolitik « wie es Rosa Luxemburg beschrieb. Ich denke, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der DDR, der Dreh- und Angelpunkt für progressive Gesellschaftsveränderung liegt in der Vergesellschaftung von Alltagssorgen, von Bedürfnissen und Notwendigkeiten, und eben nicht nur letzterem.

Aufgabe von sozialen Bewegungen ist die Strukturierung politischer und sozialer Milieus, das, was Parteien und Institutionen nicht leisten. Hier liegt eine große Herausforderung für uns, denn im Vergleich zu den Kollektiven beispielsweise in Südeuropa verfügen wir kaum über Verwaltungswissen von Orten oder sozialem Leben. Ich finde daher die Bewegungen gegen die Krise in anderen europäischen Ländern immer krass inspirierend. Das zeigt aber auch, wie phantasielos wir hierzulande meist sind.

Erwin: Mal etwas einfacher formuliert: Ich hab ja früher viel internationalistische Arbeit gemacht, dabei Menschen kennen gelernt, die unter viel schlechteren und schwierigeren Bedingungen leben und kämpfen. Diese Selbstverständlichkeit, dieser Mut, den diese Menschen ausgestrahlt haben, das finde ich immer wieder ermutigend. Eine konkrete Utopie habe ich nicht. Ich will jetzt nicht sämtliche Bausteine von einer solidarischen Gesellschaft, in der alle Menschen die gleichen Bedingungen für ein glückliches Leben haben, aufzählen. Das sagt ja nicht viel; die Frage ist eher der Weg dahin. Da halte ich es mit den Zapatist*innen: fragend voranschreiten.

Und zur IL: Die mit 1989 verbundene Erfahrung, dass ein zunächst progressiver gesellschaftlicher Umbruch ganz schnell in eine Restauration münden kann, wenn es keinen hegemoniefähigen oder zumindest um die Hegemonie kämpfenden gesellschaftlichen Akteur gibt, macht natürlich die Frage auf, wie eine solche Konterrevolution verhindert werden kann. Vor dem Hintergrund, dass gesellschaftliche Umbrüche wohl eher nach dem Muster '89 oder » arabischer Frühling «, also abrupt und in krisenhaften Situationen, ablaufen und nicht durch Wahlen oder einen Putsch einer vermeintlichen Avantgarde der Arbeiter*innenklasse, ist es unsere Aufgabe, uns auf so eine Situation vorzubereiten. Dies bedeutet gleichzeitig, schon jetzt eine gesellschaftliche Verankerung und eine Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Das ist nur möglich, wenn wir eine gewisse gesellschaftliche Breite und Legitimität aufweisen können, gut aufgestellt sind, und wenn wir durch Kämpfe im Hier und Jetzt die Vorstellung und das Bedürfnis nach gesellschaftlichen Alternativen, die sich an Fragen der Teilhabe, der Gerechtigkeit, der Emanzipation und der Solidarität definieren, etabliert haben. So verstehe ich zumindest den Anspruch der IL und deswegen bin ich da organisiert.

Lars: Dem bleibt nicht mehr viel hinzuzufügen. Vielleicht noch, dass sich gerade die integrativen Elemente unserer Politik in den 1990ern in der IL wiederfinden. Im Anti-Nazi-Kampf war es unabdingbar mit allen, die was gegen Nazis hatten, zusammenzuarbeiten und einen » Anti-Nazi-Konsens  in der Stadt zu etablieren. Diese prinzipielle Offenheit finde ich heute in der IL wieder.