Andererseits werden die neoliberalen Reformen des öffentlichen Sektors trotz dieses ideologischen Kollapses fortgesetzt und weiter vorangetrieben. Dass der Neoliberalismus für die beste Möglichkeit Gesellschaft zu organisieren gehalten wird, ist längst nicht mehr der Grund. Es hat sich einfach keine andere Gesellschaftskonzeption durchsetzen und die soziale Schlagkraft entwickeln können, die es gebraucht hätte, um ihn als Ideologie abzulösen. Der italienische Marxist Antonio Gramsci sagt, dass die Ursache für Krisen darin liegt, dass „das Alte stirbt und das Neue nicht entstehen“ kann. Doch erklärt dies nicht alles. Das Problem besteht darin, dass der Neoliberalismus beides ist: sowohl tot als auch lebendig. Er taumelt zombieähnlich weiter. Ideologisch auf der Strecke geblieben, seiner Bestimmung beraubt, bietet er keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aus unserer Sicht besteht das größere Problem allerdings darin, dass es keine genügend starke Gegenbewegung gibt, die in der Lage wäre, ihm den Gnadenstoß zu versetzen.
Wie sind wir in diese Situation geraten? Teilweise konnte diese Situation entstehen, weil der Neoliberalismus die Zersetzung der Gesellschaft sehr effektiv vorangetrieben hat – vor allem in den USA und in Großbritannien. Eines seiner ersten Ziele war es, unsere gemeinsame Weltsicht zu verändern und damit die Grundlagen kollektiven Handelns zu unterminieren. Anders formuliert: Neoliberale Reformen einer Gesellschaft zielen auf die Herstellung neoliberaler Subjektivitäten. Marktlogiken werden in immer mehr Lebensbereiche übertragen und durch die Teilhabe an diesen Märkten üben sich die Individuen in einer neoliberalen Logik. Noch genauer: Wenn du dich in einem Wettbewerbssektor bewegst, bist du gezwungen, als nutzenmaximierendes Individuum zu handeln, das sich in rücksichtsloser Konkurrenz zu den anderen über knappe Ressourcen befindet. Je mehr wir uns in diesen Strukturen bewegen, desto mehr nehmen wir diese als natürlich gegeben an: „Each day seems like a natural fact“ (Gang of Four). Die Möglichkeiten, die uns offen zu stehen scheinen, sind durch diese Erfahrungen bestimmt. Nur: Diejenigen, die mit dieser Sicht der Dinge groß geworden sind, haben zunehmend Schwierigkeiten, darin einen Sinn zu erkennen.
Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn man soziale Gegensätze in den Blick nimmt. Erwartbar wäre, dass die unnachgiebige Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums in die Hände einiger sehr sehr Reicher Widerstand bei denen hervorrufen würde, denen er genommen wird. Der Neoliberalismus reagiert auf dieses Problem mit Verschleierung, einerseits durch die Etablierung einer Weltsicht, die diese Widersprüche nicht zu erkennen vermag, andererseits durch Mechanismen, die die Probleme verlagern und verzögern. Die Reallöhne im Westen stagnieren seit den späten 1970ern oder sind gesunken. Doch der Zugang zu günstigen Krediten in Kombination mit steigenden Immobilienpreisen half dabei, Lebensstandards zu halten und die Auswirkungen in die Zukunft zu verschieben – eine Zukunft, die nun da ist.
Trotz der beginnenden Kämpfe in Island, Griechenland, Frankreich und auch in Irland, Italien und in Großbritannien ist noch offen, in welche Richtung diese gehen werden. Wir wissen noch nicht, wie weit der gesellschaftliche Ab- und Umbau durch den Neoliberalismus fortgeschritten ist. Der Bruch im neoliberalen Deal scheint einen Anstieg der Kämpfe zu provozieren und dennoch sind die daraus resultierenden kollektiven Maßnahmen sozial und geografisch unterschiedlich. Sollten sich die Kämpfe weiter ausbreiten, werden sie höchstwahrscheinlich nicht die Formen annehmen, die wir heute erwarten. Nach dem sozialen Wandel der letzten beiden Jahrzehnte werden wir nicht erneut die Kämpfe der 1980er erleben und noch weniger die der 60er oder 70er Jahre. Stattdessen werden die Reaktionen auf die Sparkurse zu nicht vorhersehbaren und ganz neuen Antworten führen. So kann es durchaus sein, dass wir einige Kämpfe nicht als Reaktion auf Kürzungen der öffentlichen Dienstleistungen wahrnehmen werden – auch wenn diese ihre Grundlage sein dürften.
Also stellt sich die Frage: Wie können wir uns am besten auf Ereignisse vorbereiten, von denen wir weder wissen, welche Form sie annehmen, noch wann sie eintreten werden? Oder, aus einer anderen Perspektive: Wie können wir, die wir einige Generationen von Kämpfen erlebt haben, uns an der Entstehung neuer Bewegungen beteiligen? Welche Rolle können unsere Erfahrungen hier spielen? Oder verhindern gerade unsere Erwartungen, dass wir in neuen Situationen auch das Neue erkennen können? Und andersherum, wie beziehen sich kommende Generationen auf vorangegangene Bewegungen ohne zu viele Zugeständnisse zu machen und die eigene Einzigartigkeit zu verlieren?
SECOND TIME AS FARCE …: Das zweite Mal als Farce
Eine der Quellen, auf die wir uns bei dieser Frage beziehen können, ist Marx‘ großartiger Text über historische Wiederholungen Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte:
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“
Louis Bonaparte
Zunächst haben wir selten Gelegenheit, Akteure in der Weltgeschichte zu werden und sind viel zu selten mit der Möglichkeit konfrontiert, mit den historischen Ideen, die unsere Leben beschränken, zu brechen. Diese Momente, in denen wir kollektiv Einfluss auf die Welt nehmen können, sind das, was wir „Momente des Überschusses“ nennen. An diesen kritischen Punkten gibt es eine verständliche Tendenz, sich auf die Traditionen vergangener Generationen des Kampfes zu beziehen und diese zu wiederholen. Während dieser Momente stehen wir Erfahrungen, Problemen und einem Ausmaß an Freiheit gegenüber, die uns bisher unbekannt waren. In diesen Situationen ist es sinnvoll, nach einer Vorgeschichte zu suchen, um uns zu orientieren. Tatsächlich ist zu beobachten, dass die Leute, die in großen kollektiven Praxen engagiert sind, im Laufe der Kämpfe Übereinstimmungen entdecken – nicht nur mit ihren direkten Vorgänger_innen, sondern auch mit anderen Kämpfen in der ganzen Welt. Würden wir nicht aus den Erfahrungen derer lernen, die ähnliche Problematiken erlebt haben, würden wir desorientiert und wehrlos gegenüber historischer Bedingtheit zurückbleiben und wir könnten nur hilflos dabei zuschauen, wie sich die alte Welt wieder neue Geltung verschafft.
In gewisser Weise kann Wiederholung also ein wichtiges Element sein, welches nicht zu vermeiden ist. Wir können nur unter der Bedingung Neues schaffen, dass wir uns auf die eine oder andere Art mit Personen und Handlungen der Vergangenheit identifizieren. Aber eine einfache Wiederholung dessen, was schon einmal passiert ist, muss scheitern: Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Auch lohnt es sich, den berühmten Satz zu zitieren, der der obigen Passage vorangeht: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
Wiederholung ist nur dann Farce, wenn sie stehenbleibt. Wenn heutige Generationen der Kämpfe verhindern wollen, dass das Erbe vergangener Generationen sie herunterzieht, wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden, dann können sie diese Tradition nicht unhinterfragt wiederholen. Authentische Kreation benötigt Formen der Wiederholung, welche „sich beständig selbst (kritisieren), sich fortwährend in ihrem eignen Lauf (unterbrechen), auf das scheinbar Vollbrachte zurückkommen, um es wieder von neuem anzufangen“ (Marx).
TALKIN´ BOUT MY GENERATION …
Vielleicht sollten wir an diesem Punkt zu skizzieren versuchen, was wir überhaupt unter Generation verstehen. Anfangen können wir bei der nicht gerade auf der Hand liegenden Figur von Thomas Jefferson. Obwohl er der zweite Präsident der Vereinigten Staaten war, war er gleichzeitig als Revolutionsführer mit den Problematiken konfrontiert, die eine Revolution mit sich bringt. Er nähert sich dem Konzept der Generation, indem er die Logik des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs fortführt: Wenn ein Land nicht zur Einhaltung der Gesetze eines anderen Landes verpflichtet werden kann, dann kann auch eine Generation nicht verpflichtet werden, sich an die Gesetze der Vorgänger_innen zu halten. Diese Auffassung führt Jefferson zu folgendem Vorschlag: „Die Erde gehört den Lebenden … Jede Verfassung also und jedes Gesetz vergeht naturgemäß nach Ablauf von 19 Jahren. Wenn sie noch länger angewendet werden, so geschieht dies durch Gewalt und nicht aufgrund von Recht.“ (Thomas Jefferson: Unabhängigkeitserklärung)
Nun finden Geburten nicht in einem 20-Jahres-Rhythmus statt, sondern kontinuierlich. Insofern macht das Konzept der „Generationen“ nur insofern Sinn, als dass sie durch grundlegende gemeinsam gemachte Erfahrungen geformt werden. Jeffersons Generation zum Beispiel wurde durch die Amerikanische Revolution geprägt, so wie die globalisierungskritische Bewegung durch die Erfahrung von Seattle 1999 geprägt wurde. Generationen entstehen durch Ereignisse. Und auch diese Ereignisse passieren nicht in einem 20-Jahre-Zyklus. Dies impliziert, dass die gleichen Gruppen oder Individuen an verschiedenen Generationen des Kampfes teilhaben können.
Beim Übergang von einer Generation zur nächsten kommt es allerdings zu Schwierigkeiten. Schon jetzt lassen sich in den Versuchen, sich der gegenwärtigen Krise anzunähern, einige missglückte und potentiell absurde Wiederholungen vergangener Kämpfe erkennen. Uns interessiert genau der Punkt, mit dem alle Generationen konfrontiert sind, wenn der Boden unter ihnen sich verschiebt. Um an der Geburt einer neuen Generation teilzuhaben, muss viel aufgegeben werden – häufig ist es der durch ein Ereignis ausgelöste Schock, der diesen Prozess vollenden kann und Übergang von einer gesättigten Problematik zu einer neuen erlaubt.
STEPPING OUT OF LINE: Aus der Reihe tanzen
Historisch betrachtet war es der Auftrag der Partei, diesen Generationenübergängen Sinn zu geben. Unter Partei verstehen wir hier anarchistische Gruppen, kommunistische Zellen, Gewerkschaften, anarcho-syndikalistische Organisationen oder die orthodox-leninistische Linke. Die Partei ist sowohl der Aufbewahrungsort für die Geschichte der Klasse als auch das Labor für strategische Innovation. Als solche spielt sie eine wichtige inter-generationelle Rolle und verbindet Menschen aus unterschiedlichen Bereichen und Traditionen durch ein gemeinsames Ziel. Soweit die Theorie. In der Praxis hat die Parteien-Form bei dem Versuch, verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden, spektakulär versagt. Ältere Generationen tendieren dazu, ihre Erfahrungen zu universalisieren und eine Strategie zu diktieren. Mit Mechanismen, die auf Reproduktion statt auf Regeneration setzen, ist die Partei unfähig sich ändernden Bedingungen anzupassen. Wie ein Wiederkäuer würgt sie die gleiche alte Parteilinie hervor und fällt auf ein Programm zurück, das sie als die eine immerwährende Wahrheit betrachtet.
Unter diesen Umständen riskieren Parteien Zusammenbruch und Auflösung. Organisationen bündeln Energie: Dies kann einerseits produktiv sein, weil es soziale Kräfte auf eine begrenzte Anzahl von Themen konzentriert. Aber in manchen Fällen führt dies zur Stagnation. Die Organisation aufzubrechen setzt Energie frei und erlaubt die Kreation neuer Formen. Die Geschichte der kommunistischen Bewegung (die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt) ist eine des Zusammenkommens, des Auseinanderbrechens, der Degeneration und der Regeneration.
In den letzten Kampfzyklen gab es eine weitere Organisationstradition. Die radikale direkte Aktion, die auf kleinen Bezugsgruppen basiert, hat ihre mobile horizontale Form effektiv zu nutzen gewusst. Von Reclaim the Streets über Gipfelproteste zum Klimacamp und darüber hinaus bot sie Raum für Experimente und Innovationen. Indem sie orthodoxe revolutionäre Ansätze mied, war sie in der Lage, neue Visionen entstehen zu lassen und auf neue Möglichkeiten zu reagieren. Allerdings hat die Kreativität ihren Preis: Die informelle Form dieser Bewegung mit all dem Ballast der Subkultur schließt die Bewegung nach außen hin ab und macht sie dem Wandel gegenüber resistent, wenn auch in einer anderen Weise als die Partei. Das Bezugsgruppenmodell ist sehr voraussetzungsreich. Es funktioniert am besten, wenn ein tiefes Vertrauen entstanden ist, das auf einer geteilten persönlichen Geschichte basiert.
Hier, scheint es, haben wir ein Dilemma identifiziert. Die Parteiform ist zu starr, aber unser Bezugsgruppenmodell hat eigene Grenzen und Ausschlüsse. Vielleicht sollten wir Organisation weniger als Substantiv, als feste Einheit oder Modell denken, sondern lieber das Verb und den Prozess stark machen (das Organisieren, eine Organisierung). So wird es leichter, politische Organisierung als eine Art Navigation durch einen Ozean zu verstehen, der zwischen dem liegt, was ist und dem, was sein könnte. Politische Organisierung bedeutet, kollektiv Sinn zu erzeugen und dann danach zu handeln. Aber genau darin liegt eine radikale Uneindeutigkeit, ein fortwährendes Ausjustieren zwischen der Beteiligung am Hier und Jetzt und dem Versuch, dieses Hier und Jetzt zu überwinden. Der Widerstand gegen kapitalistische Zwänge ist nicht abstrakt – er findet immer an einem konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit statt. Aber wenn der kollektive Kampf zum Vorschein kommt, bringt er eine ganze Geschichte ans Licht und verbindet uns mit vergangenen Siegen und kommenden Kämpfen. Die Zeitlichkeit von politischer Organisierung ist eine von Brüchen und Wiederholungen. Brav gewühlt, alter Maulwurf!
Wie das alles mit den Möglichkeiten neuer Generationen zusammenhängt, ist vielleicht nicht unmittelbar zu erkennen. Aber bei der revolutionären Organisierung geht es um Neuzusammensetzungen sozialer Kräfte und sozialer Beziehungen, um Kreation neuer Körper. Das Problem der Partei- und der Bezugsgruppenform ist, dass beide dazu tendieren, sich selbst zu reproduzieren. Generationen aber formen sich um Ereignisse herum und haben keinen vorhersehbaren oder messbaren Output. Die kollektive Transformation, die das Konzept der Generation anbietet, bedeutet, dass wir permanent verändert werden, während wir durch sie hindurch gehen. Generationen generieren und regenerieren sich, daher ist es vielleicht sinnvoller auch Generationen eher als Verb zu begreifen statt als Substantiv.
Im November 2010 während der Studierendenproteste in Großbritannien gab es eine Demonstration durch die Innenstadt von Leeds, an der sich mehrere tausend Personen beteiligten. Ungewöhnlicherweise nahmen sowohl Schüler_innen, Oberstufenschüler_innen als auch Studierende und Uni-Angestellte daran teil. Diese neue Mischung produzierte eine aufgeregte, militante und aufsässige Atmosphäre, die in der spontanen Besetzung eines Unigebäudes der University of Leeds endete. Der große Theaterraum füllte sich schnell mit mehr als tausend Leuten, eine Musikanlage, die auf dem Marsch benutzt worden war, wurde in den Raum gebracht und Neuigkeiten wurden mit einem Projektor auf die Wand projiziert. Eine größere Gruppe Jugendlicher tanzte und bei jedem neuen Bild demonstrierender Studierender wurde laut gejubelt. Die Atmosphäre war kribbelig, fast außer Kontrolle und völlig elektrisiert. Die Musik verstärkte das Gefühl der Einheit, während der Jubel über den Protest diese Einheit politisierte. Leider dauerte diese außergewöhnliche Szene nur zweieinhalb Songs. Denn dann stellte ein älterer Aktivist der Studierenden die Musik ab. Ein Streit folgte, die Jüngeren wollten die Musik wieder anmachen, andere brüllten sie nieder. Die Uni-Aktivist_innen, die die Kontrolle über das Mikro hatten, argumentierten, dass es eine „ernsthafte Besetzung“ sein solle und eine Liste mit Forderungen an die Unileitung erstellt werden müsse. Nach einer vagen Abstimmung wurde verkündet, dass diejenigen, die weitertanzen wollten, dies draußen tun sollten. Die Musikanlage wurde allerdings nicht wieder eingeschaltet. Binnen einer Stunde wurde die Wahl eines Komitees vorgeschlagen, das die Besetzung führen sollte. Dies löste eine endlose und schlechtgelaunte Debatte aus. Die Aufregung und die Energie waren verpufft – und 80 Prozent der Leute verschwunden.
Es wäre zu einfach, aus dieser Geschichte billige politische Schlüsse zu ziehen, aber offensichtlich war es eine heikle Situation. Die besten Handlungsoptionen waren überhaupt nicht offensichtlich. Das anfängliche Gefühl der Einheit verbarg ganz reale Brüche und Spaltungen zwischen den Beteiligten. Und als Konflikte aufkamen, traten komplexe Dynamiken von class, race und gender ans Licht.
Das hätte noch kein Problem sein müssen: Es zeigte lediglich, dass es sich um einen Moment echter Bewegung gehandelt hat. Der Protest hatte Leute zusammengebracht, die normalerweise vielleicht antagonistische Interessen haben, oder zumindest kein gemeinsames Ziel. Vielleicht lag der Fehler darin, einer neuen Situation ein Modell der Organisierung aufzudrängen, das die Neuartigkeit der Situation nicht berücksichtigen konnte. Die studentische Linke hatte eine Vorstellung davon, wie Studierendenproteste auszusehen haben und sie wussten welche Form der Organisation diese brauchte. Aber auch wenn dieses Modell für vorherige Besetzungen vielleicht, vielleicht auch nicht, funktioniert hat, war die Situation hier anders. Die Zusammensetzung war – zumindest am Anfang – ganz neu. Viele der Oberstufenschüler_innen und der Jugendlichen waren die Kultur und Erwartungen der studentischen Linken nicht gewohnt und die Einführung von Bürokratien schreckte sie ab. Sie zogen sich zurück, und schlossen wiederum diejenigen aus, die nicht mit ihnen übereinstimmten. Wenn die Organisierungserfahrungen vergangener Generationen mechanisch wiederholt werden, wird neues Potential erstickt. Einer Generation muss Zeit gegeben werden, sich zu generieren, einer Bewegung muss Raum gegeben werden sich zu bewegen.