Was das alles bringen soll? Diese Frage ist mir nicht nur in den letzten Monaten immer wieder begegnet, sondern auch in all den Jahren meiner Organisationserfahrung. Eine theoretische Antwort zu geben, fiel mir nie schwer, doch über den wirklichen praktischen Nutzen berichten konnte ich bisher nicht. All dies änderte sich mit dem 9. September 2015. An diesem Tag änderte sich für die Interventionistische Linke Lübeck fast alles, als die ersten Transit-Geflüchteten den Lübecker Bahnhof erreichten.
Zur Lage vor Ort
Mehrere hundert Geflüchtete kamen innerhalb weniger Stunden von Hamburg am Lübecker Bahnhof an. Ihnen wurde die Weiterreise nach Schweden über Dänemark verwehrt. Das Lübecker Flüchtlingsforum und die IL Lübeck organisierten gemeinsam mit dutzenden antirassistischen Aktivist*innen die praktische Hilfe für Geflüchtete, die über Lübeck nach Skandinavien, insbesondere nach Schweden weiterreisen wollten. Da dies mit dem Zug nicht möglich war, wurden die Geflüchteten kurzum mit zum ortsansässigen autonomen linken Zentrum Walli begleitet. Innerhalb weniger Stunden entstand dort ein Solidaritätszentrum für Geflüchtete im Transit. Ich bekam zu dem zeitpunkt nur zufällig über Facebook mit, was die IL Lübeck zur Lösung der Bahnhofssituation beigetragen hatte. Als ich die Walli am 10. September betrat, standen auf dem Hof etwa 80 Geflüchtete. Zwei Busse des Lübecker Stadtverkehrs warteten vor den Toren und sollten in wenigen Minuten mit den Geflüchteten zum Fährterminal fahren. Überall wuselten Genoss*innen um mich herum. Die Atmosphäre bewegte sich zwischen einer Riesenüberforderung und der Begeisterung über die ersten Schritte des revolutionären Umbruchs. Ja, es herrschte das Gefühl, dass auch wir ein Teil der Bewegung sind, die Mutter Staat und der Festung Europa mal so richtig in den Arsch tritt.
Innerhalb weniger Stunden und Tage bildete sich ein Netzwerk auf der Walli, das unglaubliche Größen erreichte. Es entstand ein Solidaritätszentrum mit diversen Ebenen. Ein Organisationsbüro, welches die Fährtickets nach Schweden für die Geflüchteten organisierte. Eine Bahnhofscrew, welche die ankommenden Geflüchteten abholte, sie zum Zentrum begleitete und in die dortigen Strukturen einführte. In den ersten Monaten erreichten uns am Tag zwischen 200 und 400 Geflüchtete. Es entstanden Strukturen von Dolmetscher*innen, Koch- und Küchencrew, Kleiderkammer, Schlafplatzorganisation, medizinische Versorgung, logistische Organisation der Lebensmittelspenden, Betreuung der Geflüchteten und vieles mehr. Und all diese Strukturen bestanden größtenteils aus Menschen, die die Walli nie zuvor besucht oder gar wahrgenommen hatten und nun hier mit uns ein Zentrum aufbauten und miteinander zusammenarbeiteten, als ob es immer so gewesen wäre.
Unser Hauptkommunikationsorgan war von Anfang an Facebook. Es erschien uns wie ein Zauberstab. Kaum tippte mensch kurz ein, was wir benötigten, war es auch schon da. Lebensmittelspenden, Sachspenden, Autofahrer* innen, Stockbetten (die kamen aus der JVA Fuhlsbüttel) oder Menschen für eine Demo. Wir machten fast alles öffentlich und sprangen von einem Pressetermin zum anderen. Dies führte dazu, dass wir einen Riesenrückhalt in der Bevölkerung erfuhren, der uns viele Türen öffnete
Das ist unser Haus!
Schon Ende September war klar, dass unsere räumlichen Kapazitäten auf der Walli in den Wintermonaten auf keinen Fall ausreichen würden. Der Hansestadt Lübeck hatten wir, um ehrlich zu sein, schon seit Anfang September den Arsch gerettet. Sie war gnadenlos überfordert mit der Situation der Transit-Geflüchteten und froh darüber, dass die »Aktivisten der Walli« sich darum kümmerten. Dies bescherte uns von Anfang an eine »privilegierte Position« in den Verhandlungen um alles. Sei es bei der Finanzierung der Bustransfers durch die Stadt oder bei der durchgeführten Hausbesetzung.
Ja, ihr habt richtig gelesen, Hausbesetzung. Am 17. Oktober haben wir die Inbetriebnahme der neuen Gebäude gefeiert. Zuvor hatten wir wochenlang mit der Stadt darüber verhandelt, dass wir unbedingt weitere Räumlichkeiten brauchen und die nebenan stehenden städtischen Gebäude sich perfekt dafür eignen würden. Nach einem lang Hin und Her bekamen wir schlussendlich eine Absage, die wir nicht duldeten. Da wir bis dato eh unsere gesamte Arbeit öffentlich gemacht hatten, taten wir es mit der geplanten »Inbetriebnahme der neuen Häuser« gleich. Wir luden alle Lübecker*innen dazu ein, mit uns bei einem schönen Fest mit Kaffee und Kuchen an einem regnerischen Samstag die Inbetriebnahme zu feiern.
Der Titel der Lokalzeitung lautete am nächsten Tag »Walli-Aktivisten planen Hausbesetzung.« Ja, immer diese bösen Lokalzeitungen. Obwohl wir für die Aufmerksamkeit sehr dankbar waren, da all dies ohne den öffentlichen Druck der Medien in der Form nicht möglich gewesen wäre. Immerhin ließen sich nicht alle eingeladenen Gäste durch die Lokalpresse abschrecken. Ganz entspannt wurden in der Anwesenheit von etwa 60 Personen wie geplant die Toren und Türen der neuen Gebäude geöffnet. Alles erschien wie in einem Film. Alle warteten nur darauf, dass endlich der Staatsapparat eingreifen würde. Die einzige Polizei, die an diesem Tag vorbei schaute, waren zwei Streifenpolizist*innen, die sich sorgten, dass ein Verkehrsunfall passieren könnte.
Bildet Banden! Und dann?
Knapp fünf Monate später arbeiten wir immer noch. Über 15 000 Geflüchtete haben über unser Zentrum den Weg nach Schweden, Finnland und Norwegen gefunden. Über 50 0000 Euro wurden für die Fährtickets bezahlt. Finanziert zur Hälfte aus Spenden und von den Geflüchteten selbst. Wir haben ein Haus besetzt und haben inzwischen sogar einen offiziellen Mietvertrag, über den wir noch verhandeln. Wir sind inzwischen ein Zentrum und ein Zuhause nicht nur für Geflüchtete im Transit, sondern auch für diejenigen, die in Lübeck bleiben. Wir haben uns nächtelang auf Plena rumgeschlagen und wochenlange Debatten geführt. Debatten um alles. Sei es die Organisation einer Demo, als Schweden die Grenzschließung androhte, die Gestaltung der neuen Gebäude, Ticketpreise, Streitereien untereinander oder aber ob der Hund, den die Familie aus dem Irak mitgebracht hatte, auch bei uns im Familienschlafsaal übernachten dürfte.
Was das alles bringen soll? Die Frage haben wir uns immer wieder gestellt. Gar nichts, haben einige gesagt. Alles, sagten die anderen. Eine Antwort haben wir nicht gefunden. Es sind Genoss*innen gegangen und neue werden kommen. Wir alle sind seit Monaten am Limit. Emotional und kräftemäßig. Die Politarbeit außerhalb des Zentrums haben wir lange Zeit vernachlässigt. Und trotzdem weiß ich, was es mir gebracht hat. Ich habe erfahren, was es heißt Genoss*innen zu haben. Und ich muss diese vorab nicht kennen und weiß trotzdem, dass ich mich auf sie verlassen kann. In Krisenzeiten gibt es politische Grundsätze, über die wir nicht zu diskutieren brauchen. Ich habe erfahren, dass ich überall Genoss*innen auch außerhalb meiner Organisation finde, und das hat mir Mut gemacht. Ich weiß, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Und ich weiß, dass ich hier Worte niederschreibe, die nach einer Lobeshymne klingen. Das soll auch so sein, denn das ist eine Sache, die innerhalb des Organisationsprozesses oft missachtet wird. Sich einfach mal gegenseitig auf die Schulter zu klopfen!
Einen Abschluss bitte
Ja, es hätte hier ein ausgetüftelter, politisch wertvoller Text zur Organisierung erwartet werden können. Mit Absicht habe ich mich dagegen entschieden. Die letzten Monate haben mir einen Ansatz der Organisierung verdeutlicht, der bei mir oft aus dem Blickfeld gerät. Es muss sich nicht immer auf die politischen Diskurse gestützt werden. Es muss nicht immer theoretischer Konsens gebildet werden. Es muss nicht immer die Vergrößerung der eigenen Organisation im Blickfeld stehen. Denn in Zeiten des Umbruchs, und das waren meine erlebten letzten fünf Monate, heißt Organisierung eben auch einfach mal Zusammenhalt und der Kampf für ein gemeinsames Ziel.
Denn: crew love is true love!